Plautilla Bricci ist bereits 47 Jahre alt, als sie 1663 aus einer Kutsche steigt, um an der Zeremonie der Grundsteinlegung für die Villa Benedetti teilzunehmen. Für sie ist es ein großer Moment. In Rom ist sie als Malerin bekannt. Doch hier tritt sie zum ersten Mal öffentlich als Architektin in Erscheinung.
Der Abt Elpidio Benedetti (1610–1690) hat sie mit dem Entwurf und Bau der Villa beauftragt, die auf dem Monte Giano über Rom thronen wird, ein außergewöhnlich hoher, schmaler Palazzo. Auf der Versammlung von Priestern, Arbeitern und dem französischen Botschafter mit seinem Gefolge ahnt niemand, dass den Bauherrn und die Architektin schon seit Jahrzehnten eine heimliche Liebe verbindet.
Der Glaubenssatz, dass Frauen Kinder gebären, aber keine Häuser bauen können, gilt im Rom des 17. Jahrhunderts offensichtlich als unverrückbar. Die Urheberschaft für die Villa Benedetti wird schon bald Plautillas Bruder Basilio zugeschrieben. Mittlerweile steht die Villa nicht mehr und Plautilla Bricci (1616 – 1705) wurde vergessen, obwohl einige ihrer Werke bis heute erhalten sind, beispielsweise in der Kirche San Luigi die Francesi nahe der Piazza Navona. Hier hat sie die dritte Seitenkapelle umgebaut und gestaltet. Doch die Touristen kommen nur in die Kirche, um die drei Gemälde von Michelangelo Merisi Caravaggio (1571–1610) zu besichtigen.
Vor knapp zwanzig Jahren fand die Schriftstellerin Melania G. Mazzucco zufällig bei einer Archiv-Recherche einen ersten Hinweis auf die Architektin Plautilla Bricci (1616 - 1705). Der Anwalt Carlo Cartari hatte in seinem Tagebuch notiert, welche Verse er in die Bleiplatte auf dem Grundstein für die Villa Benedetti eingravieren ließ und sie dabei genannt. Seitdem fand die Schriftstellerin bei den Forschungen zu ihren verschiedenen historischen Romanen immer wieder Hinweise auf Leben und Werk von Plautilla Bricci: in Chroniken, Testamenten, kirchlichen Totenbüchern, Bildkatalogen und Buchhaltungen von Sammlern, Sitzungsprotokollen der Akademien der schönen Künste und Literatur. Aus diesen Bruchstücken hat Mazzucco schließlich das Leben der Künstlerin rekonstruiert und ein prall gefülltes Panorama des barocken Rom entworfen – leidenschaftlich und sehr spannend. Schon 2020 erhielt sie für den Roman „L’ Architettrice“ den Premio Stresa. Dieses Jahr ist die deutsche Übersetzung mit dem Titel „Die Villa der Architektin“ im Folio Verlag erschienen.
Buch-Cover der italienischen Originalausgabe und rechts der deutschen Ausgabe.
Mazzucco hat diesen Roman in der Ichform geschrieben, aus der erinnernden Perspektive der alten Plautilla Bricci, die ihr Leben Revue passieren lässt. Alle Figuren, die auftreten, sind historisch belegt, die Namen, Daten, Fakten und Orte stimmen. Mazzucco fügt sie zu einer fiktionalen Geschichte zusammen oder besser: sie verwebt sie zu einer Abfolge von Szenen und Situationen, die das Beziehungsgeflecht deutlich macht, in dem Plautilla sich bewegt und ihre Position sucht. Schauplatz ist die Stadt Rom, das Zentrum des Kirchenstaats, beherrscht vom Papst, dem Klerus und der Aristokratie. Kunst und Kultur florieren, ganz besonders unter Papst Urban VIII., der von 1623 bis 1644 regiert. In Rom drängeln sich Künstler und ehrgeizige junge Männer, die sich um die Dienste bei einer Herrschaft bemühen und sich davon Karriere, Geld und Ruhm versprechen. Das gesellschaftliche Leben ist streng hierarchisch organisiert, voller sittenstrenger Reglements, dabei sinnenfroh, intrigant und scheinheilig.
