Die Uckermark ist eine reizvolle Eiszeitlandschaft mit alten Wäldern, zahlreichen Hügeln, Mooren und Seen, sie liegt nördlich von Berlin. Ihre östliche Grenze bildet die Oder. Die größte Stadt dieser Region ist Schwedt, drumherum gibt es zahlreiche kleinere Dörfer. Der Tourismus wirbt gern mit dem Slogan „die „Uckermark ist steinreich!“ und spielt auf die unzähligen liegengebliebenen Gesteinsbrocken aus der Eiszeit an.
Wer aber weiss schon, dass es in der östlichen Uckermark sogar einmal echtes, na, sagen wir: fast echtes Gold gab, nämlich den Tabak? Mit der Ansiedlung französischer Hugenotten, die Ende des 17. Jahrhunderts wegen ihres protestantischen Glaubens verfolgt wurden und aus Frankreich fliehen mussten, war der Tabakanbau samt Pflanzen und Wissen in diese Region gekommen. Sie zogen in die vom 30jährigen Krieg entvölkerten Orte.
Die kleinen Tabakpflänzchen, die sie mitbrachten, fanden an der Oder ein gutes Kleinklima zum Wachsen. Durch die Oderniederung herrschte eine hohe Luftfeuchtigkeit, außerdem gab es lockeren Boden und viele Sonnentage. So wurde der Tabak rasch zum wirtschaftlichen „Gold der Uckermark“. Noch heute bestimmen Tabakscheunen und -schuppen, erkennbar vor allem an den zahlreichen Öffnungen zum Tabaktrocknen, das Bild der Oderbruchdörfer rund um die Stadt Schwedt.
Die in Schwedt aufgewachsene Journalistin Eva-Martina Weyer kennt die alten Geschichten genau, seit Jahren recherchiert sie zum Tabakanbau. Nahezu folgerichtig, dass sie nun ihren ersten Roman „Tabakpech“ schrieb und die eingesammelten Fakten in eine spannende Prosahandlung einband.
Ihr Buch erzählt eine Familiengeschichte über mehrere Generationen von 1930 bis 1995 mit all den historischen Umbrüchen von Zweiter Weltkrieg, LPG-Wirtschaft in der DDR und Mauerfall. Die Geschichte spielt in der Oderregion, wo sich einst die Grenzen von Preußen und Pommern, von Hochdeutsch und Platt mischten. Der Titel „Tabakpech“ meint weniger das Unglück, dass die Familienmitglieder im Laufe ihres Lebens immer wieder ereilte, sondern es ist der Name jenes speziellen Saftes, der beim Ernten aus der Pflanze tritt und schwarz an den Händen der Bauern klebt.
Zu den Hauptfiguren des fast 300 Seiten starken und im Verlag Stroux veröffentlichten Buches gehört die Tabakbäuerin Elfriede, Elfie genannt. Das Wort Tabakpech bekommt bei ihr eine symbolische Bedeutung. Schon als Kind fiel sie mit einer glockenhellen Stimme auf, als Jugendliche wollte sie unbedingt nach Berlin ziehen und Sängerin werden. Doch sie kam nie aus dem Tabakland heraus, ein Krieg, eine Schwangerschaft, eine Heirat - immer kam etwas dazwischen. Eigentlich hasste Elfie den Tabak, weil sie durch ihn die Chance ihres Lebens verpasste. Dennoch wurde sie eine vorbildliche Tabakbäuerin an der Seite ihres Mannes Georg, Sohn des Sägemühlenbesitzers.
Um das Buch besser zu verstehen, vielleicht vorab einige Fakten zum Tabakanbau in der Uckermark, die einst Zentrum des größten geschlossenen Tabakanbaugebietes in Deutschland war. Vor allem in den Orten Schwedt und Vierraden konzentrierte sich Anbau, Handel und Verarbeitung des Tabaks. Doch eigentlich von Pasewalk und Strasburg im Norden bis nach Seelow im Süden, selbst in Teilen Vorpommerns, des Barnims, des Oderbruchs und der östlich der Oder gelegenen Neumark wurde Tabak angebaut. Im Roman wurde aus Vierraden die kleine Stadt Mühlraden und das von Eva-Martina Weyer erfundene Dorf Gottesgabe ist eine Reminiszens an die Flüchtlingsgeschichte, noch heute gibt es diesen Ortsnamen tatsächlich mehrfach in Nordostdeutschland dort, wo sich Hugenotten ansiedelten.
