Dirk C. Fleck: Feuer am Fuß
- Geschrieben von Dirk C. Fleck -
KulturPort.De beginnt heute bis Weihnachten mit der exklusiven Veröffentlichung in 19 Folgen des Abschlussromans der „Maeva"-Trilogie von Dirk C. Fleck „Feuer am Fuß”. Hintergründe, Bezüge und Wissenswertes zur Arbeitsweise und zu den Informationsquellen des Autors lesen Sie bitte am Ende jeder Folge:
Vorwort
„Feuer am Fuß” ist eine literarische Hochrechnung, die jeder, der seine Augen offen hält, nachvollziehen kann. In dem Roman geht es um den Zusammenbruch unserer Zivilisation, die in ihren Grundfesten bereits heute stark erschüttert wird. Im Jahre 2035 aber wächst angesichts der globalen Katastrophe in manchen Regionen der Erde ein neues Bewusstsein heran, das die Menschen wieder in Verbindung bringt mit der Schöpfung. Das ist die ganze Geschichte dieses Buches. Allerdings treten einige seiner Protagonisten hier nicht zum ersten Mal auf.
Cording, Maeva, Omai, Steve Parker und John Knowles sind den Lesern der Romane „Das Tahiti-Projekt” und „MAEVA!” (im Taschenbuch „Das Südsee-Virus”) bestens bekannt. In „Feuer am Fuß” sind sie allerdings dreizehn Jahre älter als im „Tahiti-Projekt”, deren Geschichte zusammengefasst so geht:
Im Jahre 2022 lädt der junge tahitianische Präsident Omai fünfzig internationale Pressevertreter ein, damit sie sich vor Ort ein Bild von der sozio-ökologischen Neuausrichtung der Gesellschaftsinseln machen können, die sich für den radikalen Umbau jahrelang vor der Weltöffentlichkeit abgeschottet hatten. Unter den geladenen Journalisten befindet sich auch Cording, Chefreporter des EMERGENCY-Magazins. Wie jeder seiner Kolleginnen und Kollegen bekommt auch er einen tahitianischen Guide zugewiesen, der ihm die Errungenschaften auf der Insel näher bringen soll. In seinem Fall handelt es sich um Maeva, die Schwester Omais. Zwischen den beiden entwickelt sich eine Liebesgeschichte, die auf eine harte Probe gestellt wird, als ein Whistleblower den Tahitianern verrät, dass der weltweit größte Energiekonzern Global Oil damit begonnen hat, in den tahitianischen Hoheitsgewässern illegal nach Manganknollen zu schürfen, was eine Umweltkatastrophe unvorstellbaren Ausmaßes nach sich ziehen könnte. Cording und Steve Parker, ein junger Computerfreak und Sohn von Cordings Chefredakteurin, der ihm bei dieser Reise quasi aufs Auge gedrückt wurde, beginnen im Internet den Widerstand gegen den Ölmulti zu organisieren.
„MAEVA!” spielt im Jahre 2028. Omais Schwester ist zur Vorsitzenden der URP („United Regions of the Planet”, einer alternativen UNO) gewählt worden. Angesichts der globalen Ökokrise begibt sich die junge Tahitianerin auf eine rettende Mission rund um den Erdball. Maeva ist überall dort, wo Menschen ihre Zukunft neu gestalten – oder sie vielleicht für immer verspielen. Mit im Team: Cording, Steve Parker und John Knowles, ein Journalist der New York Times. Sie dokumentieren „Maevas Reise” im Internet, wo sie zu einem weltweit beachteten Format heranwächst. Maevas Ideen für eine lebenswerte Zukunft berühren Millionen Menschen rund um den Globus. Doch je mehr sich ihre „Politik des Herzens” wie ein positiver Virus verbreitet, desto stärker gerät sie ins Visier der Mächtigen. In ihrem Kampf gegen gierige Konzerne, Atomkraft und Gentechnik wandelt sie sich von einer sanften Mahnerin zu einer kämpferischen Jeanne d’Arc der Ökologie. Nach einem Attentat, dem nicht Maeva, sondern einer ihrer Begleiter zum Opfer fällt, beschließen Omai und Cording, sie aus der „Schusslinie” zu nehmen. Sie inszenieren einen Flugzeugabsturz, dem Maeva angeblich zum Opfer fällt, und entführen die „Verstorbene” auf die Südseeinsel Rapa Iti, wo sie fortan in einer Art Verbannung lebt. Cording, der seine Geliebte eigentlich schützen wollte, ist unversehens zum Verräter an ihr geworden. Als sich eines Tages eine Frau auf Tahiti zeigt, auf deren vollständig tätowiertem Gesicht die Tattoos in traditioneller „Schreibweise” die Geschichte seines Verrats erzählen, scheint die Kluft zwischen ihm und seiner Geliebten für immer unüberwindlich.