Plautilla wächst in einer Künstlerfamilie in den einfachen Vierteln Roms auf. Von ihren vielen Geschwistern überleben nur ihre ältere Schwester Albina und der kleine Basilio. Seit ihrer Kindheit hat Plautilla einen Makel: ganz plötzlich schläft sie ein, rutscht vom Stuhl, fällt in Ohnmacht. Das behindert ihre Heiratsaussichten, denn so etwas gilt als Zauber oder eine Strafe Gottes. Als einziges Kind unter den drei Geschwistern interessiert sich Plautilla für das Atelier des Vaters Giovanni Briccci und lässt sich von ihm unterrichten. Der Vater ist eine schillernde Figur, ein Maler, Dichter, Autodidakt und Privatgelehrter, freiheitsliebend, ein gescheitertes Genie. Niemals käme es ihm in den Sinn, sich einem Herrn anzudienen. Lieber karikiert er unter Pseudonym in seinen zahlreichen Komödien die gesellschaftliche Bigotterie. Händler verkaufen seine Texte, auf den römischen Straßen und Plätzen findet er sein Publikum.
Zwischen Vater und Tochter entwickelt sich bis zu Giovannis Tod 1645 eine enge, intensive Beziehung. Er vermittelt ihr eine breite Bildung, formt sie nach seinem Bild. Das ist für Plautilla Fluch und Segen zugleich. Die Mathematik wird ihr für die Architektur nützlich sein. Mit dem Malen kann sie Mutter, Schwester und Nichten mit ernähren. Mit 38 Jahren wird sie am 1. Juni 1654 als Malerin mit tadellosem Lebenswandel ehrenvoll in die Accademia di San Luca aufgenommen. Eine Heirat kommt für sie nie in Frage, sie hat keine Mitgift und der Mann, den sie liebt, ist ein Gefangener seines Ehrgeizes und der gesellschaftlichen Hierarchien.
Die Liebe zwischen dem Abt Elpidio Benedetti und der Malerin Plautilla Bricci findet im Rom des 17. Jahrhunderts keine Erfüllung im Sinne eines gemeinsamen Lebens. Aber sie bietet Plautilla die Möglichkeit, die eng gesteckten Grenzen ihrer weiblichen Existenz zu überschreiten und ihren Traum von der Architektur zu erfüllen. Elpidio wird nicht ihr Ehemann, sondern ihr Bauherr.
Vom ersten Moment an treffen sich die beiden außerhalb jeder Regel und Schicklichkeit, messen ihre intellektuellen Kräfte in einem spöttischen Geplänkel, sprechen dabei jedoch ehrlich ihre Gedanken aus, entziehen sich dem herrschenden Diktat der Verstellung. Die erste Berührung passiert unfreiwillig auf einer vollbesetzten Fähre, die den Tiber quert, dabei durch eine Kollision von ihrem Kurs weggerissen wird und auf dem Fluss wegtreibt. Es sind immer Ausnahmesituationen, in denen sie sich begegnen, z.B. heimliche Treffen in einem verlassenen Weinkeller oder in einer vergessenen Kutsche irgendwo in einer kleinen Gasse.
Der Jurist Elpidio Benedetti steht im Dienst des Kardinals Giulio Mazzarino, bekannt geworden als Jules Mazarin, einem klugen Machtstrategen, schön, charmant, manipulativ. Elpidio folgt ihm nach Frankreich, wo sein Dienstherr am Hof zum Minister aufsteigt. Das bedeutet, dass Elpidio und Plautilla sich manchmal für Jahre nicht sehen. In diplomatischer Mission für den Kardinal kehrt er immer wieder nach Rom zurück. Er ist an seinen Herrn vollständig gebunden, beklagt seine Unfreiheit, leidet unter seiner Abhängigkeit und empfindet dennoch eine Art Liebe für Mazarin.
