Dirk C. Fleck: Feuer am Fuß
- Geschrieben von Dirk C. Fleck -
Cording war früh wach geworden. Er wartete auf der Terrasse, wo er in einer Stunde mit Steve verabredet war. Außer ihm war niemand da. Zwei Drosseln nutzten das Geschenk der Stille, um sich über eine Entfernung von fünfzig Metern ausgiebig miteinander zu unterhalten, von Baum zu Baum. Keine der beiden fiel der anderen ins Wort, aber die Antworten erfolgten prompt.
Es war eine höchst amüsante Unterhaltung, der er beiwohnen durfte, gelegentlich war er sogar versucht, den arabesken Tongemälden, die ihm links und rechts um die Ohren gezwitschert wurden, Beifall zu spenden. Er stellte sich vor, wie es wohl wäre, einem chinesischen Dialog zu lauschen, oder einem in Tagalog. Egal, irgendeiner der vielen Hundert Sprachen, die er nicht verstand. Wenn nur die Lautmalerei der menschlichen und tierischen Kommunikation übrig bliebe, wenn ein Außerirdischer sie miteinander vergleichen müsste, welche würde ihm wohl ausdrucksfähiger, sensibler, fröhlicher, intelligenter, herzlicher, vertrauenswürdiger und künstlerischer erscheinen? Man dürfte getrost seine große Liebe darauf verwetten, dass er sich für den Gesang der Vögel entscheiden würde. Was bildet der Mensch sich auf sein eintöniges Gemurmel eigentlich ein? Mit welchem Recht behaupten wir, dass unser vergleichsweise monotones Geschwätz ausdrucksfähiger und intelligenter sei, als die Sprache der Tiere, ja sogar der Pflanzen, die ganz ohne produzierten Lärm auskommen. Es gibt Millionen von Parallelwelten, die jede für sich mit einem filigranen Kommunikationssystem ausgestattet sind. Und wir Dumpfbacken haben nichts anderes zu tun, als sie von der Erde zu jagen. Cording erging es, wie einst dem Dichter Max Jacob, der seine Verzweiflung in folgende Worte kleidete: „Ich weine vor euch. Oh ja! Meine Augen werden sich mit Tränen füllen. Und wenn ihr vorbei gegangen seid, werden meine Tränen nicht aufhören, da ich weiß, zu welchen Schlünden ihr wandert!”
„Schon so früh auf, Monsieur?”
Es war der Kellner, der zum Glück keine Antwort erwartete, weil er viel zu sehr damit beschäftigt war, den Tischen die Decken überzuziehen. Cording schloss die Augen. So schnell ließ er sich nicht aus dem grünen Konzertsaal mit den Kastaniensäulen werfen. Inzwischen hatte er sich nämlich eingehört, er glaubte sogar, das Grundthema der akustischen Vögelei erkannt zu haben: Liebe. Vielleicht war die Liebe nicht der Inhalt des Drosselgesprächs, aber es war von Liebe getragen, das spürte er und das tat unheimlich gut an diesem herrlichen Morgen, der ihn noch einmal mit den Vertretern der Urtraditionen zusammenbringen sollte.
Steve war wie immer pünktlich. Auf der Fahrt nach La Rochette gab sich Cording wortkarg, während sein junger Freund der Abschlussveranstaltung regelrecht entgegenzufiebern schien. „Wusstest du, dass in Teilen Afrikas die Dörfer noch immer ihre eigenen Rhythmen haben?“, fragte er. „Sie sind im Umkreis mehrerer Kilometer auf Anhieb zu erkennen. Das hat mir der Ethnologe Max Malin erklärt, der zu Maevas zwölfköpfigem Wissenschaftsrat gehört, den sie auf Tahiti um sich versammelt hat. Jede der getrommelten Figuren besteht aus zwei sich überlagernden Rhythmen, die von Jungen gespielt werden, die ihre Muskeln an den Trommeln trainieren. Auf diese Weise erkennen die Menschen einander selbst über größere Entfernungen hinweg, denn die Rhythmen des Körpers lügen nie… Faszinierend, oder? Malin behauptet, dass die Trommelkunst das afrikanische Gesellschaftsleben über Jahrhunderte bis in die tiefste Steppe hinein geregelt hat.”
