Stuart Hall und das Ringen mit den Engeln
- Geschrieben von Dagmar Reichardt -
Zwei Jahre nachdem Stuart Hall im Februar 2014 verstorben ist, hat die TU Dortmund jetzt in ihrem Internationalen Begegnungszentrum vom 25. bis 27.2.2016 zu der internationalen Konferenz mit dem Titel „Wrestling with the Angels: Exploring Stuart Hall’s Theoretical Legacy” eingeladen. Das „Ringen mit den Engeln” und Stuart Halls theoretisches Erbe standen hier bis Samstag in insgesamt 16 auf Englisch präsentierten Vorträgen diverser Fachrepräsentanten (von Anglisten über Soziologen und Kulturwissenschaftler bis hin zu Theologen) aus verschiedensten Herkunftsländern (von Indien über Großbritannien bis nach Dänemark, Deutschland oder die Niederlande) auf dem Programm. Die Veranstaltung wirft so zentrale Fragen auf wie: Was kann und soll Kultur heute? Wie können wir sinnvoll über Kultur reflektieren, mit ihr umgehen, sie im Alltag praktisch umsetzen? Was ist Kultur in ihrem Kern? Was will sie? Was ist, macht und kann Kulturwissenschaft? – Und vor allem: Mit welchen „Engeln” müssen wir ringen?
Wie politisch diese Fragen sind, zeigt sich nicht nur an Stuart Halls Werk und Biographie: 1932 in Kingston auf der Karibikinsel und der damaligen britischen Kronkolonie Jamaika geboren, wuchs er in einer Mittelklasse-Familie mit britischen, afrikanischen und indischen Wurzeln auf. In einem Interview erzählte er später, dass er eine dunklere Haut als die meisten anderen seiner Verwandten hatte, was ihn in jenem Rassen diskriminierenden Umfeld der 1930er- und 1940er-Jahre in seiner Weltsicht tief geprägt habe. Vielmehr spiegelt sich die politische Brisanz von Kultur bei Hall auch sinnbildlich in seiner „Engel”-Metapher: Anders als Walter Benjamins geschichtlich geprägte Imagination des „Angelus Novus”, denkt Hall – wie kann es anders ein – bei seinem Engel an die praktisch-politische Theorie: Der Engel, mit dem wir ringen, ist eine Metapher für den Kampfgeist, den wir aufbringen müssen, nicht etwa für die Denkansätze, von denen wir ohnehin überzeugt sind und die wir bereits „flüssig sprechen”, sondern um mit den Theorien zu ringen, die wir glauben, abwenden zu müssen. Dies ist nämlich, wie Hall in seinem Essay „Cultural Studies and its Theoretical Legacies“ von 1992 darlegt, die einzige Theorie, die wir als „organische Intellektuelle” wirklich tiefgreifend und gründlich durchdringen müssen. Es reiche nicht, so Hall, so zu tun, als kenne man oppositionelle Ansätze bzw. sich oberflächlichen Zugang zu solchem Wissen zu verschaffen: Der organische, authentische Intellektuelle habe die Verantwortung, sich dieses ‚andere’ Wissen in Form eines beständigen „Ringens mit den Engeln“ vollkommen zu erschließen und sich in Anbetracht der Abwesenheit dieses Denkansatzes im eigenen Denkrepertoire kontinuierlich in Beziehung dazu zu setzen. Das gelinge, wie Gramsci formuliert habe, insbesondere durch einen „Pessimismus des Intellekts“ und einen gleichzeitigen „Optimismus des Willens“. Was wir, in anderen Worten, als Theorie bekämpfen, sei in aller nötigen intellektuellen Bescheidenheit („intellectual modesty”), die einzige Theorie, die es tatsächlich wert sei zu haben!
Der Engel, mit dem Stuart Hall ausgiebig gerungen hat, war Althusser: Dessen „Kapital”-Auslegung von 1965 („Lire Le Capital”) hielt Hall schlichtweg für eine völlige Fehlinterpretation und „super-strukturalistische Fehlübersetzung”, die Althussers allzu klassisch marxistischer Prägung geschuldet sei. Kurzerhand schrieb Hall 1974 mit einer Neuinterpretation von Marx’ Einleitung zu den „Grundrissen” (1857/58) vehement dagegen an („Marx’s Notes on Method: A ‘Reading’ of the ‘1857 Introduction’”).
