Literatur
Deborah Feldman – Befreiung von der „Falle der Vergangenheit“

Wer sich in Brooklyn in jene Gegend von Williamsburg verirrt, in der schwarz gekleidete Männer mit Schläfenlocken das Bild prägen, fühlt sich in ein osteuropäisches Schtetl zurückversetzt.
Die Gemeinde der Satmarer zählt zu den Hardlinern unter den ultraorthodoxen Gruppierungen der jüdischen Welt. Wer sich von ihnen lossagt, gilt als Verräter an Volk und Glauben. Bekommt man mit, in welcher Weise die Aussteigerin Deborah Feldman angegriffen und diffamiert wurde, könnte man meinen, ihr Debüt „Unorthodox“ sei eine gnadenlose Abrechnung. Aber ihre Schilderung einer radikalen Loslösung, die 2012 in den USA ein Megaseller war und es 2017 in Deutschland als Taschenbuch auf die Bestsellerliste Sachbuch des SPIEGEL gebracht hat, kommt ohne Denunziation aus.

altEinfühlsam und detailreich erzählt Feldman über ihre von strengen Dogmen geregelte Kindheit, die Auflehnung eines neugierigen Mädchens gegen die völlige Abschottung von allem Weltlichen. Was war ihr wichtigstes Anliegen als Autorin? „Die entscheidende Frage lautete: Wie bringe ich meine Lebensgeschichte so auf Papier, dass Menschen, denen diese Welt ganz fremd ist, sie trotzdem unmittelbar verstehen können. Ich habe mich dafür entschieden, aus der damaligen Ichperspektive zu erzählen, damit der Leser die Gelegenheit hat, mit mir zu wachsen und die Bedeutung neuer Entwicklungsschritte einzuschätzen.“ Deborah Feldman berichtet im Gespräch mit dem Autor von der großen Selbstüberwindung, die es brauchte, ihren Weg zu gehen: „Ich hatte als Kind den Instinkt, ständig alles in Frage zu stellen. Und ich habe mich deshalb für schuldig gehalten. Von außen wird das ständig bestätigt, und es war sehr schwierig, mich von dem Glauben zu lösen, dass ich im Inneren schon verdammt war.“

Besonders fremd wirkt ein radikaler Grundgedanke der Satmarer, auf den nur verfallen konnte, wer angesichts des Holocausts sonst an seinem Glauben hätte (ver-)zweifeln müssen. Die Shoah wird als Strafe für die Abkehr assimilierter Juden von einem orthodoxen Leben verstanden, die ein weiteres Mal droht, falls man nicht das ganze Leben an strengen Ge- und Verboten ausrichtet und alles Leid als Chance betrachtet, für eine absurde Schuld zu büßen: dass man Auschwitz oder Theresienstadt überlebt hat.

altÜber viele Jahre ihrer Kindheit und Jugend hinweg ist es Deborah Feldman gelungen, sich trotz gängelnder Kontrolle und einer verordneten Ehe aus der fundamentalistischen Gemeinde zu lösen, Schreibkurse an einem College zu besuchen und als begabte Autorin eines feministischen Blogs von einer Literaturagentin entdeckt zu werden. Bestsellerautorin mit 26, das klingt nach einer Erfolgsgeschichte. Aber ihr Leben war weiter von Entfremdung bestimmt, sei es als Prominente, die von den Medien im Sinne massentauglicher Klischees definiert wurde, sei es als ihrer religiösen Vergangenheit Entwurzelte, die sich im Ghetto reicher, säkularer Juden der Upper East Side fremd fühlt und Fragen nicht entkommt, über die sie längst erhaben zu sein schien: „Wie genau ist mir das Jüdisch-Sein eingeprägt?“ Eingeprägt ausgerechnet im Sinne einer bei allem aufklärerischen Impetus rassistischen Idee: „Wenn mein Blut jüdisch ist, ist es meine Seele auch. Was genau ist es, das ich geerbt habe?“ Nach ihrem Befreiungsakt steht die Aussteigerin vor dem Nichts und muss erkennen, dass man Wurzeln nicht einfach abhacken kann: „Wenn ich nicht jüdisch war, existierte ich nicht.“