„Was will er uns damit sagen?”, fragte Cording mit spöttischem Unterton. „Dass man in den URP-Regionen, die sich vom Internet abgekoppelt haben, Trommelkurse einführen soll? Wenn man bedenkt, dass das Netz auch im Rest der Welt enorme Löcher aufweist, könnte es auf diesem Planeten bald ganz schön laut werden.” Wieder einmal passierte es ihm, dass er Steve mit einem Anflug von Zynismus und Überheblichkeit begegnete, was nicht seine Absicht war. Er legte seinem jungen Freund besänftigend die Hand auf die Schulter.
„Warum hast du mir eigentlich nicht erzählt, was mit dir passiert ist, bevor du nach Innervillgraten gegangen bist?”, fragte Steve unvermittelt. „Ich meine die Jahre vor Moskau, als kein Schwein wusste, wo du dich herumtreibst oder ob du überhaupt noch lebst. Die Umstände, unter denen man dich in Moskau aufgegriffen hat, die kenn ich, das weiß ich von Mike. Aber was war davor?”
„Das willst du gar nicht wissen, Steve.”
„Doch, will ich.”
„Du hast nicht die geringste Ahnung, was auf diesem Planeten los ist. Weil du nie in die alles versengende Glut getreten bist. Weil du nie Feuer am Fuß hattest. Sei froh darüber. Erinnerst du dich an das Computerspiel Warrior V., das du auf Tahiti gespielt hast? Die Szenarien, die dem Spieler dort vorgegeben wurden, sind harmlos gegen das, was die Menschen heute in weiten Teilen der Welt ertragen müssen. Ich rede nicht von den Orkanen, die mit einer Windgeschwindigkeit von über dreihundert Stundenkilometern übers Land ziehen und deren Flutwellen ganze Städte aushebeln, um sie an der nächsten Bergkette als Trümmerhaufen abzulegen. Ich rede auch nicht von den anhaltenden Dürreperioden in Afrika und Asien, wo die Menschen alle Reichtümer der Welt gegen ein Glas schmutziges Wasser eintauschen würden. Ich rede von den Orten, wo der Mensch nicht mehr als Mensch zu erkennen ist, ich rede von Chongqing, Mumbai, Rio, Mexico City und ähnlichen Geschwüren auf der Erdoberfläche. Wo die Kinder ihre Eltern für eine Brotkrume umbringen, wo man in die Kanalisation steigt, um Ratten zu fangen, wo die Hungernden auf das nächste Hungertodopfer warten, um dessen schlaffes Fleisch zu essen.” Er hielt einen Moment inne.
Dann sagte er: „Ich erinnere mich an einen Demonstrationszug in Hamburg. Ist vielleicht vierzig Jahre her. Auf einer Brücke begegnete mir ein Zug weiß geschminkter Gestalten, sie trugen einen schwarzen Sarg auf ihren Schultern. DIE LEBENDEN SIND DIE TOTEN!, stand drauf. Schon damals hatte ich das Gefühl, dass es genauso kommen würde. Ich wusste nur nicht, wie schnell das geschehen würde…”
Während Cording noch überlegte, wie er Steve und sich weitere Impressionen seiner jahrelangen Irrfahrt ersparen konnte, kam ihr Ziel bereits in Sichtweite. Das Gemeindehaus von La Rochette war festlich geschmückt. Die Teilnehmer der Abschlussveranstaltung hatten sich nach draußen begeben, um dem Ritual des Schamanen aus Tuva beizuwohnen, mit dem der Versammlungsort gereinigt und gesegnet werden sollte. Der Mann trug schwere Lederstiefel, eine lange weinrote Jacke und einen opulenten Kopfschmuck aus schwarzen Federn. Nachdem er einige aufgeschichtete Holzscheite in Brand gesetzt hatte, griff er zur Trommel, die er mit einem lederbezogenen Schlägel bearbeitete, um kurz darauf mit rauer Stimme die okkulten Kräfte anzurufen. Unter dem Gekreische, das er nun mit verzerrtem Gesicht von sich gab, begann sein Körper zu vibrieren. Auf diese Weise durchbrach er, wie Cording später erfuhr, die äußere Schale der Wahrnehmung und gelangte in ein unsichtbares Universum, wo er mit den Beschützern und Geistern der Stätte Kontakt aufnehmen wollte. Als dies gelungen war, verstummte der Schamane und verharrte einige Minuten regungslos, ohne den Blick vom Feuer zu nehmen. Schließlich zog er ein weißes Tuch aus der Jackentasche und ging zu der Zypresse, die im Osten des Gemeindehauses stand. Er kniete vor dem Baum nieder und richtete einige Worte an ihn. Dann befestigte er das Tuch an einem Ast und bat die Anwesenden, es ihm gleich zu tun. Nach wenigen Minuten war der Baum rundum behangen und die bunte Truppe bewegte sich lachend und plaudernd in den Festsaal, wo für Steve und Cording zwei Plätze auf der Galerie reserviert waren.