Plautilla ist eingebunden in den Existenzkampf ihrer Familie, verdient mit Malaufträgen zunehmend besser, sodass die Familie sich gemeinsam einen bescheidenen Wohlstand erarbeiten kann. Sie beobachtet, wie junge Mütter im Kindbett sterben, Frauen sich in zahllosen Schwangerschaften verbrauchen und nur wenige ihrer Kinder das Erwachsenenalter erreichen. Sie selbst gilt als Jungfrau und wirkt auf ihre Umgebung auffallend alterslos. In Ohnmacht fällt sie schon lange nicht mehr.
Es ist wieder eine Ausnahmesituation, eine Katastrophe, die das Paar zusammenführt und Plautilla die Freiheit gibt, Architektin zu werden. Im Frühjahr 1656 bricht in Rom die Pest aus. Sofort befiehlt Papst Alexander VII. strenge Hygienevorschriften. Das öffentliche Leben erstirbt, die Menschen verschanzen sich zuhause. Elpidio hat sich kurz zuvor einen kleinen Palast in der Stadt gekauft und beauftragt - zum Unwillen und Erstaunen der Baumeister und Arbeiter - seine Hausmalerin Plautilla Bricci mit der Leitung der Renovierung. Er selbst reist nach Paris. Eines Abends kann Plautilla von der Baustelle nicht nach Hause gehen, weil der Wohnblock ihrer Familie plötzlich unter Quarantäne steht. Sie muss nun in Elpidios Palast wohnen. Nach vielen Wochen kehrt Elpidio trotz Pest nach Rom zurück. Das Paar erlebt inmitten von Angst und Sterben für einige Monate ein kurzes, von niemanden bemerktes Glück. Im August 1657 wird die Pest offiziell als besiegt erklärt.
Was diesen Roman so fesselnd macht, ist die Vielfalt der Figuren und ihre jeweils sehr präzise, feinsinne Charakterisierung. Wir blicken durch die Brille von Plautilla, doch letztlich sind es die Augen der Autorin, mit der wir sehen. Melania G. Mazzucco beweist neben ihrem detailreichen historischen Wissen ein hohes Einfühlungsvermögen in Menschen und Situationen der Vergangenheit, die manchmal sehr gegenwärtig anmutet, vielleicht weil es eine Stadtgesellschaft des 17. Jahrhunderts ist, die die Autorin beschreibt. Darin entsteht ein Kunstmarkt, der freien Künstlern sozialen Aufstieg, Ruhm und Reichtum verspricht. Die Naturwissenschaften beginnen sich zu entwickeln, das Denken ändert sich, die Kirche muss um ihre geistige Vormachtstellung fürchten. Galileo Galilei ist Zeitgenosse von Plautilla Bricci, ebenso Berühmtheiten wie der Bildhauer Gian Lorenzo Bernini und der Architekt Francesco Borromini, die Künstlerin bewundert beide. Sie spürt, wie sich neue Horizonte öffnen, ahnt ein Freiheitsversprechen, doch sie erlebt schmerzhaft, wie Frauen davon ausgeschlossen sind. Nur ihr Verzicht auf ein konventionelles Frauenleben mit eigener Familie erlaubt es ihr, Widerstände zu überwinden, als Malerin erfolgreich zu sein und zu bauen. Das Glück und die Trauer darüber hat Mazzucco in ihrem Roman subtil und meisterhaft zum Ausdruck gebracht.
Melania G. Mazzucco: Die Villa der Architektin
Übersetzung aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl
Roman, 464 Seiten,
Folio Verlag Wien/Bozen 2024,
ISBN 978-3-85256-901-7
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