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Es ist ebenso umstritten wie das Gendern und meist damit verbunden: Wokeness ist der Anspruch, besonders sensibel auf Zumutungen aller Art zu reagieren und diese Feinfühligkeit in der Sprache zu spiegeln.

Esther Bockwyt hat der „Wokeness“ ein Buch gewidmet und versucht es als Psychologin einzuordnen.

 

Das Thema hat Konjunktur in diesen Tagen. Als der vielleicht prominenteste Autor hat der ehemalige Kulturstaatsminister und emeritierte Philosophieprofessor Julian Nida-Rümelin ein Buch über die „Cancel Culture“ geschrieben, in dem er besonders historische Aspekte routiniert Revue passieren lässt – er beginnt mit den alten Griechen und endet mit einem „Plädoyer für politische Urteilskraft“. Man muss allem zustimmen, so vernünftig und durchdacht ist seine Argumentation, und dass erst gestern wieder an einer Universität ein missliebiger Vortrag verhindert wurde, zeigt seine Aktualität.

 

Bunter und entsprechend anregender ist eine Sammlung von gut recherchierten Essays aus dem „Cicero“. Während Nida-Rümelin bis zu Platon zurückgeht, begnügen sich die Autoren dieses Bandes mit der jüngeren Vergangenheit. Besonders die Rolle des französischen Ideenhistorikers Michel Foucault und seines Buches „Überwachen und Strafen“ wird dargestellt. Zusätzlich gehen die Autoren auf die US-Amerikanerin Judith Butler ein. Ihr Argumentation fasst Ralf Hanselle zusammen: „In Butlers Denken gibt es jenseits des foucaultschen Diskurses rein gar nichts mehr – keine Körper, keine sexuelle oder ethnische Identität, ja nicht einmal eine Welt an sich. Am Anfang ist der Diskurs. Und am Ende ist in diesem alles veränderbar.“ Mit diesen Worten umschreibt der Autor in aller Kürze einerseits die Hochschätzung des Fluiden und allezeit Wandelbaren, andererseits die Leugnung der Realität und deren Umdeutung in eine Art Traumwelt. Zumindest ersteres ist nicht allein für die Wokeness bezeichnend, sondern der stete und unberechenbare Wechsel und seine Lobpreisung sind ja kennzeichnend für unsere Zeit insgesamt und finden sich ebenso bei sich konservativ gebenden Personen.

 

Polemischer als dieser Sammelband ist „Woke“ von Peter Köpf und Zana Ramadani, in dem die Exzesse der Wokeness und des Genderns auf allen möglichen Gebieten aufgezählt und sarkastisch kommentiert werden. Sie schreiben über Wokeness bei der Produktion von Filmen, bei der Förderung von Wissenschaft und endlich in der Politik. Immer wieder stützen sie sich auf Meinungsäußerungen von Sarah Wagenknecht und Alice Schwarzer. Auch wenn ich den Autoren sehr häufig recht geben muss, und obwohl das Buch sehr gut geschrieben ist, wirkt die nicht enden wollende Aufsummierung von moralinsaurem Unsinn schließlich ermüdend. Das liegt auch daran, dass keine wirkliche Analyse geboten, ja sich nicht einmal daran versucht wird, sondern dass sich das Buch mit der Aneinanderreihung von Zitaten und deren Kritik begnügt.

 

Woke Bockwyt COVERDie Schweizer Autorin Esther Bockwyt hat etwas Anderes versucht: Sie stellt nicht allein die Praxis der Wokeness dar (in „Woke Welten“, dem ersten Teil ihres Buches), sondern versucht im zweiten Teil („Woke Psyche“) die Wokeness auf psychische Grundstrukturen zurückzuführen und „die konkreten Verhaltensweisen gelebter Wokeness […] psychologisch zu erklären.“ Der dritte und letzte Teil schließlich ist eine Zusammenfassung ihrer Überlegungen.