Auf der Versammlung sollte jede der zwölf Delegationen noch einmal Gelegenheit erhalten, sich zu der von Maeva inszenierten spirituellen Hilfsaktion zu äußern. Den Anfang machte der Vertreter der Shuar, die im Amazonas-Tiefland östlich der Anden in Ecuador beheimatet waren und deren Volk nach offiziellen Schätzungen noch etwa siebzigtausend Menschen zählte.
„Wir alle sind Vertreter verschiedener Religionen”, begann der Mann, „wir sind wie Perlen auf einer Kette und die Spiritualität ist der Faden, der uns zusammenhält. Dieses Bild öffnet den Blick auf die ursprüngliche Botschaft: die namenlose Einheit, die Religion ohne Namen. Die menschliche Existenz ist nur ein Augenblick im Lauf der Zeit. Der Prophet sagt: ›Sprecht nicht übel von der Zeit, denn die Zeit ist Gott.‹ Die Zeit gebärt ihre Kinder, wir sind aus ihr geschaffen und kehren zu ihr zurück. Warum verstehen das die Menschen nicht mehr? Weil sie das Leben auf dem Altar der Wissenschaft geopfert haben. Damit haben sie das Mysterium der Schöpfung auf die menschliche Ebene schrumpfen lassen. Dabei hat jeder Mensch, jede Blume, jeder Tropfen Wasser, jede Schneeflocke, jedes Blatt seine Eigenart. Jeder Samen hat seine eigene Identität. Aber leider ist das Bewusstsein dafür abhandengekommen. Hier gilt es, anzusetzen. Die Menschen müssen die Spiritualität erst wieder verstehen lernen. Vielleicht hilft uns die dramatische Weltlage, denn meist braucht es erst einen wirklichen Schock, um die Schlafenden wachzurütteln. Den für die schrecklichen Zustände verantwortlichen Eliten ist längst klar, dass ihr eingeschlagener Weg die Weltgemeinschaft in die Sackgasse geführt hat. Um diese Wahrheit im vollen Umfang an die Menschen zu bringen, ist es notwendig, die konzeptionelle, wissenschaftliche und analytische Weltsicht durch eine spirituelle Dimension zu bereichern. Wir dürfen auch dann nicht aufgeben, wenn die Dinge aussichtslos scheinen. Wir müssen das Spiel zu Ende spielen, wir müssen die Wahrheit unaufhörlich und hörbar verbreiten, da sie das Einzige ist, was nicht verdreht werden kann. Die Wahrheit kann nicht erlogen werden, sie besiegt am Ende alles. Nur sie kann die Menschen im Innersten verändern. Ich bin sehr glücklich, dass wir uns dieser Aufgabe gemeinsam stellen wollen. Alle anderen Ziele sind zurzeit zweitrangig.”
Ein zustimmendes Gemurmel erfüllte den Raum. Unterdessen begab sich Running Wolf, der Medizinmann der Lakota-Sioux, in die Mitte des Saals. Er hatte ein schlichtes sandfarbenes Baumwollhemd an, seine schwarzen Haare waren zu mit Perlen verzierten Zöpfen geflochten und um den Hals trug er ein Sonnenrad als Amulett. Running Wolf, mit bürgerlichem Namen Norman Jameson, war Professor für Geschichte und Soziologie in Harvard. Bekannt geworden war er als Führer des AIM, des American Indian Movements, das wieder erheblich an Bedeutung gewonnen hatte.
