Musik

„Blick zurück in eine große Zukunft – Der Dirigent Emil Kahn“: der Titel dieser Musikerbiografie und Exilgeschichte ist programmatisch und steht letztlich stellvertretend für das Kulturleben Deutschlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

 

Rainer Bunz erzählt in seinem neuen Buch die Lebensgeschichte des Dirigenten Emil Kahn, dessen Karriere eng verwoben ist mit der Entwicklung der Neuen Musik und den damals neuen technischen Medien wie Rundfunk und Schallplatte.

 

1933 als Jude von den Nationalsozialisten verfolgt und aus Deutschland vertrieben, konnte er zwar in den USA wieder Fuß fassen und dort das Musikleben bereichern, doch trotz zahlreicher Gast-Auftritte in den 1950er Jahren in Süddeutschland blieb der Bruch bestehen und sein Name wurde in Deutschland vergessen.

 

Blick zurück in eine große Zukunft COVERRainer Bunz entdeckte Emil Kahn beim Durchblättern alter Rundfunkprogramme im Zuge der Recherchen für seine 2016 erschienene Biografie des – ebenfalls vergessenen - Dirigenten Frieder Weissmann. Abgesehen von den Wiedergutmachungsakten fand er kaum Hinweise auf Kahns Familie und war zunächst auf Tageszeitungen und Zeitschriften angewiesen, um seinen Werdegang nachzuvollziehen. Glücklicherweise erlaubten ihm die Nachkommen Emil Kahns, dessen Nachlass durchzusehen. Auf diese Weise hat Bunz aus Briefen, Fotos und anderen Dokumenten ein ziemlich genaues Bild des leidenschaftlichen Musikers und Familienvaters rekonstruieren können.

 

1896 in Frankfurt als Sohn einer angesehen jüdischen Bankiersfamilie geboren, zeigte Emil schon früh eine musikalische Begabung, spielte Cello und Klavier und soll schon als 11-jähriger seinem Vater zum 50. Geburtstag eine Komposition geschenkt haben. Die Eltern förderten sein Talent und ließen ihn nach dem Abitur am Frankfurter Konservatorium studieren. Die Aufgabe, das traditionelle Bankgeschäft fortzuführen, blieb seinen Brüdern überlassen. Schon früh, mit 22 Jahren, heiratete er seine Kommilitonin Nellie Budge, verwandt mit dem Bankier Henry Budge in Hamburg. Die Ehe wurde zehn Jahre später geschieden. Dieser ersten von insgesamt drei Ehen entstammen die vier Kinder Eva, Hans, Peter und Wolf. Zur Musik zog es keinen von ihnen, Peter und Wolf haben sich in der bildenden Kunst einen Namen gemacht.

 

Detailliert beschreibt Rainer Bunz das familiäre Beziehungsgeflecht und die Netzwerke von Freunden und Kollegen. Ebenso genau benennt er die musikalischen Aktivitäten von Emil Kahn, zitiert die Konzertprogramme, die dieser im Laufe seines Lebens zusammenstellte und dirigierte, sowie die überwiegend begeisterten Kritiken, die sie erhielten. Trotz der vielen Einzelheiten liest sich das Buch flüssig und anschaulich. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass Emil Kahn ganz der Sache verpflichtet und mit Hingabe seine vielfältigen Aufgaben erfüllte. Er behandelte seine Orchestermusiker mit Respekt und Einfühlung und verstand es, sie zu einem Klangkörper zusammenzuführen. Dies bescherte ihm sehr oft Erfolg und großen Applaus, ob in Deutschland oder den USA.

 

Allerdings fanden diese Erfolge in zwei völlig unterschiedlichen Rahmen statt. In Deutschland gehörte Kahn zu den Pionieren. Als Kapellmeister des Stuttgarter „Theaters am Charlottenplatz“ dirigierte er 1925 die Orchestermusik zu Stummfilmen und die ersten Rundfunkkonzerte der „Süddeutschen Rundfunk AG“ (SÜRAG). Darunter war im September 1925 auch ein eigenes Werk, seine erste Sinfonie angelehnt an Gedichte des indischen Poeten, Malers, Musikers und Philosophen Rabindranath Tagore. Kurz danach wechselte er ganz zum Rundfunk und erhielt dort ab 1. Januar 1926 eine Festanstellung als Kapellmeister des Philharmonischen Orchesters der SÜRAG.

 

Bis 1933 dirigierte Emil Kahn zahlreiche Rundfunkkonzerte, die damals übrigens immer nur live gespielt wurden. Erst ab Mitte der 1930er Jahre konnten längere Darbietungen auf einem Tonbandgerät konserviert werden. Kahns Programmgestaltung beinhaltete eine ausgefeilte Mischung aus Stücken populärer Komponisten wie Wolfgang Amadeus Mozart, Franz Schubert, Richard Strauß als auch moderner wie Franz Schreker, Erich Wolfgang Korngold, Walter Braunfels. Gustav Mahler und Bruckner lagen ihm besonders am Herzen. Kahn sah sich auch als Vermittler Neuer Musik, was ihm offensichtlich gelang. Seine Konzerte erhielten großen Zuspruch von Presse und Zuhörern.

