Hat Balzac 1833 – also vor der Zeit seiner großen Erfolge, als er noch vorwiegend journalistisch arbeitete – tatsächlich eine „Theorie des Gehens“ vorgelegt?
Nein, seine „Theorie des Gehens“, die er gleich im ersten Satz vollmundig „die allerneueste Wissenschaft“ nennt, ist überhaupt keine Abhandlung, sondern doch wohl eher eine Satire. Aber was für eine!
An dem feurigen Stil wie an dem Ideenreichtum dieser kleinen Schrift ist bereits das Genie zu erkennen, als das er schon bald hervortreten sollte; und Balzacs eigentliches Ziel – als Romanautor das Porträt einer ganzen Gesellschaft zu schreiben – ist deutlich zu erkennen. Immer wieder setzt er neu an, um verschiedene Menschentypen anhand ihrer Gangart vorzustellen.
Es ist eine sehr subjektive Schrift geworden, denn der Beobachter tritt ebenso deutlich hervor wie die Gegenstände seines Interesses. Dieser Beobachter, den wir uns manchmal als herumschlendernden Flaneur, mal als aus dem Fenster spähenden Menschen vorstellen müssen, ist vor allem ein sehr vielseitig belesener Mann, der eine Reihe überraschender Lesefrüchte erkennen lässt. Wer hätte vermutet, dass Lawrence Sternes wunderbarer Roman „Tristram Shandy“ (1759-1767) zu den Vorbildern Balzacs gehört? Tatsächlich prägt Sternes assoziative („abschweifende“) Art des Erzählens die kleine Schrift Balzacs. Zusätzlich dürfte Sternes Beachtung der Körperhaltung – der Engländer stellt die Gesten seiner Figuren während ihrer langen Unterhaltungen immer wieder detailliert und lebhaft vor die Augen des Lesers – Vorbild für Balzac gewesen sein, als es diesem um die Bedeutung von Bewegung ging.
Ein anderer Autor, an den wohl die wenigsten gedacht hätten, ist Johann Heinrich Lavater (1741-1801), der Initiator der Physiognomik, also einer Wissenschaft, die aus den unveränderlichen Kennzeichen des Gesichts auf Charakterzüge schließen zu dürfen glaubte. Der Irrtum Lavaters bestand darin, den Ausdruck des Gesichts nicht auf Angewohnheiten und Bewegungen, sondern auf die unbeweglichen Teile des Menschen zurückzuführen – das ist ein Fehler, der sich bei Balzac nicht findet, denn er sieht immer den Zusammenhang zwischen den Lebensumständen eines Menschen, seinen Bewegungen und dem Ausdruck seines Charakters. Balzac selbst weist auf die Bedeutung Lavaters für seine kleine Schrift hin: „In der Tat hat vor mir allerdings Lavater gesagt, alles im Menschen sei homogen und darum müsse sein Gang zumindest ebenso beredt sein wie seine Physiognomie; der Gang ist die Physiognomie des Körpers.“
Stich von Henry William Bunbury. Veröffentlicht am 26. Januar 1773 von J. Bretherton, London. Teil einer Serie von Illustrationen zu Sternes Tristram Shandy. Quelle: Library of Congress's Prints and Photographs division
under the digital ID cph.3c02365
Hier ein Beispiel seiner Beschreibungen: „Im Gang jener Männer, die durch die ihnen auferlegte Sklavenarbeit dazu verdammt sind, unablässig ein und dieselbe Bewegung zu wiederholen, ist das lokomotorische Prinzip stets sehr stark ausgeprägt; es hat seinen Sitz im Brustkorb, in den Hüften oder in den Schultern. Oft wird dabei auch nur eine Seite des Körpers belastet. So halten Stubengelehrte üblicherweise den Kopf gesenkt.“ Im Folgenden kommt Balzac auf die stolze Haltung des Kopfes bei Beaumarchais und Mirabeau zu sprechen, und es scheint zunächst, dass er nur geistreich dahin plaudert. Aber tatsächlich ist der Text genau kalkuliert und beruhen seine Beschreibungen auf den sorgfältigen Beobachtungen eines sehr wachen Menschen, der deutlich mehr gesehen hat als Lavater und viele andere. Dass er lustig schreiben kann, ist ein sehr erfreuliches Beiwerk. Er schildert zum Beispiel das typische Torkeln von Seeleuten (wir hätten vielleicht gesagt: ihren wiegenden Gang, aber an diese Beschreibung hätte sich kein Witz anschließen können): Seeleute können „auch an Land nicht mehr ordentlich gehen. Sie lavieren immer hin und her, deshalb fängt man jetzt an, Diplomaten aus ihnen zu machen.“