„Ich finde es richtig und notwendig”, begann Running Wolf, als er sich der Aufmerksamkeit der Anwesenden sicher war, „dass wir unsere Arbeit hier in Europa beginnen. Also lasst mich einige Worte über Europa verlieren. Europa ist der Kontinent, auf dem die Spiritualität als Erstes begraben wurde, was schließlich zu den beklagenswerten Zuständen geführt hat, die wir heute auf der Erde vorfinden. Ich frage euch: Warum sind in den Vereinigten Staaten von Amerika nur noch vier Zoll Mutterboden übrig, während es zur Zeit der Unabhängigkeitserklärung im Jahre 1776 noch achtzehn Zoll waren? Wohin verschwindet unsere heilige Erde? Ich erspare uns die Jahrhunderte dauernde, Völker mordende und Umwelt zerstörende Geschichte, die im Namen des Christentums von Europa aus ihren Anfang nahm. Das Christentum war ursprünglich eine revolutionäre Bewegung. Aber die europäische Kultur machte aus ihm ein Werkzeug der Zerstörung. Im Jahre 1493 gab Papst Alexander VI seine berühmte Inter-Caetera-Bulle heraus, in der befohlen wurde, alle ›Barbaren‹ zu unterwerfen und dem katholischen Glauben zuzuführen – zugunsten der europäischen Militär- und Wirtschaftsmacht. Marx und Hegel beendeten den Säkularisierungsprozess der Theologie, sie reihten sich in eine lange Kette, die von Newton, Descartes, Locke und Adam Smith bis ins neunzehnte Jahrhundert reichte. All diese Denker und Philosophen säkularisierten das religiöse Denken, das fortan für das revolutionäre Potenzial Europas gehalten wurde. Europäer mögen das für revolutionär halten, die amerikanischen Ureinwohner sehen darin eher den gleichen, alten europäischen Konflikt zwischen Sein und Gewinnstreben, man könnte auch zwischen SEIN und NICHTSEIN sagen. SEIN ist ein spirituelles Vorhaben, GEWINNSTREBEN ein materieller Akt. Ihrer Tradition folgend, haben die Indianer immer versucht, das bestmögliche Volk zu SEIN. Teil dieses spirituellen Prozesses war und ist es, Besitz wegzugeben. Materieller Gewinn ist bei traditionsgebundenen Menschen Indikator eines Fehlverhaltens, während er unter Europäern als Erfolg gilt. Für sie ist es zur Tugend geworden, den Planeten zu zerstören. Ihre Entscheidung, das Universum als tot und bar jeder Intelligenz zu betrachten, hat es ihnen ermöglicht, es zu zergliedern, zu analysieren und zu vergewaltigen, und ihm dann jeglichen Sinn jenseits menschlicher Nutzung abzusprechen. Wörter wie Fortschritt und Entwicklung werden von ihnen als Tarnwörter benutzt, um das Abschlachten zu rechtfertigen. Letztlich steht – aus der Sicht des Europäers – das ganze Universum dieser Art von Wahnsinn offen. Am wichtigsten aber ist die Tatsache, dass Europäer bei all dem kein Gefühl des Verlustes verspüren. Sie empfinden keine Befriedigung, wenn sie etwas so Wunderbares wie einen Berg oder einen See oder ein Volk im Urzustand betrachten. Ihre Befriedigung misst sich am materiellen Gewinn. So wird der Berg zu Kies, der See zu Kühlwasser und das Volk zu einem manipulierten Heer von Erfüllungsgehilfen. Die Kinder der Europäer wissen nicht mehr, was es bedeutet, über einen freien Geist zu verfügen. Sie werden wie Vieh zusammengetrieben und durch die Indoktrinationsmühlen ihrer Schulen und Universitäten geschleust. Es ist kein Wunder, dass die Europäer das Land nicht verteidigen, auf dem sie leben. Sie leben gar nicht dort. Sie leben in der Scheinwelt einer Unterhaltungsindustrie, in Fernsehprogrammen und Filmen und Büchern und mit Prominenten im Himmel und nach Regeln und Gesetzen, die sie selber nicht gemacht haben. Sie leben überall, außer in ihrem Körper, auf ihrem Land, in diesem Moment, unter diesen Umständen. Das ist die Schuld, die die Europäer auf sich geladen haben. Man möchte ihnen fast weh tun, aus Furcht, sie könnten niemals wissen, was Schmerzen sind. Aber vielleicht hat die globale Not, welche inzwischen auch Europa an den Rand der Existenz gebracht hat, ja dazu geführt, dass sich die Herzen dieser Menschen wieder öffnen. Einen Versuch wäre es wert. Ich wünsche allen Delegationen, die ihre heilende Arbeit auf diesem Kontinent aufnehmen wollen, gutes Gelingen.”