Nach intensiver Lektüre vieler deutschsprachiger Autoren des deutschen Idealismus, allen voran Hegel, des Weiteren Weber und idealistischer Schriften zur Kunstkritik, veröffentlichte Stuart Hall nicht nur mehrere Artikel hierüber (u.a. „The Hinterland of Science: Sociology of Knowledge” von 1980). Vielmehr überwand der britische Denker dadurch auch die theorieresistenten Anfänge der „Cultural Studies” und positionierte sich als antikolonialistischer, antiimperialistischer sowie interdisziplinär orientierter und kollaborativ tätiger Philosoph und innovativer europäischer Denker. Vor allem entdeckte er Antonio Gramsci: ein Meilenstein in der Kulturwissenschaft.
Von Marx’ Eurozentrik abgeschreckt, fand Hall nur in den Schriften des sardischen Schriftstellers, Journalisten, Politikers und marxistischen Kulturkritikers Gramsci (1891-1937), der als Antifaschist nach Jahre langer Haft verstarb, ohne seinen zweiten Sohn je gesehen zu haben, und dessen viel besuchtes Grab auf dem Protestantischen Friedhof in Rom zu finden ist, zumindest die Fragen, die Hall bewegten. Er nannte es die „Scherzfragen der Theorie” („the conundrums of theory”), nämlich Fragen nach dem Bezug zwischen Marx’ Theorie und der Moderne, d.h. gegenwartsbezogener Praxisrelevanz. Nicht dass Gramsci sie beantwortet hätte, aber er hat sie gestellt und Stuart Hall dort „abgeholt”, wo er war: nämlich mitten im Leben.
An Gramsci schätzte Hall u.a. die radikale Verlagerung marxistischer Gedanken von der Politik in den Kulturbetrieb sowie Gramscis Ambition, mit seinen Hegemonie-kritischen Ideen auch die Menschen zu erreichen, die von Berufs wegen nicht der intellektuellen Klasse angehören. Halls neugieriger Relektüre und Neuentdeckung Gramscis und seiner produktiven Übernahme etwa von Gramscis Begriff des „organischen Intellektuellen” verdanken wir das theoretische Fundament der Kulturwissenschaften, die sich als interdisziplinäre Fachrichtung in den 1970er-Jahren an der School of Birmingham in Großbritannien etablierte, von dort ihren Siegesfeldzug in den USA antrat und die geisteswissenschaftliche Universitätslandschaft in Europa grundlegend in Frage stellte.
Halls Arbeit war komplex. Der britisch-jamaikanische Soziologe und Aktivist bevorzugte konkrete, engagierte, praktische Denkweisen, mit denen er der Wissenschaft bislang unentdecktes Terrain auf den Gebieten der Popkultur, Massenmedien und Subkulturen erschloss. Er widmete sich der De- und Umkodierung von Kommunikationsschemata, Rezeptionstheorien sowie Repräsentationen der Macht, Ideologie und des Widerstands. Ihn beschäftigten Fragen der Rasse, neue Repräsentationen der kulturellen und persönlichen Identitäten, der Globalisierung, Multikulturalität und Diaspora sowie des Neoliberalismus. Er prägte Begriffe wie „Thatcherism“ oder „New Labour“ und entwarf sog. „Neue Ethnizitäten“. Um auch Menschen ohne akademische Ausbildung zu erreichen, war Hall 1979 bis 1997 Professor für Soziologie an der Open University, der größten staatlichen Universität in Großbritannien und Europa, deren Konzept auf den Lehr- und Lernmethoden eines Fernstudiums beruht.
Didaktisches Interesse im Dienst der Öffentlichkeit beweist auch Stuart Halls zwölf Jahre jüngere, britische – weiße – Ehefrau und Londoner Historikerin Catherine Hall, die an der TU Dortmund in dem einführenden Gastvortrag erstmals offiziell über das Werk ihres Mannes und nicht nur ihre eigene geschichtswissenschaftliche Arbeit sprach. Derzeit revidiert sie im erweiterten Rahmen des soeben abgeschlossenen staatlichen Forschungsprogramms „Legacies of British Slave-ownership“ am University College London (UCL) sämtliche themenrelevante Einträge des Oxford Dictionary, um den nackten Begriff der „Sklaverei“ sowohl wieder in das Nachschlagwerk aufzunehmen als auch in das gesellschaftliche Bewusstsein zurück zu holen. Die britische Gesellschaft, so berichtet Catherine Hall, diskutiere landesweit in ihren Klassenräumen die Aufhebung der Sklaverei, umgeht es aber heute noch, die – lange – Epoche britischer Sklaverei in all ihren mit der Kolonialisierung verbundenen historischen Ausmaßen wie der Zwangsarbeit, des Menschenhandels oder der körperlichen Misshandlungen beim Namen zu nennen und hier auf euphemistische Umschreibungen zu verzichten. Das sei vor allem deshalb wichtig, weil „Sklavenhändler Rasse machen“!