Sieben Jahre später wird Cording, der keinen Frieden mehr mit sich selbst finden konnte, bei einer Razzia in einer stillgelegten Moskauer U-Bahn-Station aufgegriffen. Hier beginnt der Roman „Feuer am Fuß”.
Kapitel 1
Cording wusste nicht, wer ihm die Botschaft überbracht hatte und unter welchen Umständen das geschehen war. Er wusste nur, dass Julia ihn zu sprechen wünschte. Also machte er sich auf den Weg.
Sie erwartete ihn auf offener Ebene als Lichtgestalt, kein Wunder, schließlich war sie seit Jahren tot. Die Begrüßung mit seiner ehemaligen Freundin fiel herzlich, aber nicht euphorisch aus. Julia schien keine Zeit verlieren zu wollen. Sie habe ihn gerufen, erklärte sie ohne Umschweife, um ihm zu zeigen, wie man im Moment des Todes mit seinem Atem umzugehen habe, damit der Übergang harmonisch und ohne Angst verlaufe. Dann übten sie.
Julia zeigte sich außerordentlich geduldig, bis Cording es schließlich verstand, im richtigen Moment loszulassen, ohne noch einmal nach Luft zu schnappen und sich in ein Leben zurück zu beißen, in dem er nichts mehr zu suchen hatte.
„WACH AUF, MANN! WIR MÜSSEN WEG HIER! KOMM SCHON!”
Cording hielt sich den Unterarm vor die Augen, um sich gegen das Licht der Taschenlampe zu schützen, die jemand aus nächster Nähe auf ihn gerichtet hielt. Er fragte sich, ob er noch lebte oder schon tot war. Wenn ein Mann im Sterben liegt, so hieß es, durchsucht er seine Vergangenheit nach Liebe und Leben, das tat er aber nicht.
„STEH AUF! DIE BULLEN KOMMEN! BEEIL DICH!”
Der Stimme nach zu urteilen war es Timothy, ein amerikanischer Freak, den er vor zwei Tagen im Gorkipark kennengelernt hatte. Timothy war es auch, der ihn durch ein kompliziertes Labyrinth von Lüftungsschächten in den Moskauer Untergrund geschleust hatte, wohin sich die Obdachlosen des unregierbar gewordenen Vierundzwanzig-Millionen-Molochs nachts vor der Kälte zurückzogen. Ihr erklärtes Ziel waren die zwölf Stationen der durch einen Bombenanschlag seit einem Monat stillgelegten Kolzewaja-Linie, auch Ringlinie genannt, weil sie das historische Stadtzentrum umrundete. Cording hatte es in die Station Nowoslobodskaja verschlagen, deren Pracht er nur erahnen konnte, weil er und etwa tausend andere Penner hier unten im Dunkeln vegetierten.