Nach dem Krieg förderte die DDR den Anbau in landwirtschatlichen Genossenschaften, da er im Export ersehnte Devisen brachte. Was übrig blieb, durfte die heimische Tabakindustrie verarbeiten. Viele Mecklenburg-Vorpommerner und Brandenburger bauten außerdem privat auf weniger als einem Morgen Tabak zur Eigenvermarktung an, zu Beginn der der 90er gab es noch etwa 2000 Tabakpflanzer. Als die Subventionen für den Anbau ausblieben, gaben die „Planteure“ nach und nach auf - aus Altersgründen, wegen fehlender Investitionsmittel und eingebrochener Aufkaufpreise. Heute existiert noch ein einziger Betrieb, die Uckermark Tabak GmbH Vierraden. Sie baut den Tabak auf etwa 50 Hektar an und ernährt damit zwei Personen plus 40 Erntehelfer, In den 30er Jahren hatte die Tabakgenossenschaft Vierraden immerhin stolze 1000 Mitglieder. Aktuell sind die wichtigsten Tabakanbaugebiete in Deutschland Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und in Bayern, erst auf Platz vier folgt Brandenburg. Der Eigentümer der Uckermark Tabak GmbH, Ralf Mohlzahn, warnt allerdings aus Kettenraucher-Erfahrung vor dem Genuss seines eigenen Tabaks, Aroma hat er nicht, er dient nur als Füllstoff für Zigaretten.
Doch zurück zum Roman von Eva-Martina Weyer. Die Geschichte beginnt bei Elfie und Georg, Tabakbauern in den besten Jahren, die „mit ihrer Hände Arbeit für die Dinge des Lebens sorgen“ und „mit sich und den Jahreszeiten im Reinen“ sind. Da Georg wie öfter ein starker Rückenschmerz plagt, ein ihn immer wieder heimsuchendes Andenken an seine bittere Zeit als Soldat im zweiten Weltkrieg, muss Elfie sich ans Steuer von Trabant und Hänger setzen und die Tabakernte zum Verkauf in die nahegelegene Stadt Mühlraden fahren. Der Aufkäufer läßt sie aber, so erfahren wir am Schluss des Buches, mit der Bemerkung „schlechte Ware, unverkäuflich“ mit ihrer Ware einfach stehen. Das ist eine Lüge, das weiss sie, aber sie ist eine Frau und selbst wenn sie „ihren Mann steht“, wird vom arroganten Aufkäufer nicht ernst genommen.
Zwischen diesen beiden Episoden spannt sich ein ganzes Jahrhundert in der Rückschau. Eva-Martina Weiher erzählt die Geschichte von Wilmine, die in eine Hugenottische Familie eingeheiratet hatte, und ihrem Mann Kurt und von ihren zahlreichen Nachkommen, Adoptivkindern, Angeheirateten, Nachbarn, Freunden und Feinden. Sie alle leben mit und vom Tabak, der die jahreszeitlichen Arbeiten auf den Feldern, die großen Feste im Dorf und die kleinen in den Familien, die Alltagsgespräche, ja selbst die Bekleidung der Bewohner und die Heiraten beeinflusst und bestimmt. „In den Wiesen am Fluss hatten die Menschen dem sumpfigen Gelände ihre Felder abgerungen. In schmaleln Streifen erstreckten sie sich hinter Wohnhäusern, Gärten und Scheunen … Seit Generationen hatte sich das Wissen über den Tabakanbau bei den Bewonern an oder und Welse verfestigt. Zuhause war der Tabak hier nicht. Aber mit Fleiß brachten die Menschen ihn dazu, dass er sich heimisch vorkam.“
Die Hugenotten brachten aber nicht nur den Tabak, sondern auch ihre Sprache mit. Aus den Bauern wurden mit den Jahren „Planteure“ und in den Häusern standen anstelle der Sofas plötzlich Chaiselongues, von den Kindern Schüsselong genannt. Viele französische Familiennamen haben sich bis in die Gegenwart erhalten. So heisst die Buchfigur Elfie, die nach dem frühen Tod ihrer Eltern von Tante und Onkel adoptiert wurde, jetzt mit Nachnamen Menanteau. Dorfpastor Hans Hurtienne fühlte sich gleichermaßen für die deutsch- wie französischstämmigen Dorfbewohner zuständig.