Catherine Hall versucht durch fünf Rassismus-Thesen eine Grammatik der Differenz unter Rekurs auf diverse britische Anti-Sklaverei-Initiativen in Kunst und Forschung herauszubilden. In Dortmund berichtete sie u.a. mit dokumentarischem Anschauungsmaterial von diversen Expeditionen in die Karibik über die koloniale Vergangenheit Großbritanniens als blinden Fleck nicht nur der Geschichte, sondern auch der Topographie: Fünfzig Jahre lang hätten Stuart Hall und sie bei Begehungen und Feldforschungsarbeiten auf Jamaika mit historischen Landkarten aus dem 19. Jahrhundert arbeiten müssen, um die Gebiete der ehemaligen Sklavenplantagen ausfindig zu machen. Noch heute weise auf der Insel keine Tafel auf diese geschichtsträchtigen Areale hin. Als Deutscher denkt man beim Zuhören unmittelbar an die „Stolpersteine“ des Künstlers Gunter Demnig, die mittlerweile weite Teile Europas als ein dezentrales Mahnmal gegen Antisemitismen in Geschichte und Gegenwart zieren, das permanent zwischen Marginalität und Zentralität oszilliert. Für die Geschichte des britischen Sklavenhandels fehlen diese sichtbaren Zeichen in der kulturellen Praxis offenbar.
„I live in space, but I am spaceless“ soll Stuart Hall, so Catherine Hall, gesagt haben. Ihm lag die diskursive Formation der Gesellschaft nach dem Vorbild Michel Foucaults auch deshalb so sehr am Herzen, weil er davon überzeugt war, dass letztlich nur der Dialog als kulturelle Praxis, iinsbesondere in der Jugend- und frühen Erwachsenenbildung, aber auch in der Tages- und Wissenschaftspolitik einen Unterschied macht. Nur die ständige Ausübung des kulturellen, intellektuellen und politischen Austauschs konnte seiner Ansicht nach in unserer Welt nachhaltige Effekte erzielen. Stuart Hall plädierte mit seinem Begriff der „irrititationsfähigen Anspannung“ („irritable tension“), mit deren Hilfe Narrative organisiert seien, für ein Gegenmodell zu herkömmlichen Lösungs- oder Auflösungsstrategien. Auf der in Deutschland – erfreulicherweise als Ost-West-Kooperation zwischen den Universitäten Dortmund (Gerold Sedlmayr und Marie Hologa) und Leipzig (Florian Cord) – organisierten Weltkonferenz tauschten sich in diesem Sinn etablierte sowie Nachwuchswissenschaftler über die Grenzen ihrer Fachdisziplinen und kulturellen Hintergründe hinaus drei Tage lang über Stuart Hall und die Notwendigkeit der Kulturwissenschaften produktiv aus. Obwohl leider – oder gerade weil – sich die Kulturwissenschaft in Deutschland methodisch und institutionell bisher vorrangig in den Fachbereichen Anglistik und Amerikanistik, leider weit weniger in der Romanistik oder gar Germanistik unseres Landes hat durchsetzen können. Auf englischsprachiger Bühne sahen sich in Dortmund junge und gestandene Vertreter der Frankfurter Schule unmittelbar mit den kulturpolitischen und Gender-bezogenen Problemen in Kaschmir konfrontiert und debattierten tagsüber im Hörsaal des Internationalen Begegnungszentrums und abends in der Eckkneipe „Kumpel Erich“ über neue Narrative und theoretische Wege. Deutschland – Europa – braucht solche transkulturellen Initiativen. Und erst recht solche Denkweisen.
Homepage der Konferenz der TU Dortmund „Wrestling with the Angels: Exploring Stuart Hall’s Theoretical Legacy“ (25.-27.2.2016)
Grundlagentext der Konferenz - Stuart Hall "Cultural Studies and its Theoretical Legacies"
Forschungsprojekt zum Thema „Legacies of British Slave-ownership“ am University College London
Beitrag von Catherine Hall zur Schuld Großbritanniens an der Sklaverei in „The Guardian“ vom 27.2.2013
Abbildungsnachweis:
Header: Cruel trading: Slavery ended throughout the Caribbean in the 1800s in the wake of slave revolts, and left many of the region's plantation economies in tatte.
Textabbildung: A public domain portrait of Stuart Hall
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