Wie das wohl war, als der knapp 20 Jahre alte Bach, Johann Sebastian, die thüringische Orgelszene aufmischte? Mit eigenen Werken, die gleichwohl auf den kräftigen Schultern unterschiedlicher musikalischer Traditionen standen, mit einer Spieltechnik, die bis verblüffend ist, mit einem Ungestüm, das ihn zu einem jungen Wilden macht.
Martin Stadtfeld, der sich 2003 – damals selbst gerade 23 – mit seiner Aufnahme der Bachschen Goldberg-Variationen auf die musikalische Tagesordnung spielte, versammelt auf seiner aktuellen CD „Wie schön leuchtet der Morgenstern – Der junge Bach“ Werke aus Bachs Frühzeit. Da Bach damals vor allem als Organist brillierte, hat Stadtfeld gleich drei Orgelwerke fürs Klavier adaptiert. Das muss man mögen, denn auf einem noch so guten Steinway muss der Pianist beim Nachspüren der klanglichen Möglichkeiten einer großen Orgel mit mehreren Manualen und Pedal und mit ihren vielfältig mischbaren Klangfarben Wege gehen, die nicht zwangsläufig überzeugen.
Stadtfeld beginnt mit dem Choralvorspiel „Wie schön leuchtet der Morgenstern“, im thematisch, nicht chronologisch geordneten Bach-Werke-Verzeichnis (BWV) die Nummer 739. Es ist vermutlich schon in den späten 1690er-Jahren komponiert worden sein; die Handschrift jedenfalls gilt als das älteste erhaltene Bach-Autograph und stammt wohl aus Bachs Zeit als Organist im thüringischen Arnstadt, die er 1703, im Alter von 18 Jahren, angetreten hatte. Stadtfeld spielt das leicht hingetupft, als wolle er in die Fußstapfen von Glenn Gould treten, auch wenn es ein paar Takte beinah impressionistisches Flirren gibt und ein eher in romantische Sphären verweisendes Bassgrummeln am Ende.
Es ist die Einstimmung in die drei Großwerke, die dann folgen: Bachs allbekannte Toccata und Fuge d-Moll BWV 565, die Passacaglia in c-Moll sowie die Chromatische Fantasie und Fuge d-Moll BWV 903.
Die virtuose Toccata, ebenfalls aus der Arnstädter Zeit und, wie man vermutet, nach seiner Studienreise zu Altmeister Dietrich Buxtehude nach Lübeck geschrieben, ist samt Fuge gerade mal acht Minuten lang. Ein Signaturwerk Bachs, das den den norddeutschen, expressiv improvisierenden Orgelstil aufnimmt und bei den klanglichen Möglichkeiten der Orgel in die Vollen geht. Der Gestus des Stücks kommt Stadtfeld hörbar entgegen. Den hochdramatischen Einstieg mit dem markanten Mordent nimmt er rasch in einen romantisch-raunenden Beginn zurück, dem er immer wieder wild und hoch virtuos in die Parade fährt. Manche Orgelregister imitiert er mit parallel geführten Stimmen. Die dezent begonnene Fuge lässt er später in der Tiefe der linken Hand donnern, Stadtfeld rast wie irrsinnig durch lange Läufe, wobei der Klang doch leicht in der Resonanz des Flügels verschwimmt – das klingt ein bisschen arg nach Liszt meets Bach.
Ebenfalls in Arnstadt entstanden ist die c-Moll-Passacaglia mit ihren vielfältigen und in der Dramatik sich steigernden Variationen über einem Ostinato im ruhigen Dreiertakt. Vermutlich ebenfalls nach der Lübeck-Reise, die Bach eigenmächtig aufs Dreifach der genehmigten Dauer ausdehnte. Was ihm eine Anhörung beim Rat der Stadt eintrug, wo man gleich vorträgt, was man immer schon mal loswerden wollte – es ist eine Generalkritik am junge Genie: „Daß er bißher in dem Choral viele wunderliche variationes gemachet, viele frembde Thone mit eingemischet, daß die Gemeinde darüber confundiret worden. Er habe ins künfftige wann er ja einen tonum peregrinum mit einbringen wolte, selbingen auch außzuhalthen, und nicht zu geschwinde auf etwas anderen zu fallen, oder wie er bißher im brauch gehabt, gar einen Tonum contrarium zu spiehlen. Nechst deme sey gar befrembdlich, daß bißher gar nichts musiciret worden, deßen Ursach er geweßen, weiln mit den Schühlern er sich nicht comportiren wollen.
