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Film

Die illegalen Geschäfte fliegen auf, drastische Strafe droht, aber die junge Protagonistin gibt nicht auf. Ihr bleibt nur eine Chance, sie muss den hoch dotierten Koran-Rezitationswettbewerb der Schule gewinnen. Zur Verblüffung aller beginnt sie plötzlich mit großem Eifer fromm zu werden und sich dem Studium der Suren zu widmen. Völlig mit sich und ihren Plänen beschäftigt, hat sie keine Augen für die Probleme der Mutter (Reem Abdullah), die verzweifelt um die Liebe ihres Mannes kämpft, der sich unter dem Druck seiner Familie eine zweite Frau nehmen soll.

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Im konservativen strenggläubigen Saudi-Arabien ist es Frauen per Gesetz verboten selber Motorrad oder Auto zu fahren. Nur im Taxi oder mit einem männlichen Fahrer können sie Besorgungen erledigen, Besuche machen, zu ihrem Arbeitsplatz gelangen. Auf Wadjdas Frage, warum Mädchen denn nicht Fahrrad fahren dürfen, antwortet die Mutter: “Weil sie dann keine Kinder bekommen können”. Nicht ohne Gehässigkeit kontert die Tochter: “Du fährst nicht Fahrrad und bekommst trotzdem keine Kinder”. Der fehlende männliche Erbe ist der Grund, warum ihr Vater sie beide verlässt.

Die Protagonistin wird nicht zur lieblichen Heldin stilisiert, sie hat einen entwaffnenden Charme, bewundernswerten Mut, kann dickköpfig, gewitzt, schlagfertig, eigensinnig auch loyal sein, aber ein Engel ist sie wahrlich nicht, sondern wie alle Kinder Produkt ihrer Umwelt. Wadjda entwickelt einen untrüglichen Instinkt für Gerechtigkeit und Wahrheit. Sie akzeptiert Konventionen, die ihr sinnlos erscheinen, nicht, doch um ihr Ziel zu erreichen, kann ihr jedes Mittel Recht sein. Sie erkennt die Doppelmoral des Systems, trickst die Erwachsenen gekonnt aus. Lügen beherrscht sie bis zur Perfektion. Sie ist die geborene Schauspielerin. Verständlich, dass Publikum und Kritiker auf den Festivals hingerissen von ihr waren.

Tief verschleiert oder hinter Mauern verborgen, das ist das Schicksal saudi-arabischer Frauen. Ob sie eine Arbeit annehmen, ein Konto eröffnen oder das Krankenhaus aufsuchen wollen, sie brauchen dazu die Genehmigung eines männlichen Verwandten oder des Ehegatten. So lautet zumindest die offizielle Reglung. Hier wird das Fahrrad zum poetischen Symbol der Selbstbestimmung. Haifaa Al Mansour will von dem Spannungsfeld zwischen Moderne und Tradition erzählen, dem täglichen Kampf der Frauen um kleine Freiheiten. Sie selbst gibt sich zuversichtlich, spricht von Umbruch. Die Regisseurin und Drehbuchautorin meidet bewusst das ostentativ Tragische, will nicht provozieren, anklagen, sucht den Konsens, sie glaubt nur an eine friedliche Veränderung aus der Gesellschaft heraus. Es sollte ein Porträt ihrer Heimat entstehen, dort wo sie aufgewachsen ist als achtes Kind von zwölf Geschwistern. Man spürt die tiefe Verbundenheit mit dem Land und seinen Menschen, auch wenn sie dort nicht mehr lebt.

Mit meisterhaft melancholischer Leichtigkeit und in ungewöhnlichen, eindrucksvollen Bildern inszeniert Al Mansour die Beziehung von Mutter und Tochter als Parabel über Saudi-Arabien und seine Gegensätze. Unzählige kleine Szenen fügen sich zum faszinierenden Mosaik einer für uns fremden Welt zusammen. Zugleich entsteht ein vertrautes Bild dieser Welt für jene, die dort leben. Die Regisseurin will sie beide gleichermaßen ansprechen. Es gelingt ihr, ob in Wien, Venedig oder Dubai: Begeisterung, Anerkennung und Auszeichnungen.