Cording war von dem Auftritt Running Wolfs beeindruckt. Er war gespannt, für welche URP-Region sich die Delegation der Lakota-Sioux am Ende entschied. Wo immer das sein mochte, er würde sich ihr anschließen. ‚Man möchte ihnen fast weh tun, aus Furcht, sie könnten niemals wissen, was Schmerzen sind.’ Das klang doch mal nach einer vernünftigen Therapie…
Während er noch darüber nachdachte, wo Running Wolf und seine Leute ihre Arbeit aufnehmen würden, war der einzig christliche Vertreter der Versammlung in die Mitte getreten. Es handelte sich um Pater Jérome aus der französischen Gemeinde Béthune, die zu der URP-Region Nord-Pas-de-Calais gehörte. Es zeugte von Mut, sich nach einer solchen Rede als Vertreter der katholischen Kirche zu Wort zu melden, und das nötigte nicht nur Cording Respekt ab.
„Wir Christen”, begann der Pater ohne Umschweife, „meinten ja lange, dass alle ›primitiven‹ Religionen in den Müll der Geschichte gekehrt werden müssten, da gebe ich Running Wolf recht. Aber inzwischen ist uns klar geworden, dass wir sie brauchen! In Wahrheit kommt diese Entdeckung von Christus selbst, der da sagte: ›Kümmert euch um den Letzten und ihr werdet Gott dienen.‹ Wenn wir uns also um diese ›letzten Religionen‹ kümmern, die einst die Ersten waren, so ist das eine gottgesegnete Tat. Ich finde, dass wir unsere Wurzeln nicht verleugnen dürfen, egal welchem Glauben wir angehören und wie entwickelt dieser sein mag. Diese Wurzeln sind unsere gemeinsamen Grundlagen, das vergessen wir leider allzu oft.
Aber in den Urtraditionen sind sie noch erkenntlich, dafür sollten wir dankbar sein. Der Kontakt mit diesen Traditionen scheint mir also ein guter Weg, um zu einem gemeinsamen Stamm zurückzufinden. Heute ist eigentlich nur ein im engsten Wortsinn katholisches Christentum vertretbar. Das griechische kat holon kosmon bedeutet ›durch den gesamten Kosmos‹. Ist damit nicht das Prinzip einer auf den Kosmos gerichteten Religion gemeint? Der Katholizismus kann eigentlich nur dazu gewinnen, wenn er auf andere Religionen hört. Was nun das Verhältnis zur Natur betrifft, so sind wir von den Urtraditionen nicht so weit entfernt, wie viele glauben. So hat der heilige Bernhard von Clairvaux, einer der bedeutendsten Mönche des Zisterzienserordens, für dessen Ausbreitung über ganz Europa er verantwortlich war, im zwölften Jahrhundert bereits Folgendes gesagt: ›Ihr müsst wissen, dass ich den Großteil dessen, was ich euch erzähle, von den Buchen und Eichen bekommen habe.‹
Was wir Christen von den Urreligionen also lernen können, ist, dass wir bei der Verbreitung unserer Botschaft nicht in einem Minenfeld von Worten stecken bleiben dürfen. Während bei uns häufig nur geredet wird, zählt das Wort bei den Urvölkern weniger als die Geste und das Ritual. Ich gestehe, dass ich über unsere Zusammenkunft sehr glücklich bin. Zielen wir gemeinsam auf eine neue Menschheit, lassen wir das schlechte Leben hinter uns, und vergessen wir zugleich nicht, dass das gute Leben nicht an einem Tag erschaffen werden kann. Versprechen wir uns gegenseitig, in derselben Richtung zu arbeiten. Ich freue mich darauf.
Zum Schluss noch eine kleine Bemerkung zu dem, was Running Wolf über Europa gesagt hat. Was unsere Geschichte und unsere Schuld betrifft, so gebe ich dem Medizinmann der Lakota-Sioux in allen Punkten recht. Aber wir sollten nicht übersehen, dass sich nirgendwo sonst auf der Welt eine solche Dichte an reformwilligen Regionen gebildet hat, wie ausgerechnet hier. Europa ist quasi zur treibenden Kraft der URP geworden, was unserer Aufgabe noch einmal eine besondere Bedeutung gibt.”
Cording, der mit den Jahren ein feines Gespür dafür entwickelt hatte, wann die Informationen, die er für seine Arbeit brauchte, ausreichend geflossen waren, der sich außerdem kleine Probleme mit der Prostata eingestehen musste, verzog sich so leise es ging nach draußen.