 

Noch am 13. Februar 1933 dirigierte Kahn in Ulm ein Richard Wagner-Konzert. Das Publikum war zur Hälfte von SS-Leuten besetzt, der Applaus war dennoch groß. Schon am 2. März kündigte ihm der Geschäftsführer der SÜRAG zum 30. Juni 1933. In seinem Schreiben pries er die Verdienste und Erfolge Emil Kahns, die ihm „den Weg zur Erreichung einer neuen Stelle ebnen…“ würden. Das klingt im Rückblick zynisch, war aber vielleicht nur politisch naiv und verwirrt. Der Autor Rainer Bunz hält sich im ganzen Buch mit Bewertungen und Urteilen weitgehend zurück.

Im Dezember 1935 erreichte Emil Kahn New York. Seine dortige entfernte großbürgerliche Verwandtschaft lehnte jede Hilfe ab. Mit Geschick und Glück gelang es Kahn, im Nachbarstaat New Jersey die Stelle eines Orchesterleiters am „New Jersey State Teachers College“ zu bekommen. So konnte er zunächst seine zweite Ehefrau Ellen und später auch seine vier Kinder nachholen. Im Fall seiner Mutter Anna Kahn misslang das. Sie starb am 13. Januar 1943 im Konzentrationslager Theresienstadt - angeblich an Tuberkulose.

Als Leiter eines ersten professionellen Rundfunkorchesters stand Emil Kahn in Deutschland bis 1933 in der ersten Reihe. Nun rückte er als Dirigent eines Amateurorchesters in der amerikanischen Provinz in die hintere Reihe. Doch das bürgerliche und musikbegeisterte Publikum in Montclair hieß ihn willkommen. Und Kahn nahm die neue Aufgabe ernst: „Er arbeite gern mit Studenten wegen ihrer Begeisterungsfähigkeit und ihrem Wunsch etwas zu erreichen, das die Fähigkeiten eines durchschnittlich begabten Menschen übersteigt. Dieser Enthusiasmus ist für mich wichtiger als eine ausgefeilte Technik“ zitiert ihn das ansässige Lokalblatt in einem Interview. Diese Haltung verhalf ihm in seiner zweiten Lebenshälfte im amerikanischen Exil zu einem erfüllten Arbeitsleben.

 

Emil Kahn gehört zu den vielen exilierten Künstlern, die damals die amerikanische Kultur voranbrachten. In den 1940er Jahren initiierte er u.a. die Gründung der „New Jersey Chamber Opera“, war Juror bei der „New Opera Company“ in New York – ein Projekt zur Nachwuchsförderung -, komponierte ein Musical - das allerdings nicht zur Aufführung kam - und dirigierte bei Aufführungen der Tanzkompanie „Ballet Russe Highlights“. Durch seine vielfältigen Aktivitäten war er maßgeblich daran beteiligt, die europäische Oper erfolgreich auf den Broadway zu bringen und dem amerikanischen Publikum insgesamt vertrauter zu machen. Eine große Unruhe prägte sein Leben, einerseits durch viele Lehrverpflichtungen, Gast-Dirigate, Tourneen, andererseits durch ständig wechselnde Wohnungsumzüge. Dazu gab es häufig Spannungen zwischen seinen Kindern aus erster Ehe mit den nachfolgenden Ehefrauen.

 

Im Jahre 1952 bereiste Emil Kahn zum ersten Mal wieder seine alte Heimat und kam nach Baden-Baden zu Aufnahmen mit dem „Großen Orchester des Südwestfunks“. In den folgenden Jahren wiederholte er seine Auftritte und fungierte nun in umgekehrter Richtung als Kulturvermittler, indem er die zeitgenössische Musikszene der USA dem deutschen Publikum vorstellte und ihm damit wieder Zugang zu aktuellen Entwicklungen ermöglichte. Beim Treffen mit alten Freunden und Bekannten vermieden beide Seiten eine Rückschau oder gar Abrechnung mit der Zeit seiner Verfolgung. Emil Kahn scheint generell ein Mensch gewesen zu sein, der einer direkten Konfrontation lieber auswich. Das galt auch bei privaten Konflikten. Die Musik war sein Reich, die Wirklichkeit daneben zweitrangig.

 

Auch wenn sich diese Biografie oberflächlich betrachtet, wie der Bericht eines erfüllten Musikerlebens liest, sind die Verletzungen und Schäden, die Verfolgung und Exil im Leben Emil Kahns und seiner Familie angerichtet haben, indirekt spürbar. Sie fügen sich ein in die gesamte historische Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Die Ermordung der europäischen Juden ging einher mit der Plünderung ihrer Besitzstände, ein Großteil des Vermögens der verzweigten Familie Kahn und Budge wurde vom nationalsozialistischen Staat geraubt, was der Autor im letzten Kapitel kurz umreißt. Die Wiedergutmachungsakten, aus denen Bunz zitiert, belegen den bürokratischen Versuch, den individuellen beruflichen Schaden für Emil Kahn finanziell zu beziffern. Denn er war noch im Rentenalter darauf angewiesen, Geld zu verdienen, um seine Existenz zu sichern. Drei Jahre vor seinem Tod zog er sich ins Privatleben zurück. Emil Kahn starb am 25. Januar 1985 in seiner New Yorker Wohnung im Alter von 88 Jahren. Rainer Bunz hat ihn mit dieser Biografie wieder in das kulturelle Gedächtnis zurückgeholt.


Rainer Bunz, Blick zurück in eine große Zukunft – der Dirigent Emil Kahn

BoD, Norderstedt, Mai 2024, on Demand

286 Seiten, zahlreiche Abbildungen

ISBN-13: 9783758383335

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