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Ein Gespräch mit Regisseuren des Jungen Schauspielhauses Hamburg zum Thema Gewalt im Kinder- und Jugendtheater. Das Gespräch moderierte Stanislava Jević.Immer wieder wird gefragt, ob das Theater für Kinder und Jugendliche von Gewalt erzählen darf. Die Regisseure Barbara Bürk, Kristo Šagor und Klaus Schumacher, die sowohl im Abendspielplan als auch für ein junges Publikum inszenieren, gehen dieser Frage nach und kommen dabei den Paradoxien und Potentialen des Theaters auf die Spur.
Klaus Schumacher: Warum ist es im Kinder- und Jugendtheater notwendig von Gewalt zu erzählen?
Kristo Šagor: Ich glaube, dass junge Menschen sehr früh Gewalterfahrungen machen. Schon in der Kindheit spielen Machtrangeleien eine Rolle. Nicht alle haben das Glück mit liebevollen Eltern aufzuwachsen. Es gibt wohl kaum jemanden, der nicht – egal ob als Täter, Opfer oder Zuschauer – Erfahrungen mit Gewalt gemacht hat. Ich glaube, es trägt zur positiven Entwicklung eines Individuums bei, über solche Erfahrungen zu sprechen.
Klaus Schumacher: Die Bühne ist ein Erfahrungsraum, der das gesamte Erleben der Zuschauer widerspiegeln sollte, egal ob es sich um Kinder, Jugendliche oder Erwachsene handelt. Leider ist es nun mal so, dass Gewalt unsere Zeit prägt, auch die mediale Gewalt, die im Leben von jungen Menschen eine große Rolle spielt. Barbara, in Deinem Stück geht es um Gewalt in der Familie.
Barbara Bürk: In „Das Buch von allen Dingen“ geht es um einen Mann, der Frau und Kinder schlägt, um seine religiös-moralischen Grundsätze durchzusetzen. Gewalt in der Familie gilt als gesellschaftliches Tabu. Auch in dieser Familie wollen Täter und Opfer, dass nichts nach außen dringt. In einem sich allmählich entwickelnden Prozess findet jedoch eine Veränderung statt. Das Stück zeigt exemplarisch, wie jemand den Mut entwickelt, sich dem Täter entgegenzustellen und das scheinbar Unsagbare auszusprechen. Umso beeindruckender ist dies, da es sich um einen neunjährigen Jungen handelt.
Klaus Schumacher: Kristo, in „Törless“ geht es um Jugendliche, die aus einer höheren Schicht stammen. Das Gewaltphänomen ist offenbar kein Unterschichtenproblem.
Kristo Šagor: Törless ist so etwas wie unser aller Platzhalter. Er steht der Gewaltstruktur zunächst neutral gegenüber. Es gibt zwei Täter, es gibt ein Opfer, und es gibt den Vierten, der entweder zu einer Mehrzahl von drei zu eins führt oder zu einem Patt. Wo er landet, ist er „Mehrheitenbeschaffer“. Diese Konstellation entspricht unseren alltäglichen Herausforderungen als Menschen; immer wieder geraten wir in Situationen, in denen wir hoffentlich Zivilcourage beweisen. Parallel zu diesem „Beobachtersein“ geht es in „Törless“ um das wachsende Ego eines jungen Mannes, der versucht die Welt zu verstehen. Am Ende entscheidet er sich gegen beide Gruppen: Das Opfer widert ihn an, weil es sich nicht wehrt. Die Täter lehnt er ab. Er findet sie ekelhaft. Er erkennt, dass es ihnen nicht um ein Begreifen von Welt geht, für ihn sind sie bloß stumpfe Sadisten. Ob das jetzt im Kontext eines alltäglichen Handlungsspielraums die richtige Entscheidung ist, sei mal dahin gestellt. Es ist aber der Versuch, in einer gewalttätig strukturieren Welt, eine autonome Position zu beziehen.
Klaus Schumacher: Man könnte jetzt meinen, dass unser Spielplan aus lauter Gewaltstücken besteht. Für mich ist aber interessant festzustellen, dass es immer auch um das genaue Gegenteil geht. Wenn man von Gewalt erzählt, erzählt man gleichzeitig von Liebe. Wenn man zum Beispiel an „Törless“ denkt, dann geht es hier auch um das Aufkeimen von Sexualität. In „Das Buch von allen Dingen“ steckt trotz aller Schwere eine lebensbejahende Sicht auf die Welt. Oder denken wir an „Mutter Afrika“. Da waren viele skeptisch: „Mensch, ihr gründet ein Kinder- und Jugendtheater und auf der Bühne werden zig Leute niedergemetzelt. Ist das ein guter Start?“ Da habe ich gekontert: „Ja, das ist eben das volle Leben.“ Jedes Phänomen provoziert sein Gegenteil. Insofern erzählen wir die ganze Zeit von Freundschaft, Solidarität und Überlebensstrategien. Im Theater ist der Moment des Scheiterns und der Suche immer der spannendste. Das macht gute Geschichten aus. Barbara, machst Du dir darüber Gedanken, wie du die besonders harten Situationen in „Das Buch von allen Dingen“ so darstellst, dass sie für ein Publikum ab zehn Jahren zumutbar sind?
Barbara Bürk: Man setzt sich als Theatermacher grundsätzlich mit der Frage auseinander, wie man Gewalt auf der Bühne darstellen kann. Wenn man einen realistischen Zugriff wählt, wie man es vielleicht aus Film und Fernsehen kennt, dann entspricht das nicht den theaterimmanenten Mitteln und ist oft nicht glaubwürdig. Viel eindringlicher kann es sein, wenn man verfremdend vorgeht. Es ist das erste Mal, dass ich ein Kinderstück inszeniere, und ich frage mich, wie weit man gehen kann. Einerseits muss es ernsthaft bleiben und darf nicht verharmlost werden, wenn der Vater seinen Sohn schlägt. Gleichzeitig darf es nicht zu schlimm werden. Ich bemerke das bei meinen Kindern. Es gibt so etwas wie eine Grenze, wo sie die Spannung nicht mehr aushalten, und da muss man ihnen einen Ausweg anbieten. Ich habe das selbst bei „Ein Schaf fürs Leben“ festgestellt. Auch hier wird eine „Gewaltgeschichte“ erzählt: Wolf will Schaf ständig fressen. Als Erwachsene habe ich gedacht, dass man aus dieser Geschichte auch eine Inszenierung über die Verführung Minderjähriger machen könnte. Aber ich glaube nicht, dass kleine Kinder auf solche Gedanken kommen. Meinen Kindern hat es in den „gefährlichen“ Momenten geholfen, dass der Wolf eher wie ein Sherlock Holmes-Typ aussieht. Nur die Haare auf den Handrücken erinnern an einen Werwolf. Das war eine gute Art der Verfremdung.
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