Im Schatten der geschmückten Zypresse dachte er darüber nach, wie die indigenen Völker den Kulturschock wohl verwunden hatten, nachdem sie den Europäern begegnet waren. Im Gegensatz zu ihnen empfanden „Europäer” keinerlei Respekt gegenüber anderen Lebensformen. Was war mit diesen Menschen passiert, als sie merkten, dass ihr Wissen von den höheren Zusammenhängen des Lebens nicht mehr gefragt war? Cording vermochte sich den Schmerz der unterjochten Völker, deren Schamanen und Medizinmänner sich jetzt in einer konzertierten Aktion bereit fanden, den Nachkommen der Eroberer und Vergewaltiger den Weg aus dem selbst verschuldeten Elend zu weisen, nicht vorzustellen.
Nachdem er genügend frische Luft geatmet hatte, kehrte er in den Versammlungssaal zurück. Steve klärte ihn darüber auf, dass mit dem Vertreter der Yanomami gerade der letzte Sprecher der vierundzwanzig Delegationen das Wort ergriffen hatte. Danach würde sich jede Abordnung für eine Region entscheiden.
„Das Blut der Naturvölker war unter Pharmakologen und Genforschern begehrt”, hörte Cording den Vertreter der Yanomami sagen, „unsere DNS ist reiner als die des weißen Mannes und deshalb leichter zu analysieren. Die Pharmakonzerne träumten von gigantischen Gewinnen und steigenden Aktienkursen. Unser Blut spielte eine entscheidende Rolle im weltweiten Konkurrenzkampf. Genlabore boten im Internet Plasma aus Indioblut an. Mit genauen Angaben über Geschlecht, Alter und Stammeszugehörigkeit. Sie erklärten uns, die Blutabnahme sei ausschließlich für Malariatests bestimmt. Jahre später erfuhren wir, dass dies eine Lüge war. Unser Blut diente nur einem einzigen Zweck: dem Profit der Pharmaindustrie. Um seine spirituelle Bedeutung für uns kümmerte sich keiner. Wir hätten also genügend Gründe, uns der Hilfe zu verweigern, um die uns Maeva gebeten hat. Aber wir wissen, dass alles, was wir tun, alles, was wir denken und fühlen mit allen anderen Taten, Gedanken und Gefühlen sämtlicher Mitwesen auf diesem Planeten in ständiger Verbindung steht und einander bedingt. Aus diesem feinstofflichen Geflecht erwächst der jeweils augenblickliche Zustand der Welt. Je mutiger unser Handeln, je klarer und gerechter unsere Gedanken und je tiefer unsere Gefühle, desto mehr tragen wir dazu bei, dass sich die Gesamtlage zum Positiven verändert. Aufgrund dieses kosmischen Gesetzes dürfen und können wir uns der vor uns liegenden Aufgabe nicht entziehen. Ich wünsche allen Delegationen eine glückliche Hand.”
Die einzelnen Schamanen wählten nun die Regionen aus, in denen sie tätig werden wollten. Running Wolf entschied sich für das Elsass, eine Region, die nicht weit entfernt nördlich ihres jetzigen Aufenthaltsortes lag. Steve zeigte dem Medizinmann das Einsatzgebiet auf der Karte, während Cording draußen auf ihn wartete. Eigentlich hätte er die Lakota gerne zu den Ostfriesen oder in die Bretagne begleitet, zu den Sturköpfen also, aber jetzt war es eine Region geworden, die im Laufe der Geschichte zwischen den Nationalstaaten Deutschland und Frankreich mehrmals über Bande gespielt wurde und trotzdem ihre Identität bewahren konnte. Bereits morgen, so teilte ihm Steve auf der Rückfahrt nach Saint Hugon mit, würde Running Wolf dorthin aufbrechen.
Die nächste Folge (Feuer am Fuß 15) erscheint am Freitag, 4. Dezvember 2015.
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Videos:
Ein Indianer spricht (Lakota indianer)
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We Balance The Earth Die Indianische Alternative Die Rede des Häuptlings zur Ökologie
ZITAT
„Wenn wir zum Abschluss unserer schmerzlichen Bilanz eine neue ethische Orientierung der Menschheit, zumindest ihres aktivsten und aggressivsten Teils, fordern, dann haben wir von der Tatsache auszugehen, dass noch nie die moralischen und ethischen Werte der Zeitgenossen so weit von den objektiven Anforderungen ihrer Epoche entfernt waren wie heute.“
CARL AMEREY (1922-2005) (Pseudonym von Christian Anton Mayer)war ein deutscher Schriftsteller („Die ökologische Chance“) und Umweltaktivist.
