„Dieses Buch entkräftet das Argument, die DDR sei gar nicht so schlimm gewesen!“, sagt Eliyah Felix Havemann entschieden.
„Es gefällt mir deshalb so gut – und das liegt in erster Linie an den Geschichten der Mitautoren – weil wir alle davon erzählen wie wir mehr oder weniger unfreiwillig vom Osten in den Westen gekommen sind. Wir sind alle als Kinder oder junge Erwachsene nach Westdeutschland gekommen und keiner von uns hat es bereut, auch wenn der Neubeginn für viele von uns nicht angenehm war. Das Argument wird also entkräftet, in dem es bestätigt wird.“
Das Buch, von dem die Rede ist, ist eine Sammlung von 18 autobiographischen Texten unterschiedlicher Autorinnen und Autoren, die zwischen 1964 und 1982 in der DDR geboren wurden. Es geht um Kindheiten zwischen Ost und West. Die beiden Herausgeberinnen, Anna und Susanne Schädlich sahen es als Gebot der Stunde, auch den Kindern von damals eine Stimme zu geben. In der Anthologie melden sich jene Söhne und Töchter zu Wort, deren Eltern Literaten, Schauspieler, Regisseure, Künstler und Musiker waren, Dissidenten und Regimegegner. Die Kinder haben heute ein „normales“ Leben und die Berufe lesen sich ohne Besonderheiten: Schauspieler, Literaten und Designer, Journalist, Übersetzer oder Toningenieur, Koch, Handwerker, Gastwirt und einer war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung arbeitslos.
Eliyah Felix Havemann ist einer der 19 Autoren und entstammt einer sehr berühmten Familie, sein Großvater war Robert Havemann, Chemiker, Widerstandskämpfer der NS-Diktatur und später Abgeordneter der DDR-Volkskammer und schließlich Dissident, der jahrelang unter Hausarrest stand – also, ein bekannter Name während der gesamten DDR-Geschichte. Seine Mutter ist Sibylle Havemann, sein Vater der Lyriker und Liedermacher Wolf Biermann. Mittlerweile lebt Eliyah Felix Havemann mit Frau und Sohn in Israel.
Claus Friede traf sich mit Eliyah Felix Havemann in Hamburg und sprach über das Buch und seine Suche nach Heimat.
Claus Friede (CF): Erinnerst du dich daran, was dir spontan durch den Kopf ging als Anna und Susanne Schädlich dich fragten, an dem Buch mitzuschreiben?
Eliyah Felix Havemann (EFH): Ja, das erinnere ich sehr genau, weil es eine alte Problematik ansprach. Ich bin nicht nur mit meiner eigenen Geschichte aufgewachsen, sondern insbesondere mit der meiner Eltern – meines Vaters. Und ich musste mich permanent mit ihm auseinandersetzen. Im Gegensatz zu meiner Schwester Marie, die singt und sogar die Lieder unseres Vaters Wolf Biermann interpretiert, habe ich beruflich nach Distanz gesucht. Deshalb habe ich mich auch für einen ganz anderen beruflichen Weg entschieden, lernte zunächst Tontechniker und arbeite heute als Netzwerktechniker bei einem Internetanbieter.
Da die Anfrage per E-Mail und nicht per Telefon kam, hatte ich Zeit zu reagieren und musste nicht spontan antworten. Bisher habe ich weder Interviews gegeben, noch auf derlei Anfragen zustimmend reagiert – in diesem Fall war es aber anders. Hier hatte ich das Gefühl etwas geben zu können was von mir kommt und nicht den Umweg über mich macht, um anderes zu erfahren, was nur mit der Familie zu tun hat, in die ich geboren wurde. Spontan ist da nichts mehr was mir durch den Kopf ging, ich beschäftige mich seit zig Jahren mit der Thematik der Fremdbewunderung.
Dieses Buchprojekt fand ich ausgesprochen spannend, weil alle Autoren aus bekannten Familien stammen und gemeinsam mit ihren Geschichten in die Öffentlichkeit gehen.
CF: Welche Vorgaben gab es für dich inhaltlicher Art, was haben die Herausgeberinnen von dir erwartet?