Innenansichten einer restriktiven uniformierten Gesellschaft: Schulmädchen in ihren dunklen Abayas, den traditionellen langen mantelartigen Gewändern, beim morgendlichen Appell, es heißt zusammenrücken, damit “der Teufel” nicht durchkommt. Die Mutter kocht ein großes Dinner für ihren Ehemann (der sie verlässt) und seine Freunde. Die Schüsseln werden vor die Tür gestellt, sie klopft an, der Gatte kommt heraus, lobt die Speisen und trägt sie hinein. Kontakt zwischen nicht verwandten Männern und Frauen ist nicht gestattet.
Der farbenfrohe Stammbaum der Familie: Wadjda vermisst ihren Namen, sie wird belehrt, er sei nur für männliche Nachkommen. Wütend kritzelt sie ihren Namen auf einen Zettel und heftet ihn mit einer Haarnadel an einen der Äste.
Verschleierte pummelige Zehnjährige spielen jauchzend auf dem Schulhof. In der Ferne erblickt die Lehrerin Bauarbeiter auf einem Gerüst, sofort scheucht sie die Kleinen ins Klassenzimmer – kein Mann darf ihre Stimmen hören. Wadjda lässt sich nicht stören, hopst ungestört weiter zwischen den Kreidestrichen von Himmel und Hölle. Manches ist überall gleich. Auch der Kummer einer Frau, wenn sie verlassen wird. Anrührend die solidarische Kameradschaft, die am Ende zwischen Mutter und Tochter entsteht, als sie allein auf sich gestellt sind.

Was den Zuschauer schmerzt, ist zu sehen, wie viele Frauen unter dem Druck von Konvention, Familie, Glaube und Religionspolizei leiden, ihre Gefühle nicht artikulieren können, weil sie die Verbote verinnerlicht haben. Daheim in Jeans und T-Shirt, die langen Haare offen tragend, kann Wadjdas Mutter locker, witzig sein, singt, sie hat eine phantastische Stimme. Aber sie ist wie besessen von dem Gedanken, mit Wohlverhalten, Unterordnung, Verzicht, Anpassung könne sie ihren Mann zurückgewinnen. Eine Kollegin, weniger attraktiv, genießt kleine Freiheiten, wenn sie sich ihr bieten und nimmt einen Job im nahegelegenen Krankenhaus an. Dort arbeitet sie mit Männern zusammen, verzichtet auf den Vollschleier zumindest während des Dienstes. Für Wadjdas Mutter ein unvorstellbarer Gedanke. Sie fährt lieber Stunden über Land zu ihrem Arbeitsplatz, lässt von sich vom Chauffeur schikanieren, erniedrigen, irgendwann jedoch begreift sie die Sinnlosigkeit ihres Handels.

Die Suren aus dem Koran, die Wadjda mühsam lernen muss, werden zum Subtext der Handlung, das grüne Fahrrad avanciert zum Leitmotiv, gibt das Tempo des Films vor. Seit Luis Bunuels und Salvador Dalis „Un Chien Analou”(1929) steht das Fahrrad im Kino als Metapher für Freiheit, ob in John Fords “The Quiet Man” oder Francois Truffauts „Jules et Jim”. Al Mansours Drehbuch erinnert verblüffend an den italienischen Neorealismus wie in Victor de Sicas „Fahrraddiebe” (1948) und hat viele seiner typischen Merkmale: Geschichten voller kleiner, scheinbar unbedeutender Fakten aus dem wirklichen Leben, die für sich selbst sprechen, hier wird das Fragmentarische zum Stil erhoben. Existenzielle Themen wie Ungerechtigkeit stehen im Vordergrund, es gibt keine klassischen Helden, denn eigentlich soll der Zuschauer die Hauptfigur sein. Zu Haifaa Al Mansours erklärten Vorbildern gehören Filme wie “Offside” (2006) von Janah Panahi und vor allem “Rosetta” von den Brüdern Dardenne (1999).