altEntfremdung und Ringen mit vermeintlich Überwundenem wurden zum Ausgangspunkt von Deborah Feldmans zweitem Buch. „Exodus“ ist 2015 in den USA erschienen und nie auf den deutschen Markt gekommen. Gewissermaßen ersetzt wurde es hierzulande durch das 2017 erschienene „Überbitten“, das in langen Passagen mit dem Zweitwerk auf dem amerikanischen Markt übereinstimmt. Aber beim Verfassen von „Exodus“ hatte sich die Erfolgsautorin nach eigener Aussage unter Druck setzen lassen. Resultat war eine Umgewichtung, mit der sie trotz euphorischer Danksagungen an den Verlag nicht glücklich werden sollte. Ihre Europareise auf den Spuren jüdischer Identität wurde in den Hintergrund gedrängt durch intime Schilderungen der Suche nach einem von traumatisierenden Zwängen befreiten Liebesleben. Wenn es auch in „Überbitten“ immer wieder um Schwierigkeiten nicht nur im erotischen Umgang mit Männern wie dem Nazi-Enkel Markus geht, steht dies nun in engem Zusammenhang mit dem Grundthema ihres siebenjährigen Selbstfindungstrips. Immer von neuem ringt die Autorin mit einem psychologisch nachvollziehbaren „Überlebensschuldbewusstsein“, das sie von ihrer geliebten Großmutter geerbt zu haben meint, obwohl ihr Verstand ein solches „Die Toten leben durch mich“ zugleich als Dogma ihrer Erziehung erkennt.

Die Autorin will sich befreien von der „Falle der Vergangenheit“ und sucht doch gerade dort immer wieder – insbesondere auf den osteuropäischen Lebensspuren der Großmutter – ihre Identität. Ein ähnliches Wechselspiel ergibt sich konsequent bei Feldmans Schilderung von europäischen Städten wie Paris und insbesondere ihrem neuen Lebensmittelpunkt Berlin, das verklärt wird als geradezu paradiesisches Gegenbild zum „endlosen Wettkampf um Geld und Statussymbole“, eine „weit über ihrem eigenen Entwurf“ stehende Metropole des freien, philosemitischen Geistes, deren Bewohner „überall“ in Bücher vertieft sind. Solche Idealisierung kippt zwangsläufig um in ein umso bedrohlicheres Gegenbild vom Antisemitismus in einer Stadt, die nun mal kein Schmelztiegel wie New York ist, wobei der Antisemitismus andererseits auch wieder geächtet...

So glaubwürdig dieses Hin und Her zwischen von der Vergangenheit geprägtem und verzweifelt eine neue Heimat suchendem Blick wirkt, verlangt es dem Leser über etwas mehr als 700 Seiten hinweg Geduld ab beim Nachvollzug einer von immer neu in sich kreisenden Reflexionen überlagerten Darstellung, die oft das Schreiben als Selbsttherapie über das Bestreben stellt, Lesern den schwierigen Weg zu einer jüdischen Identität jenseits der Religion zu vermitteln.

So gesehen wäre es wünschenswert, wenn Deborah Feldman in München (das sich überraschend als Stadt ihrer Vorfahren mütterlicherseits erweist) nicht nur aus „Überbitten“ lesen würde. Aber erstens ist dies aus Sicht der Autorin das „tiefere“ Buch, zweitens aus Sicht des Buchmarktes das aktuellere – und drittens sind Lesungen in dieser Hinsicht selten unorthodox.

Deborah Feldmann: Unorthodox
Secession Verlag, 2016 / btb Random House (Taschenbuch)
ISBN 3905951800, 9783905951806
319 Seiten
Leseprobe


Deborah Feldmann: Überbitten
Secession Verlag, 2017
ISBN 978-3-906910-00-0, 978-3-906910-01-7 (e-book)
704 Seiten
Leseprobe
Bayerischer Rundfunk: Beitrag zu Überbitten in "nacht:sicht"

Deborah Feldmann: Exodus: A Memoir
Penguin, 2014
ISBN 1101603100, 9781101603109
304 Seiten
Leseprobe


Abbildungsnachweis:
Header: Die US-amerikanisch-deutsche Schriftstellerin Deborah Feldman auf dem forum:autoren des Literaturfests München 2017. Foto: Amrei Marie. Quelle Wikipedia Commons (CC)
Buchumschläge; Unorthodox (Deutsche Ausgabe, Secession Verlag, Random House Verlagsgruppe (Taschenbuch) und Exodus (US-Ausgabe, Penguin Verlag), Überbitten (Deutsche Ausgabe, Secession Verlag)

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