Timothy riss ihm die Lederjacke von der Brust. Allmählich dämmerte Cording der Ernst der Lage. Aus dem Tunnel in südlicher Richtung hallten Schreie, wenn er sich nicht täuschte, fielen sogar Schüsse. Seine „Mitbewohner”, die zuvor um jeden Zentimeter ihres besetzten Terrains gestritten hatten, hasteten an ihm vorbei wie aufgescheuchte Ratten. Sie sprangen auf die Gleise und stolperten in nördlicher Richtung davon. Ihre Silhouetten und Schatten wirkten gespenstisch im rotierenden Licht diverser Taschenlampen. Timothy hatte sich den Flüchtigen angeschlossen, jedenfalls war er nicht mehr da.
Cording richtete sich auf und drückte den Rücken an die Wand. Er würde hier sitzen bleiben, er verspürte keinen Fluchtimpuls. Wovor sollte er fliehen? Nicht dass er besonders mutig geworden wäre, aber seine Augen waren bestrichen mit Kulturen aus Dreck und Tod. In den Fundamenten seines Wesens hatten in den letzten Jahren ein paar heftige Umbauten stattgefunden, da entwickelte man keine Angst vor Verhaftung. Die Geräusche wurden leiser, für einen Moment herrschte totale Stille, eine Stille, die in den Ohren dröhnte. In diesem Moment flammten im „Palast des Volkes”, wie der Bahnhof unter Stalin genannt wurde, die Lichter auf, als begänne ein klassisches Endzeitdrama, dem Cording beizuwohnen die Ehre hatte. Er befand sich in einer Halle, deren Bahnsteige durch eine aus weißem Marmor bestehende, etwa zehn Meter breite Pylon-Reihe getrennt wurden. Fasziniert betrachtete er die Galerie der von innen beleuchteten Glasmalereien, mit denen die zweiunddreißig bogenförmigen Pylonen ausgeschmückt waren. Sie verwandelten die Station in eine Art Sakralbau, was der Situation mehr als angemessen war, denn offensichtlich ging es, wenn er die erneuten Schusswechsel im Tunnel richtig deutete, mal wieder um Leben und Tod. Eine Bierdose schlidderte vor seine Füße. Erst jetzt fiel ihm auf, welchen Saustall die Ratten hinterlassen hatten. Der mit einem großzügigen Schachbrettmuster versehene Boden war übersät mit Papier, zerschlissenen Decken, Essensresten und jeder Menge Glasscherben. Es stank nach Urin.
Cording stand auf und lief einem Trupp schwer bewaffneter, schwarz gekleideter Soldaten in die Arme. Sieben Männer waren in ihrer Gewalt, sie hockten mit auf dem Rücken gefesselten Händen auf dem Boden. Ehe er sich versah, wurde auch er in diese demütigende Haltung gezwungen. Kurz darauf stolperte er mit den anderen Gefangenen vor den schreienden Häschern die steilen stillstehenden Rolltreppen hinauf an die eisige Luft, wo man sie auf einen LKW prügelte, der sie ins nahe gelegene Butyrka-Untersuchungsgefängnis transportierte. Von Timothy wusste er, dass sie dort über eine Folterabteilung verfügten, deren Mitarbeiter in dem Ruf standen, Experten der Schmerzzufügung zu sein.