Wörter hielten Einzug, die tabakfreie Regionen weniger kannten. Grumpen oder Sandblätter nannten die „Planteure“ die untersten, zuerst reifenden Blätter einer Tabakpflanze. Die Menschen der Region lernten zudem spezielle Techniken und Handfertigkeiten, die es nur im Tabakanbau gab. „Jede Pflanze hatte nur eine einzige Dolde. Daran hingen dicht gedrängt die Blüten. Es gab einen besonderen Griff mit Daumen und Zeigefinger, und schon war die Pflanze geköpft. Nun konnte der Tabak seine Kraft in die Blätter schicken, und darauf kam es an. Die Bauern wollten große Blätter haben, am liebsten so groß wie ein Backblech und mit einer schönen Rippe in der Mitte.“ Diese zartrosa Blüten „sonderten eine feine, kaum wahrnehmbare Ausdünstung ab, das Tabakpech“. Jeden der im Tabak Arbeitenden erkannte man also sofort an seinen pechschwarz gefärbten Händen, nur mit Mühe liess sich dieses Pech wieder abschrubben. Das wiederum war Pech für die Jugendlichen, die auf Partnersuche waren und unschwer als Kinder der nicht unbedingt reichen Tabakbauern erkannt wurden. Diese Tabakpflanzenausdünstung klebte an den „Planteuren“ wie ihre mit den Tabakpflanzen verbundenen Schicksale.
Tabakblätter beim Trocknen. Foto: Rusty Watson
Der Tabak regelte auch sonst vieles im Alltag der Menschen, er brachte immer wiederkehrende Rituale mit sich. Waren die Blätter endlich geerntet, geblattet wie man sagte, so wurden sie noch am selben Tag in die Scheunen gebracht und auf langen Leinen dicht aufgefädelt, Wilmine, Elfie, Hedi, jede benutzte dabei ihre persönliche Nadel. Von ihr und der Geschicklichkeit der Frauen hing es ab, wie lange dieses „Upträken“ dauerte. Anschliessend wurden die langen Reihen zum Trocknen in den Hang gebracht, das heißt, im Scheunenboden aufgehangen. Nach getaner Arbeit gab es die Tabaksköst, frisch gebackene, duftende Streuselkuchen, dazu Kaffee, Likör oder Branntwein. Besonders beeindruckend für den Leser des Buches ist die Solidarität unter den Planteursfamilien. Denn jede Familie feiert an einem anderen Tag dieses Fest, damit letztenendes alle Erntehelfer dabei sein können. Mitten unter ihnen die Planteursfamilie Manteneau, die Sägewerksfamilie Müller und die Wirtshausbesitzerfamilie Hahn, wie die Buchfamilien heißen. Das zum Abschluss jeder Ernte von Bauern gefeierte übliche Erntefest hat bei den Planteuren einen besonderen Namen, es heißt natürlich hier „Tabakblütenfest“.
Für das soziale Miteinander bezeichnend ist auch, dass hier niemand jemals in den Ortschaften sein Haus abschloss. „Jeder respektierte die Grenze zu fremdem Eigentum. Sie war unsichtbar und trotzdem für jeden auszumachen. Schon Kinder erspürten diese Grenzen.“
Das Tabakjahr endete schliesslich nach Monaten harter Arbeit mit dem zentralen Ankauf des getrockneten Tabaks in der Stadt Mühlraden. Von dem Geld wurden nicht nur lebensmittel, sondern auch drongend benötigte neue Kleidung, Werkzeuge, gerätschaften und vieles mehr angeschafft. In Krisenzeiten wie im zweiten Weltkrieg wurde Tabak zu einer eigenen Währung, um gute Tauschgeschäfte zu machen. Den Zigaretten und Zigarren gingen immer, ob über den Ladentisch oder auf dem Schwarzmarkt.