EFH: Die Frage die mir gestellt wurde war: „Was hat meine DDR-Vergangenheit mit meinem Leben gemacht?“ Das ist ein weites Thema. Etwa welche Erfahrungen habe ich in und mit der DDR gemacht, welche Ereignisse haben mein Leben verändert oder beeinflusst. Die Ausbürgerung meines Vaters und die Ausreise meiner Mutter mit mir waren zu einem Zeitpunkt, an dem ich noch sehr jung war und somit gibt es zwei verschiedene Ebenen des Schreibens: Die der Erzählung anderer, weil ich sie selbst nicht erinnere und die der eigenen Erinnerung und Erfahrung.
Das Angebot der Schwestern war, und das lag an der sehr unterschiedlichen Erfahrung der Autoren schriftstellerisch tätig zu sein, ein Gespräch zu führen und dann den Beitrag daraus zu formulieren. Soweit ich informiert bin, haben alle den Text letztlich selbst geschrieben. Und es ist niemand dabei der „Ostalgie“ pflegt, auf die reagiere ich extrem genervt und negativ. Diese Verklärung ist mir ein Greul.
CF: Als ich deinen Beitrag las, stellte ich trotz der autobiographischen-, weitere, unterschiedliche, vielleicht allgemeingültige Perspektiven fest, von denen du aus berichtest. Welche Punkte waren dir wichtig zu erzählen?
EFH: Zunächst empfinde ich meine Geschichte als rein autobiographisch und sie steht in keiner Relation zu den anderen. Alle Beiträge sind sehr verschieden, besonders was die Erfahrung mit dem Westen angeht. Man darf nicht vergessen, die Texte beruhen auf subjektiven Wahrheiten, die Rückschlüsse auf die perfiden Denkweisen eines Regimes zulassen.
Unsere Geschichten sind sehr wahrhaftig und wahr, aber sie sind und bleiben ein Ausschnitt einer größeren Wahrheit. Meine ist noch eine der fröhlichsten, wenn nicht die fröhlichste Erzählung. Bei der ersten Lesung in Berlin war das deutlich: vor mir las Nadja Klier – ein unglaublich gut geschriebene, rührende Geschichte, das Publikum und auch ich hatten Tränen in den Augen und die Stimmung war niedergeschlagen. Meine Geschichte hat die Stimmung anschließend aufgelockert. Nach mir lasen dann die Franck-Schwestern und schon musste wieder einiges vom Publikum verarbeitet werden. Da ich als Kleinkind in den Westen kam, hatte ich keinen vergleichbaren Bruch, mit dem was andere ertragen mussten und da ist es dann überhaupt nicht mehr lustig.
CF: Von welchen Brüchen spricht du?
EFH: Ich hatte beispielsweise die ganze Zeit des Aufwachsens meine Mutter und mein Vater war auch erreichbar, andere hatten ihre Eltern nicht oder ein Elternteil war im Knast oder allein im Westen.
Ich habe übrigens nur durch das Buch herausgefunden, dass meine Mutter nicht nur einfach meinem Vater in den Westen gefolgt ist, sondern dass sie das hauptsächlich meinetwegen tat. Sie wollte nicht, dass ich ohne Vater aufwachse, und das, obwohl die Beziehung zu ihm schon nicht mehr stabil war.
CF: Welche Begebenheiten haben für dich Brüche verursacht, woran musstest du dich abarbeiten – abgesehen, wie erwähnt, an deinem Vater?
EFH: Den größten Bruch empfinde ich in der Jahrzehnte andauernden Heimatlosigkeit, die entstanden ist. Ich war, egal wohin ich kam, immer der Fremde, der Gast. In Hamburg war ich der Ossi, im süddeutschen Dorf der Städter und in Frankreich der „boche“, der Deutsche und auch noch das Kind berühmter Eltern. Erst jetzt habe ich es geschafft meine Heimat zu finden: in Israel. Oder vielleicht hat sie auch mich gefunden.
Heimat ist ein deutsches Wort und es ist schwierig dieses in andere Sprachen zu übersetzen. Es ist diese umfassende, eigentümliche Kombination von Gefühl, Geborgenheit, Menschen, Kultur, Ort und Bildern, die man fest zusammenfügt. Während meiner gesamten Kindheit hatte ich keine Heimat, ich habe mich Orten nur sehr kurzzeitig verbunden gefühlt, dem Haus meines Vaters oder einem Platz in Grünheide in der Mark, wo meine Großmutter lebte. Es war vielleicht eher die Bindung an wenige Menschen, weil wir keine Bindung zu unserem Umfeld bekamen oder wollten.