In diesem Licht erscheint die Passacaglia genau wie die Toccata d-Moll als machtvolle Demonstration organistischen Selbstbewusstseins. Stadtfeld packt sie auf dem Steinway ruhig dahin fließend, fast schon meditativ und mit reichlich Pedal an, bei ausdrücklicher Gleichberechtigung aller Stimmen. Dennoch wird die Umsetzung auf dem Klavier in ihren klanglichen Ausprägungen besonders an den virtuoseren und lauteren Stellen etwas Bemühtes nicht los, auf der Orgel klingt das zwangloser und selbstverständlicher.
Anders die Chromatische Fantasie und Fuge d-Moll, die zeitlich in Bachs Engagement am Hof von Köthen (1717 bis 1723) verortet wird und nicht für Orgel geschrieben wurde. Sie ist zweifellos kein Jugendwerk mehr und fällt etwas aus der Reihe des Untertitels „Der junge Bach“. Bach ist um die 35 Jahre alt, hat schon mehrere Kinder. Etliche Bachforscher sehen in dem Werk eine Auseinandersetzung mit dem Tod von Bachs erster Ehefrau Maria Barbara, die 1720 im Alter von gerade mal 35 Jahren plötzlich starb und begraben wurde, während sich Bach auf einer Dienstreise befand. Stadtfeld rückt das Werk rasch weit in die romantische Spieltradition hinein, verträumte Arpeggien, die schon auf Chopins Nocturnes vorausweisen, fantasierende Passagen, die in sehr freien Tempi gespielt werden. Das klingt allerdings bei ihm wenig transzendental, eher auf pianistischen Effekt hin angelegt.
So ähnlich mag es geklungen haben, als Felix Mendelssohn in einer Konzertreihe 1840 und 1841 im Leipziger Gewandhaus spielte, der mit seiner romantisierenden, harte Kontraste vermeidenden und Klangschönheiten nachspürenden Bach-Auffassung viele Generationen von Pianisten bis weit ins 20. Jahrhundert prägte, der ein Glenn Gould dann seine radikale Entromantisierung entgegen stellte, aus der wiederum Generationen von Hörern ihr aufregendes Bach-Bild formten.
Hübsch und ebenfalls in eine über weite Strecken romantisch-melancholische Spielweise gepackt dann das „Capriccio sopra la lontananza de il fratro dilettissimo (Capriccio über die Abreise des sehr geliebten Bruders)“, das mit für Bach ungewöhnlichen und munteren programmatischen Titel für die einzelnen Sätze aufwartet – allerdings ist ein Autograph nicht erhalten. Es könnte geschrieben worden sein zur Abreise von Bachs Bruder Johann Jacob, der 1704 in die Dienste des schwedischen Königs als Oboist eintrat. Eine lange und mit Augenzwinkern gespielte Abschiedszene, inklusive der Aria di Postiglione mit ihren kessen Oktavsprüngen und der Schlussfuge, die noch einmal den Hornruf des Postillions aufnimmt.
Angefügt hat Stadtfeld ein Choralvorspiel des 1959 geborenen Stefan Heucke – „Wer nur den lieben Gott läst walten“ gibt ein Blick darauf frei, wie tief in den Adern heutiger Komponisten Bachs Stil bis heute fortwirken kann.
Johann Sebastian Bach: Wie schön leuchtet der Morgenstern – Der junge Bach.
Martin Stadtfeld, Klavier. CD
Sony Classical
Bestellnummer: 88430 97952
Hörbeispiele
Abbildungsdnachweis:
Header: Bach Autograph BWV 739 (älteste bekannte J.S. Bach-Handschrift)
CD-Cover
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