Einige Tage nach dem Anschlag ließ sich Nikolaj Timofejew die Vorführung der Verhafteten noch einmal auf die Videowand seines Arbeitszimmers übertragen. Der dreiste Anschlag auf seine Privatvilla hatte ihn zutiefst getroffen und verunsichert. Wie war es möglich, dass die Täter das mit Hunden und Leibwächtern gesicherte Grundstück betreten konnten? Was hatte sie zudem befähigt, den weitläufigen Park unentdeckt zu durchqueren, um dann seelenruhig ihre Brandsätze zu zünden? Einer war in der Bibliothek explodiert, ein anderer im Rokokosaal des Hauses. Die Brände konnten gelöscht werden, aber der Verlust eines großen Teils seiner achttausend Bände umfassenden historischen Büchersammlung schmerzte ihn sehr. Nur ein Bruchteil des Bestandes konnte unversehrt aus dem Brandschutt geborgen werden. Das Gleiche galt für die Gemälde, von denen Cézannes „Porträt des Achille Emperaire” unrettbar verloren war. Von den mittelalterlichen Handschriften, Inkunabeln, Globen und Landkarten ganz zu schweigen. Auch das von Pawel Korin gemalte Deckengemälde im Rokokosaal hatte erheblichen Schaden genommen, es würde Monate, wenn nicht Jahre dauern, um es wieder herzustellen. Die acht Männer, die seine Leute vor zwei Tagen im nahe gelegenen U-Bahnschacht auf der Flucht gestellt hatten, waren recht jung, zwischen fünfundzwanzig und dreißig etwa. Bis auf einen. Er schätzte ihn auf Mitte fünfzig. Wie ein Russe sah er auch nicht aus. Das Gesicht kommt mir irgendwie bekannt vor, dachte Timofejew. Dann verwarf er den Gedanken und wies sein Büro an, die Bilder der Überwachungskameras, die rund um das Grundstück jeden Passanten ins Visier nahmen, mit denen der acht Gefangenen abzugleichen. Und zwar drei Wochen rückwirkend.
Cording, dem bereits kurz nach seiner Ankunft in Moskau sämtliche Papiere sowie alles Bargeld geklaut worden waren, hatte sich bei der ersten Vernehmung im Butyrka-Untersuchungsgefängnis als Burkhard Müller, wohnhaft in Hamburg ausgegeben. Er befürchtete Repressalien, falls er seinen richtigen Namen nennen würde. Im Internet gab es genug Einträge über ihn, und ob die Schergen dieses Systems sein Engagement im Maeva-Team gewürdigt hätten, durfte bezweifelt werden.
Umso überraschter war er, als er nach drei Tagen von den Wachen, deren Gebell ihm den ganzen Tag in den Ohren lag, in äußerst freundlichem Ton aus der Zelle komplimentiert wurde, um schließlich einem Mann übergeben zu werden, der ihn ebenso freundlich zu einem gepanzerten Geländewagen außerhalb des Gefängnisses begleitete. Der Wagen brachte ihn zu einem zwanzig Autominuten entfernt gelegenen, von hohen Mauern umgebenen Privatgrundstück, das mit seiner kunstvoll angelegten Seenlandschaft, seinem Wildgehege und dem alten Rotbuchenbestand dem Stadtmoloch wie ein Schönheitsfleck auf der Nase saß. Natürlich war die von fein gestutzten Hecken gesäumte Anfahrt zu dem weißen Schloss im Zentrum dieses Paradieses mit Kies belegt. Das Geräusch von Autoreifen auf Kies war praktisch die Ouvertüre einer sinnlichen Sinfonie, wie sie nur im Reich der Reichen aufgeführt wurde. Und wie man es seit Jahrhunderten kannte, stand der Schlossherr auf der Freitreppe zur Begrüßung bereit.
„Entschuldigen Sie die Entführung”, sagte der Mann freundlich und reichte ihm die Hand. „Ich bin Nikolaj Timofejew. Bitte folgen Sie mir.” Cording wusste sehr wohl, wer Nikolaj Timofejew war, aber er ließ sich seine Überraschung nicht anmerken. Natürlich fragte er sich, wieso ihm die Ehre zuteilwurde, von einem der reichsten Männer der Welt empfangen zu werden. Timofejew war Eigner des Energieriesen RussiaPetrol, sein Privatvermögen wurde auf hundertzwanzig Milliarden US-Dollar geschätzt. Als er diesem Mann im Salon des Hauses gegenübersaß, schwoll in seinem Kopf wieder jenes Rauschen an, das sich in den letzten zwei Jahren immer häufiger unangenehm bemerkbar machte. Die Worte, die der Russe in perfektem Englisch an ihn richtete, schienen jetzt wie in Watte gepackt, sie erschlossen sich nicht, sie waren nur noch ein akustisches Wetterleuchten. Zur Besinnung kam er erst wieder, als Timofejew aufgehört hatte zu reden und ihn stattdessen eine Weile interessiert musterte.