In vielen Szenen beschreibt Eva-Martina Weiher aber nicht nur die harte Arbeit, sondern sie schildert auch die besondere emotionale Verbindung zwischen den Menschen und der sie umgebenden Natur, zu denen ebenso die Tabakpflanzen gehörten. Wenn Karl Manteneau die Tabakpflanzen auf dem Feld inspizieren ging und Blattgröße, Bodenfeuchte und Unkrautwuchs kontrollierte, so war er nicht nur ein Mann, der der alten bäuerlichen Weisheit, dass ein Tabakfeld jeden Tag seinen Herren sehen will, folgte. In diesen stillen Momenten wurde Karl zum Lebensphilosoph: „Für ihn war es ein wundersamer Kreislauf, den Gott den Planteuren zugedacht hatte. Leben wird zu Erde, und Erde wieder zu Leben.“
Doch dann bricht wie aus dem Nichts über die beschauliche Landschaft links der Oder der Zweite Weltkrieg herein, er „stand eines Tages mitten auf den Tabakfeldern“. Alle kriegstauglichen Männer, unter ihnen Karl Mantenaeu, Georg Müller (der spätere Mann von Adoptivtochter Elfie, Franz Bürger (der Nachbar und Mann von Hedwig Hedi Bürger, Wilmines Freundin), Lahrer Baumert und selbst Pastor Hurtienne werden eingezogen. Die Frauen bleiben mit Kindern, Alltag und den Feldern allein zurück. Die „Briefe in der Schürzentasche“ der Frauen häufen sich. Erst sind es die Einberufungsbefehle (die die Frauen bis zum Abend, bis die Männer nach getaner Arbeit vom Feld kommen, vor ihnen zurückhalten), dann werden es zunehmend Todesnachrichten.
Nach dem Krieg kehren die Männer traumatisiert zurück. Die Tabakpflanzen haben den Krieg dagegen nahezu unbeschadet überstanden. „Der Aufkauf florierte trotz des Krieges. Tabak galt als kampfentscheidend. An einer brennenden Zigarette konnte sich nachts drei Soldaten aufwärmen.“
Doch mit dem Ende der Kämpfe war der Krieg nicht zu ende. Viel später, beim Einpflanzen der kleinen Tabaksetzlinge geschieht das Unglück. Lothar, der Mann von Wilmines und Karls ältester Tochter Renate, stirbt, als er eine im Boden liegende Bombe berührt, die daraufhin explodiert. Renate verliert nicht nur ihn, sondern auch sein noch ungeborenes Kind.
Mit der neuen Zeit, dem „sozialistischen Frühling“, wurden die Äcker der Planteure zu großen Schlägen zusammengelegt und Genossenschaften gegründet. Der erste Fernsehapparat kommt ins Dorf Gottesgabe und der erste Supermarkt macht in der Stadt Mühlraden auf. Nach der Wende schließlich wurde die Genossenschaft, für die Elfies Tochter Ella im Büro arbeitete, aufgelöst, ein neuer Betrieb gegründet, ein Chef aus dem Westen eingesetzt und Ella war „draußen, topfit und überflüssig“. Elfies Bruder Heinz, Heini genannt, hatte vorher schon vorgesorgt, neben dem Tabakanbau hatte er sich ein zweites Standbein geschaffen und auf Milchvieh umgestellt. Aus Wohnhäusern wurden jetzt immer öfter Ferienwohnungen für die in die schöne Natur anreisenden Städter. Für die Planteure gab es ein neues Gesetz, erlassen von Leuten in Berlin, „die dem Tabak so nahe waren wie der Fluss Welse der Wolga“. Ab sofort durften die Planteure nicht mehr ihre gewohnten, sondern nur noch die Tabaksorte „Virgin“ anbauen, mit der sie absolut keine Erfahrungen hatten. Als Elfie mit dem Auto voller unverkaufter Tabakblätter auf den Hof zurückrollte, beschlossen sie und Georg: „Wir hören auf!“.
„Tabakpech von Eva-Martina Weyer ist ein wunderbar anschaulicher Roman, der von einer fast vergessene Kulturtradition in Deutschland erzählt. Man wird als Leser nicht nur gut unterhalten, sondern gleichzeitig auch en passant mit Wissen belohnt.
Eva-Martina Weyer: Tabakpech
Roman, mit farbigen Illustrationen von MI
STROUX edition, München
280 Seiten, Hardcover
ISBN 978-3-948065-38-6
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