 

Für viele und so auch für den Rezensenten lautet die Hauptfrage: Wieso können die Angriffe der Wokeness mit einer derartigen Vehemenz und Selbstsicherheit vorgetragen werden? Und warum münden sie so oft in die Verweigerung einer Auseinandersetzung? Ist eine „Cancel-Culture“, sind Ausladungen von Referenten oder Störmanöver bei Vorträgen das logische Endprodukt der Wokeness? Gefährdet Wokeness wirklich unsere Freiheit, oder ist sie vielmehr notwendig, um unsere Demokratie zu schützen?

 

Auch nach Bockwyt ist Michel Foucault als der wohl meistgelesene Theoretiker der Postmoderne verantwortlich für die Wokeness. Ihr kommt es auf seine Grundthese an, darauf, dass „Realität immer auch anders erzählt werden könne“, alles „sei nur eine Erzählung“. Von „Theorie“ spricht man ja heute schon lange nicht mehr – wahrscheinlich deshalb, weil dieser Begriff auf eine objektive Realität zielt, wogegen „Erzählung“ das Einzigartige einer Sicht auf das Geschehen betont. Eine Erzählung gibt nicht wieder, wie oder was die Wirklichkeit ist, sondern ist immer schon eine Deutung – auch, weil das Lückenhafte zum Wesen einer Erzählung gehört. Jeder wird und darf eine andere Geschichte erzählen, weil jeder von einer anderen Position aus auf das Geschehen schaut. So gibt es nicht länger eine Realität, die von der Perspektive unabhängig ist und die sich entsprechend neutral beschreiben lässt.

 

Vor allem aber: Selbst, wenn es stimmen sollte, dass die Realität immer auch anders erzählt werden kann: sollte diese Behauptung nicht in Verständnis für andere Sichtweisen münden? Warum sollte sie die ostentative Moralität provozieren, die den Kern der Wokeness ausmacht, wie kann sie Wut und Selbstgerechtigkeit hervorrufen? Dabei gibt es auch das Umgekehrte. Selbst Neurosen der schlimmsten Art werden als legitim angesehen und ganz selbstverständlich akzeptiert. Köpf / Ramadami erzählen von einem körperlich gesunden Bankkaufmann, der im Rollstuhl umherfährt, „weil er sich seit zwei Jahren als eine von der Hüfte abwärts gelähmte Frau identifiziert“. Er habe „schon immer gewünscht, als Frau mit Handicap geboren worden zu sein.“ (44) Wirklich kein Fall für die Psychiatrie? Sollten wir dieser Person mit Verständnis begegnen und ihre Phantasien akzeptieren?

 

Ist Wokeness ein linkes Phänomen? Für Köpf / Ramadami wie auch für Bockwyt schon. Bockwyt geht sogar so weit, dass sie en passant beides, linke Geisteshaltung und Wokeness, in eins setzt: „Der Grundstein einer jeden linken und somit auch woken Geisteshaltung besteht in dem Bestreben, Gerechtigkeit zwischen den Menschen“ walten zu lassen. Aber ist das Streben nach Gerechtigkeit nicht ein ziemlich altes und doch wohl keinesfalls ehrenrühriges Motiv? Hätte es, wenn Bockwyt recht hat, Wokeness nicht schon seit langem geben müssen – so lange wie das Streben nach Gerechtigkeit? Tatsächlich ist die Wokeness erst während der vergangenen Jahrzehnte erwacht und allmählich gewachsen. Und erst seit ganz kurzer Zeit ist sie ein Phänomen, auf das mit Büchern reagiert wird. Auf jeden Fall scheint es absurd, sie mit dem Neomarxismus in Verbindung zu bringen, schon deshalb, weil die Vorstellung, dass „der Mensch unendlich formbar“ ist, keinesfalls ein Alleinstellungsmerkmal des Marxismus darstellt. An dergleichen glauben heute sehr viel mehr Menschen.

