Literatur
Michael Göring: „Spiegelberg“

Es war einmal eine Bande von Freunden in einer trostlosen Nachkriegssiedlung im fiktiven Langenheim. Mit 60 Jahren kehren Martin und seine Freundin Nina für ein Begräbnis an den Ort ihrer Kindheit zurück – als einzige Überlebende der ehemals sieben „Furies“. Während sie über den Friedhof schlendern und die Gräber der Verstorbenen besuchen, kommen Martin und Nina die Erinnerungen hoch.

Michael Göring, Chef der Zeit-Stiftung, Professor und Autor in Hamburg, hat mit seinem dritten Roman „Spiegelberg“ die Trilogie um Kindheit und Jugend in der westfälischen Provinz beendet. Isabelle Hofmann sprach mit ihm über Kindheitstraumata, Gewalt, und die Schwierigkeit, sich von seiner Herkunft zu lösen.

Isabelle Hofmann (IH): „Roman einer Generation“, lautet der Untertitel Ihres neuen Buches „Spiegelberg“. Das ist ein hoher Anspruch. Welche gesellschaftlichen Phänomene der 50er-Jahre besitzen Ihrer Meinung nach Allgemeingültigkeit?

Michael Göring (MG): Die Erziehungsideale beispielsweise. Unsere Generation der Babyboomer wurde ja von Eltern erzogen, die im Dritten Reich aufgewachsen sind - mit den Nazi-Tugenden „zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl“. Diese Ideale haben sie nicht ohne weiteres ablegen können.

IH: Spiegelberg zeigt jedoch nur einen gesellschaftlichen Ausschnitt der 50er-Jahre. Es schildert das Leben in einer sozial schwachen Siedlung.

MG: Ja, Spiegelberg ist symptomatisch für all diese Siedlungen, in denen nach dem Krieg Flüchtlinge aus dem Osten gewohnt haben oder Leute, die ausgebombt wurden. Es geht mir um diejenigen, die nicht zu den Gewinnern dieser Zeit gehören. Warum wurden sie zu Verlierern?

IH: Ihre Antwort?

MG: Nur wer als Kind viel Liebe erfahren hat, Kraft und Stärke, der schafft es, sich zu lösen. Alle anderen tun sich schwer.

Michael Göring: „Spiegelberg“ CoverIH: Martin, der Protagonist des Romans, ist der einzige von sieben verschworenen Kinder-Freunden, der dieses kleinbürgerliche Milieu hinter sich lässt und es bis zum Professor schafft. Es fällt nicht schwer, Martin mit Ihnen zu identifizieren.

MG: Ich bin nicht Martin, aber er hat am meisten von mir mitbekommen. Ich bin bis zu meinem zwölften Lebensjahr in so einer Siedlung aufgewachsen. Wir zogen dann in die Innenstadt. Viele Geschichten habe ich später von Klassenkameraden gehört. Ich habe immer Lust gehabt, Geschichten zu bewahren und aufzuschreiben. Insofern gibt es auch einen historischen Anspruch. Denn solche Siedlungen gibt es in dieser Form nicht mehr.

IH: Wie muss man sich diese Siedlung vorstellen?

MG: Vom kleinen Beamten bis zum Hilfsarbeiter war alles da. Die Bessergestellten, die Angestellten und Beamten, zu der auch meine Familie gehörte, versuchten schnell wieder wegzukommen und bauten sich dann eigene kleine Häuschen. Später zogen dann die ersten Gastarbeiter in solche Siedlungen, die ersten Italiener, Spanier, Griechen und Jugoslawen.

IH: Die Erziehungsideale in den 50er-Jahren waren, wie Sie atmosphärisch sehr dicht schildern, von Zucht und Ordnung geprägt. Alle sieben Freunde erfahren auf unterschiedliche Art häusliche Gewalt. Sind Sie als Kind auch geschlagen worden?

MG: Ja, meine Eltern haben mich sehr streng erzogen. Ich bin mit Schlägen aufgewachsen. In meiner Kindheit war eine ordentliche Tracht Prügel für die Jungen noch an der Tagesordnung. Und auch die Mädchen wurden sehr streng erzogen. Außerdem waren sie vor sexuellen Übergriffen der Nachbarn nie sicher. Es war übrigens eine große Herausforderung, mich in zwei Frauenfiguren hineinzuversetzen – Nina und Ili. Nina hat so einen Vater mit „Stahlblick“. Sie schafft es dennoch, sich zu lösen. Ili hat es nicht vermocht.

IH: Kann man die Gewalt, die Sie im Elternhaus erfuhren, als Trauma bezeichnen?

MG: Das wäre zu viel gesagt. Aber meiner Mutter ist sehr oft die Hand ausgerutscht und das ist eine sehr demütigende Erfahrung.

IH: Diese Erfahrung machen wahrscheinlich auch heute noch unzählige Kinder – obwohl seit dem Jahr 2000 in Deutschland das Recht auf gewaltfreie Erziehung gesetzlich verankert ist.

MG: Das ist richtig. Aber insgesamt hat sich der Umgang mit Gewalt doch grundlegend geändert. Wir haben gelernt, dass Erziehung und Gewalt nicht zusammen passen und das haben wir tatsächlich der 68-Generation zu verdanken. Die hat einen ganz anderen Wind damals gebracht.