Das American Indian Movement (AIM, englisch für Amerikanische Indianerbewegung) ist eine seit 1968 bestehende Organisation in den USA. Das AIM rekrutiert sich hauptsächlich aus Aktivisten außerhalb der klassischen Reservate und setzt sich sowohl gegen Korruption und Machtmissbrauch der offiziellen indianischen Reservatsführungen wie für eine Revision der Indianerpolitik der Vereinigten Staaten ein.
Zwischen Ende der 1960er und Mitte der 1970er Jahre geriet das AIM aufgrund spektakulärer, darunter auch einiger militanter Widerstandsaktionen wie etwa der Besetzung von Wounded Knee 1973 in die Schlagzeilen und erreichte die Aufmerksamkeit einer internationalen Öffentlichkeit.
Einer der maßgeblichen Wegbereiter des AIM war in den frühen 1960er Jahren der für seine harsche Zivilisationskritik bekannt gewordene indianische Professor Jack D. Forbes.
Die Bewegung war zunächst aus dem städtischen Umfeld entstanden, wo es sich für die zumeist in Ghettos lebenden benachteiligten Indianer einsetzte und etwas gegen Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, den Alkoholismus und zur Gewährleistung der gesundheitlichen Versorgung unternahm. AIM organisierte Straßenpatrouillen zum Schutz gegen als willkürlich und rassistisch empfundene Übergriffe der Polizei.
Zur Förderung des indianischen Selbstbewusstseins wurden neben weiteren Selbsthilfeprojekten wie der Gründung eines Rechtshilfezentrums, Initiativen von Ausbildungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für Indianer auch so genannte Survival schools (Überlebensschulen) gegründet, in denen indianischen Kindern neben den kulturellen Werten ihrer Stämme auch ihre ursprüngliche Stammessprache vermittelt wurde.
1974 waren AIM-Aktivisten auch beteiligt an der Gründung des International Indian Treaty Council (IITC) als Interessenvertretung der indigenen Völker Nord-, Mittel- und Südamerikas. Der IITC erhielt den Status einer nichtstaatlichen Organisation (NGO) mit Akkreditierung bei den Vereinten Nationen (UNO) in Genf ab 1977.
1970 stieß John Trudell zu AIM. Trudell hatte an der 19 Monate dauernden Besetzung der ehemaligen US-amerikanischen Gefängnisinsel Alcatraz 1969/1970 durch die Indians of All Tribes (Indianer aller Stämme) teilgenommen.
1972 veranstaltete AIM nach dem Vorbild des Marsch auf Washington durch die Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner den Trail of Broken Treaties (Pfad der gebrochenen Verträge; angelehnt an den berüchtigten Umsiedlungsmarsch der Indianer des Südostens in das Indianerterritorium, den "Pfad der Tränen (Trail of Tears)", im Jahre 1833), um an die vielen vergangenen Vereinbarungen zwischen Indianern und US-amerikanischen Unterhändlern zu erinnern, die von amerikanischer Seite später ignoriert worden waren. – Quelle: Wikipedia
Foto: AIM-Logo
PRESSESTIMME
Eine tolle Geschichte – spannend und einfühlsam geschrieben und von der ersten bis zur letzten Zeile lesenswert. Und ohne zu viel zu verraten: Die Liebe kommt dabei auch nicht zu kurz.
natur & kosmos
Dirk C. Fleck wurde 1943 in Hamburg geboren. Nach dem Studium an der Journalistenschule in München volontierte er beim Spandauer Volksblatt in Berlin und war Lokalchef der Hamburger Morgenpost. Er war Redakteur bei Tempo und Merian, seit 1995 ist er als freier Autor für die Magazine Spiegel, Stern und Geo tätig und schreibt für die Welt und die Berliner Morgenpost. Er ist Autor des Öko-Thrillers Palmers Krieg (1992) sowie des Zukunftsromans GO! Die Ökodiktatur (1996), für den er den deutschen Science-Fiction-Preis erhielt. Dirk C. Fleck lebt und arbeitet in Hamburg.
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