 

Woke COVER

 

Wokes Reden versucht, jeden Menschen als einzigartig anzusprechen – deshalb sind Typisierungen aller Art von Übel. Jeder hat auf seine Weise recht. Wenn sich ein Mann (ein Mensch, dem bei seiner Geburt das männliche Geschlecht „zugesprochen“ wurde) als Frau fühlt, nun, dann ist das eben in Ordnung. Aber, weil ja alles fluide ist, vielleicht schon morgen andersherum… Die angebliche Frau im Rollstuhl ist nur ein besonders bizarres Beispiel.

 

Am Rande sei vermerkt, dass die „Orientierung an einem privaten Relevanzsystem“ zu den Kennzeichen der Schizophrenie gehört. In einer sehr lesenswerten Untersuchung von Michael Titze – erschienen 2011 und damit lange vor der Wokeness geschrieben – wird gezeigt, dass bei einem Schizophrenen ein System aus Normen nicht (nicht mehr…) besteht, so dass dessen „Typisierungen, sein ganzes begriffliches Denken einem Menschen, der an die Normen eines sozialen Relevanzsystems gebunden ist, ungewöhnlich und bizarr“ erscheinen. Dem kommt die Wokeness mit einem schier grenzenlosen Verständnis entgegen.

 

Die woke Einstellung möchte zeigen, dass jede Verschiedenheit normal ist, und das mündet (muss münden?) in die „Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen“. Hier endlich scheint die Toleranz grenzenlos. Ein im Buch zitierter Artikel der „Süddeutschen Zeitung“ umriss die woke Position mit der Behauptung, dass es möglich sei, „Krankheit als schützenswerten Teil menschlicher Identität“ zu definieren – schon wird alles akzeptabel, von merkwürdigen Zwangsneurosen bis hin zu schwersten psychischen Erkrankungen. Man braucht nicht der Norm zu entsprechen, denn jeder soll an sich selbst und allein an sich selbst gemessen werden. In diesem Zusammenhang formuliert Bockwyt Thesen, um deren Anstößigkeit sie genau gewusst haben muss – zum Beispiel zum Thema Übergewicht. Gilt den meisten Zeitgenossen „Bodyshaming“ als verwerflich, und finden manche, dass ausnahmslos alle schön seien, so betont Bockwyt, dass die „Body-Positivity-Bewegung“ einen Irrtum begeht, wenn sie die Gefahren von Übergewicht verharmlose. Sie kennt sogar eine Ideologie namens „Lookism“. Wer hat denn davon schon gehört? Gemeint ist die Diskriminierung dank der Überschätzung des Aussehens von Menschen.

 

Bockwyt ist weniger polemisch als andere Autoren und hält vieles, das im Zentrum der Wokeness steht, nicht für ganz und gar verkehrt. Ernsthaft bemüht sie sich um eine ausgleichende, maßvolle Argumentation. Allerdings findet sie es generell unklug, links zu sein, denn eine „Vielzahl an wissenschaftlichen Untersuchungen legt nahe, dass konservativ eingestellte Menschen mit ihrem Leben zufriedener sind als links und linksliberal eingestellte Personen, die häufiger mit psychischer Krankheit zu tun haben.“ Das ist ein ziemlich merkwürdiges Argument, denn die bloße Korrelation von Unzufriedenheit mit einer linken Einstellung sagt doch nichts über die Ursachen der Unzufriedenheit! Könnte es nicht sein, dass diese gut begründet ist, dass schwierige oder ungerechte Verhältnisse in manchen Fällen zu einer psychischen Erkrankung führen? Wäre es nicht naheliegend – und gesund! –, sich kritisch mit den Umständen zu beschäftigen?

 

Es ist Bockwyt hoch anzurechnen, dass sie sich entschieden gegen den Mainstream stellt. Eines der Felder, auf denen sie besonders engagiert zu Werke geht, ist das Vokabular, mit dem die Prostitution gerne verharmlost wird. Von „Sexarbeit“ zu sprechen, lehnt Bockwyt ab und macht deutlich, dass es sich dabei allzu oft erzwungene oder erpresste Tätigkeit handelt, keinesfalls um eine normale Arbeit.