IH: Theorie und Praxis passen aber nicht immer unbedingt zusammen. Ist Ihnen als Vater zweier Töchter nie die „Hand ausgerutscht“?

MG: Nein. Das kann ich guten Gewissens sagen. Wir haben nicht alles laufen lassen und wir haben sie nicht antiautoritär erzogen. Dazu waren wir von den 68ern schon weit genug entfernt. Wir haben unseren Kindern ganz klar Grenzen gesetzt, aber niemals durch Gewalt.

IH: Ihre drei Romane, die Sie selbst einmal als Trilogie beschrieben haben, erzählen in Rückblenden – und immer geht es dabei um ein Geheimnis oder Tabu, etwas Nichtaufgearbeitetes. Mir scheint dieses jüngste Buch das persönlichste zu sein, mit dem größten Anteil authentischer Geschichten.

MG: Ja, vielleicht ist das so. Aber alle drei Bücher behandeln Themen, die mich immer sehr beschäftigt haben.

IH: Im ersten Buch geht es um den Kindesmissbrauch der katholischen Kirche. Im zweiten Buch um die Schuld der Nazi-Väter, Nun geht wieder es um das Erbe unserer Eltern – und um den mysteriösen frühen Tod eines Freundes. Auch eine Schuld oder ist Paul der Schatten von Martin?

MG: Die Interpretation als Schatten von Martin ist natürlich erlaubt, aber die Geschichte um Paul ist rein fiktiv. Sie ist auch angeregt durch die Hochwasser-Katastrophe in Lippstadt und Umgebung, die ich mit acht Jahren hautnah miterlebt habe und die ich damals als großes Abenteuer erlebte.

IH: Dennoch bleibt das Gefühl, dass Sie sich etwas von der Seele geschrieben haben.

MG: Stimmt. Der eigentliche Motor für dieses Buch ist die siebenjährige Maria, die im Laufe des Romans wieder versinkt, die es aber wirklich gegeben hat. Maria war die ärmste in der Klasse, hatte die Hemden ihres Bruders an und die Flicken sahen aus wie Wunden. Der Vater war arbeitslos, sehr arm und dieses Kind haben wir nur aus diesem Grund gemobbt und über den Schulhof gejagt. Das ist mir mit 15, 16 Jahren erstmals aufgestoßen.

IH: Maria haben Sie dieses Buch gewidmet – „mit der Bitte zu verzeihen“.

MG: Ja, eigentlich ist dieses Buch der ewige Stachel gewesen, mich bei Maria zu entschuldigen. Ich würde ihr das wahnsinnig gern persönlich sagen. Vielleicht finde ich sie ja noch.

IH: Martin hat ja auch schwer unter Hänseleien zu leiden. Sind diese Erfahrungen eigentlich authentisch?

MG: Nein. Ich war immer einer der größten in der Klasse und meistens auch Klassenbester. Dadurch hatte ich Respekt. Ich bin wirklich nie gemobbt worden. Ich schreibe eigentlich aus einer Position der Stärke heraus.

IH: Waren Sie auch in so einer Kinderbande wie den Furies Mitglied?

MG: Nein. Vielleicht habe ich es mir gewünscht. Ich war in den Jahren immer sehr für mich. Ich war der, der Geige spielte, der mit dem Fahrrad allein seine Touren machte, der aufs Latein-Gymnasium ging.

IH: Genau wie Martin. Als er für eine Beerdigung nach Langenheim zurückkehrt, steht er vor der Frage, ob er eine Professur in den USA annehmen soll oder nicht. Er entscheidet sich dagegen und es scheint, als ob auch dieser Mann letztendlich noch in der Kleinbürgerlichkeit gefangen ist. Empfinden Sie etwas Ähnliches? Haben Sie mitunter den Verdacht, dass Sie sich aufgrund Ihrer Herkunft nicht so verwirklichen konnten, wie Sie es sich wünschten?

MG: Ich würde mal sagen, ich bin einen Mittelweg gegangen. Ich habe nicht alles, was man sich vorstellen kann ausgelebt. Mein Werdegang zeigt mir doch, was für ein sicherheitsbezogener Mensch ich bin. Mir hat der Mut gefehlt, mich existenzialistisch in Gefahr zu begeben.

IH: Der Mut wozu?

MG: Vielleicht hätte ich mir unter anderen Umständen mehr im künstlerischen Bereich zugetraut. Mit der Musik, mit dem Gesang, den ich so liebe. Ich fand mich dann aber nicht gut genug. Erst, als alles in meinem Beruf, dem Stiftungswesen, soweit gediehen war, habe ich mir ein Herz gefasst. Ich glaube, diese drei Bücher sind mein Weg gewesen, sich mit mir selbst auseinanderzusetzen.

Michael Göring: Spiegelberg
Osburg Verlag

ISBN: 9783955101046

Michael Göring liest am Dienstag, den 17. Mai 2016, 19.30 Uhr im Literaturhaus Hamburg, Schwanenwik, und am Donnerstag, den 19.5. um 19 Uhr in der Sparkassenstiftung Schleswig-Holstein in Kiel.
Alle weiteren Lesungen und Infos unter www.michael-goering.com


Abbildungsnachweis:

Header: Portraitfoto: Isabelle Hofmann
Buch-Cover

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