CF: Ja, vielleicht braucht es diese Wechselbeziehung, dass auch die Heimat einen aussucht. Und das hat Israel nun getan. Welche Rolle spielen der jüdische Teil deiner Familie und Dein Glaube?
EFH: Ich habe eigentlich gar nicht über meinen Glauben geschrieben, das ist eine rein persönliche Sache. Ich habe es dann erwähnt, wenn es meiner Heimatsuche diente. Mein Glück, so steht es auch im Buch, ist Ha’Shem, unser jüdischer Gott. Du weißt wovon ich spreche. Meine erste Israelreise und mein Aufenthalt im Kibbutz sind im Buch beschrieben, das will ich hier nicht noch einmal tun.
In dem Land, in dem ich jetzt lebe, hatte scheinbar irgendwie jede Familie die Problematik der Heimatsuche gehabt, alle waren ständig auf der Suche oder waren getrieben, bis sie nach Israel kamen.
CF: Klingt nach einer angenehmen Relativierung, du bist unter deinesgleichen...
EFH: Ja, stimmt, und jeder hat auch diese Geschichten zu erzählen, ich bin dort nichts Besonderes. Ich gehöre dazu und dahin, und dort ist es mir erstmalig gelungen, eine Heimat und mein Volk zu finden.
Die Stimme einer zerrissenen Generation
Als Künstler, Schriftsteller und Dissidenten zusammen mit ihren Familien in den 1970er- und 80er-Jahren die DDR verlassen mussten, blieb vieles zurück: vertraute Gesichter, vertraute Orte, ganze Familiengeschichten. Zum ersten Mal ergreifen hier die „Kinder von damals“ das Wort und sprechen über den „Systemwechsel der Seele“. Es sind Erinnerungen von Glück oder Unglück, von Befreiung oder Unsicherheit, von geschärfter Sensibilität oder Verweigerung – vor allem aber erzählen die jungen Frauen und Männer jetzt ihre Geschichte. Sie wurden in jungen Jahren aus ihrem gewohnten Leben herausgerissen und mussten im Westen neu anfangen: Susanne Schädlich war zwölf, ihre Schwester Anna vier, als sie zusammen mit ihren Eltern, dem Schriftsteller Hans Joachim Schädlich und dessen Frau, 1977 das Land verlassen mussten, das ihre Heimat war. Wie ihnen erging es vielen anderen, deren Familien damals denselben Weg gingen, zwangsweise oder aus eigenem Antrieb. Was weiter war, darüber ist vor allem geschwiegen worden – bis jetzt. Ob Moritz Schleime sich mit großer Erzähllust seinem „Doppelleben“ als Kind annähert oder Nadja Klier sich den „Schatten auf der Seele“ stellt – es sind eindringliche und eindrucksvolle Berichte von dem zentralen Bruch im Leben, mit denen Julia und Cornelia Franck, Johannes Honigmann, Moritz Kirsch, Jakob und Benjamin Schlesinger und viele andere hier erstmals an die Öffentlichkeit treten. Die Last des Republikwechsels: Geschichten vom Erwachsenwerden zwischen DDR und BRD.
Ein Spaziergang war es nicht
Kindheiten zwischen Ost und WestAnna und Susanne Schädlich (Hrsg.), Heyne Verlag
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 320 Seiten, 13,5 x 21,5 cm, s/w-Fotos im Text,
ISBN: 978-3-453-20008-1.
Abbildungsnachweis:
Header: Eliyah Felix Havemann als Kind. Foto: Privat
Galerie:
01. Buch-Cover „Ein Spaziergang war es nicht“. Abb.: Heyne Verlag München.
02. Zu Besuch bei Vater Wolf Biermann in Hamburg (undatiert). Foto: Privat
03. Kinderfoto aus dem Jahr 1977, kurz vor der Ausreise. Foto: Privat
04. Mit Mutter Sibylle Havemann, 2002 auf Lanzarote. Foto: Privat
05. Mit seine Ehefrau Jenny vor der Kotel Ha'Maravi (Westmauer oder "Klagemauer") in Jerusalem/Israel. Foto: Privat
06. Vor der Gedenktafel, der Ehrung als "Gerechter unter den Vökern" (חסיד אומות העולם), auf der der Name seiner Großvaters Robert Havemann zu lesen ist. World Center for Holocaust Research, Yad Vashem/Israel. Foto: Privat
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