Der Film hat eine unverwechselbare, seltsame karge Poesie und Ästhetik, vorgegeben durch jene staubige, triste Standlandschaft, in der Wadjda und Abdullah sich treffen allen Verboten zum Trotz. Als plötzlich, einer Fata Morgana gleich, jenes grüne Fahrrad am Horizont auftaucht (auf einen Wagen montiert), wird es zu einer magischen Vision, der die Protagonistin nachjagt, sie wird ihr Leben verändern, bringt Farbe, Abenteuer, Herausforderungen in das monotone Dasein. Sonst sind die Frauen meist unsichtbar in dieser Kultur, bei Al Mansour ist es umgekehrt, die Männer erscheinen nur am Rande, eine Stippvisite vom Ehemann, ein gehässiger Chauffeur, Bauarbeiter auf dem Gerüst. Abdullah symbolisiert die Hoffnung auf eine neue Generation. Rührend eine Szene auf der Terrasse, der Nachbarsjunge hat Rollen an sein Rad montiert wie für ein Kleinkind, damit Wadjda üben kann ohne sich Blessuren zu holen. Sie heult vor Wut, fühlt sich erniedrigt, unterfordert, Abdullah begreift schnell, dass sie sich lieber verletzt, als nicht gleichberechtigt zu sein. Und so kommt der Tag, an dem ihr Wunsch in Erfüllung geht und sie in hohem Tempo auf der Straße an ihrem Freund vorbeizieht.


Hintergrund: Die 39-jährige Haifaa Al Mansour ist Tochter des Dichters Abdul Rahman Mansour. Sie wuchs in einer liberalen Familie auf, aber sehr konservativen Kleinstadt. Die Eltern gaben ihr und den Geschwistern viel Spielraum. Sie besaß im Gegensatz zu ihrer Protagonistin ein Fahrrad, natürlich durfte sie es nur auf dem elterlichen Grundstück benutzen. Den ersten Kontakt mit Film hatte sie durch die Videos, die ihr Vater mit nach Hause brachte, Jackie Chan, Bruce Lee und amerikanische Zeichentrickfilme. Wirklich autobiographisch ist der Film also nicht, Vorbild soll eine ihrer Nichten sein.

Al Mansour studierte später an der internationalen Universität in Kairo. Ihr Ehemann ist amerikanischer Diplomat, nach zwei Jahren in Sidney leben sie jetzt mit ihren beiden Kindern in Bahrain, um in der Nähe der Familie zu sein. Ihr Dokumentarfilm “Women without Shadows” wurde auf zahlreichen Festivals gezeigt und ausgezeichnet. Haifaa Al Mansour nahm an mehreren Drehbuch-Workshops teil wie dem Sundance Writers Lab. Der erste Entwurf für “Wadjda” war sehr düster, erzählt sie in einem Interview, aber dann sah sie in Berlin einen Film, der in einer ähnlichen Wertewelt spielte wie ihrer. “Alles war erstarrt und tragisch. Nichts bewegte sich. Es war furchtbar.” Ihr wurde klar, sie musste ihren Film aus einer optimistischeren Sicht erzählen, dem Mädchen Leben geben.

Als Waad Mohammed zum ersten Mal den Raum betrat, wusste die Regisseurin, dass sie ihre Hauptdarstellerin gefunden hatte. Die 12-jährige erschien genau in jenen Jeans und Chucks, die sie im Film trägt. Sie hatte Kopfhörer im Ohr und hörte Justin Bieber, sie verstand kein Englisch, konnte aber jedes Wort mitsingen. Al Mansour bezeichnet sie “als typischen Teenager, den man überall auf der Welt treffen könnte”.

Da Frauen und Männer nicht zusammen arbeiten dürfen in Saudi-Arabien, schon gar nicht in der Öffentlichkeit, musste die Regisseurin während der Außenaufnahmen meist im Van bleiben, und konnte nur über Walkie Talkie der Crew ihre Anweisungen geben. Das Fahrrad-Verbot für Mädchen ist seit kurzem aufgehoben.

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Originaltitel: Wadjda
Regisseur: Haifaa Al Mansour
Darsteller: Waad Mohammed, Reem Abdullah, Abdullrahman Al Gohani, Sultan Al Assaf
Herstellungsland: Saudi-Arabien, Deutschland
Länge; 97 Minuten Kinostart: 5. September 2013
Verleih: Koch Media Licensing GmbH

Fotos & Video: Copyright Razor Film

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