 

Ein besonders populäres Thema sei herausgegriffen, für das sie ziemlich absurde Belege zitieren kann. Es geht unter der Überschrift „Geschlecht, Körper und Sexualität“ um die These, dass es unendlich viel mehr Geschlechter gebe als die zwei, die von der Grammatik der deutschen Sprache gespiegelt werden. Dieser Annahme widerspricht Bockwyt vehement: „Die menschliche Geschlechtsidentität ist ein fundamentaler Bestandteil der Identität“. Ihr Argument zielt darauf, dass es ausreichend sei, zwei Geschlechter zu kennen, wenn ihnen die notwendige Breite an Variationen zugebilligt werde, wenn also akzeptiert wird, dass es auch eine männlich getönte Weiblichkeit gibt oder eine feminine Männlichkeit. Ein drittes Geschlecht aber sei nicht zu erkennen. In diesen Passagen argumentiert sie kraftvoll gegen die Amerikanerin Judith Butler und zeigt, dass das Problematische an „der Butler-Gender-Ideologie des Geschlechts als sozialen Konstrukts“ nicht allein deren offensichtliche Falschheit ist. Weitaus schwerer wiegen die sozialen Konsequenzen, die Deutschland nach der Ansicht vieler zum Bordell Europas gemacht haben.

 

Wer sich mit der Tageszeitung und den Fernsehnachrichten zufriedengibt, um sich über das Tagesgeschehen zu informieren, wird der Wokeness in ihrer höchsten und vor allem auch aggressivsten Form kaum begegnen. Die erstaunlichsten Beispiele ihrer zahlreichen Beispiele entnimmt Bockwyt den sogenannten sozialen Netzwerken, in denen in einer Weise gewütet, gepöbelt und beleidigt wird, die sich ein normaler Mensch kaum vorstellen kann. Diesem Umstand aber – die Praxis der nicht zensierten, fast alle Inhalte ungefiltert transportierenden Netzwerke – wird nicht hinterfragt. Aber, so darf man fragen: Würden viele der anonym oder auch unter eigenem Namen segelnden Kommentatoren sich nicht stark zurücknehmen, wenn sie ihren Kontrahenten Gesicht an Gesicht gegenüberstehen würden? Leider interessiert sich die Psychologin Bockwyt nicht für die Rolle der Netzwerke. Sind diese nur Spielplätze und Kampfarenen? Worin unterscheiden sich Leserbriefe in Zeitungen von Posts im Netz?

 

Leben wir in einer infantilen Gesellschaft? Nein, ich glaube nicht; es ist eher eine pubertierende Gesellschaft. Probleme, sich selbst zu finden, Versuche, sich selbst zu erfinden, das Überangebot an Idolen, von denen nicht wenige mit einem Bein nicht im Gefängnis, sondern in der Psychiatrie stehen: Das alles deutet in Richtung Pubertät. In der Pubertät sind Menschen fluide und dürfen, ja sollen es auch sein; und in dieser Epoche ihres Lebens agieren sie ungehemmt moralisch. Später sind sie etwas weniger aufgeregt; oder sie sollten es doch sein.


Esther Bockwyt: Woke. Psychologie eines Kulturkampfs

Westend 2024

224 Seiten

ISBN 978-3864894442

Weitere Informatioenen (Verlag)

Leseprobe

 

Weitere erwähnte Literatur:

Alexander Marguier und Ben Krischke (Hg.): Die Wokeness-Illusion. Wenn Political Correctness die Freiheit gefährdet. Herder 2023

128 Seiten

978-3451395567

 

Peter Köpf und Zana Ramadami: Woke. Wie eine moralisierende Minderheit unsere Demokratie bedroht. Bastei Lübbe 2023

288 Seiten

978-3869951331

 

Julian Nida-Rümelin: „Cancel-Culture” – Ende der Aufklärung?: Ein Plädoyer für eigenständiges Denken. Piper 2023

192 Seiten

978-3492071796

 

Michael Titze: Die Organisation des Bewusstseins. Strategien der Typisierung in „normaler“ und schizophrener Weltauffassung. Mit einem Vorwort von Rolf Kühn, Freiburg 2011

256 Seiten

978-3495485071

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