Es dürfte nur schwer möglich sein, für dieses Thema und für dieses Buch einen kompetenteren Übersetzer und vor allem Kommentator zu finden, denn der Kulturhistoriker Andreas Mayer forscht seit Jahren zum Thema Gehen. Bereits 2013 erschien seine Studie über die „Wissenschaft vom Gehen“, in der er die einschlägigen Arbeiten aus dem 18. und 19. Jahrhundert vorstellt. Das Schwergewicht dieser Untersuchung liegt auf dem 19. Jahrhundert und auf Schriften, in denen die Beobachtung und Beschreibung des rein physischen Vorgangs des Gehens (seine Mechanik) erstmals thematisiert wurde. Vor der Erfindung von Fotografie und Film, in denen man die verschiedenen Phasen des Gehens für sich betrachten kann, stieß das auf beträchtliche Schwierigkeiten.
Auch in der früheren Arbeit geht Mayer auf Balzacs „Theorie des Gehens“ ein, die bis heute in Deutschland in keine der gängigen Gesamtausgaben aufgenommen wurde und deshalb entsprechend unbekannt blieb. In der Deutung Mayers (so sein Urteil in dem früheren Buch) zielt Balzacs Buch auf „das Drama des Beobachters selbst, der sich in der ‚Wissenschaft vom Menschen’ fortwährend seines Gegenstandes zu vergewissern sucht.“
Es ist auffallend, wie sehr Balzacs Beschreibungen an Karikaturen erinnern. Besonders ähneln sie den Zeichnungen Grandvilles (1803-1847), der für seine Mischfiguren berühmt war, hybride Wesen, zusammengesetzt aus Menschen-, Tier- oder Pflanzenteilen. Kann man sich die folgende Beschreibung Balzacs nicht sehr gut als eine Zeichnung Grandvilles vorstellen?
„Eine hübsche Frau, die der allzu sehr hervortretenden Vorderschließe ihres Korsetts nicht traute oder sich durch irgendetwas anderes beeinträchtigt fühlte, hatte sich in eine Art Venus Kallipygos verwandelt [in die Venus mit dem schönen Hintern], und sie schritt wie ein Perlhuhn einher, den Hals vorgestreckt, mit eingezogener Büste, und streckte die Kehrseite jener Körperpartie heraus, auf die das Korsett drückte…“ Der Autor habe sich, so die Fortsetzung dieser Beschreibung, mit verschiedenen Damen über die weibliche Art des Gehens verständigt und im Anschluss folgenden Aphorismus verfasst: „Beim Gehen darf eine Frau alles zeigen, aber nichts sehen lassen.“ Und dann geht es gut gelaunt weiter, wenn der Autor über den Lendenschurz sinniert, in dem keine Liebe wohne, und die Vermutung äußert, „das Feigenblatt unserer Mutter Eva sei ein Kaschmirkleid gewesen.“
Die vielen zwar nur kleinen, aber klug ausgewählten Illustrationen ergänzen ebenso wie der ausführliche und gelehrte Kommentar und das lange und instruktive Nachwort des Übersetzers die Übersetzung. Ein großartiges Buch!
Honoré de Balzac: Theorie des Gehens
Herausgegeben, aus dem Französischen und mit einem Nachwort versehen von Andreas Mayer (Hg.). Friedenauer Presse 2022
249 Seiten, Broschur mit Schutzumschlag
ISBN 978-3751806220
Weitere Informationen (Verlagsseite)
Andreas Mayer: Wissenschaft vom Gehen.
S. Fischer Verlag 2013
320 Seiten
ISBN 9783100486042
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