„Sie sind erschöpft”, hörte Cording sein Gegenüber sagen. „Ein Bad wird Ihnen gut tun.”
Timofejew begleitete ihn die Treppen hinauf ins Badezimmer. Die geräumige Wanne war angerichtet und so ließ sich Cording, nachdem sich der Hausherr zurückgezogen hatte, ins wohltemperierte, von dichtem Schaum überzogene Wasser gleiten. Welch ein Unterschied zu der Reinigung, die ihm im Gefängnis zuteilgeworden war, wo man die Neuankömmlinge in einem offenen Betonverschlag mit Desinfektionsmitteln besprühte, um sie anschließend mit Feuerwehrschläuchen kalt abzuspritzen. Er schloss die Augen und lag regungslos in dem duftenden Nass – als ob er auf diese Weise wieder an die Oberfläche des Lebens geraten könnte. Er wäre gerne wieder in der Lage, die Menschen anzuschauen, wie ein Kind sie anschaut. Alles zum ersten Mal wahrnehmen. Aber wie sollte das gehen? Das Elend der Welt brütete überall Verzweiflung, Furcht, Hass und Zerstörung aus. Weisheit und Gelassenheit waren zu Schätzen geworden, die man verbergen musste und Glück war eine verloren gegangene Kunst.
Als er später frisch gebadet im Salon erschien, konnte sich sein Gastgeber ein anerkennendes Nicken nicht verkneifen. Vor Timofejew lagen vier aufgeschlagene EMERGENCY-Ausgaben. Es handelte sich bei den ostentativ zur Schau gestellten Artikeln ausschließlich um Reportagen, die Cording in den letzten Jahren geschrieben hatte. Der Kampf um die letzten kalifornischen Redwood-Wälder, das sozio-ökologische Gesellschaftsmodell auf Tahiti, der Besuch im Krisengebiet rund um den geborstenen Drei-Schluchten-Staudamm, die Begegnung mit dem deutschen Architekten und Bioniker Ludwig Liebherr in der Seesternstadt im Westen Australiens.
„Ich lese das Blatt seit Jahren”, sagte Timofejew. „Sie sind mir also bestens vertraut. Auch durch das Internetformat ›Maevas Reise‹, an dem Sie ja entscheidend mitgewirkt haben und das durch den tragischen Tod Maevas sein Ende fand. Setzen Sie sich doch … Wodka? Whiskey? Cognac?”
„Wodka.”
Ein Diener, den Cording zuvor nicht bemerkt hatte, stellte eine Karaffe mit Wasser, zwei Gläser und eine Flasche Premium auf den Tisch.
„Sie werden sich sicher gefragt haben, wie ich Sie ausfindig machen konnte. Ganz einfach: Die Männer, mit denen Sie verhaftet wurden, stehen in Verdacht, einen Anschlag auf mein Haus verübt zu haben. Ich habe mir die Bilder von der Gegenüberstellung angesehen und dabei fielen Sie mir auf. Nastrovje!”
„Nastrovje!”
„Wie lange ist das jetzt her mit dem Absturz?”
„Sechs Jahre.”
„Sechs Jahre, mein Gott … Wussten Sie eigentlich, dass ich damals in Patagonien war? Malcolm Double U hatte mich gebeten, bei dem Treffen mit Maeva dabei zu sein. Wir wollten uns gemeinsam anhören, was sie uns vorzuschlagen hatte. Naja, dazu ist es ja leider nicht gekommen. Aber vielleicht erzählen Sie es mir.”
Cording griff nach der Karaffe, er wusste, dass man nach einem Glas Wodka Wasser trinken sollte, wenn man nicht vorzeitig aus den Puschen kippen wollte.
„Maeva wollte Sie davon überzeugen, die Superreichen dieser Welt zu einer Allianz zu schmieden, um den Ökozid einigermaßen abzufedern”, sagte er, „dafür, fürchte ich, dürfte es nun zu spät sein.”
„Wieso glauben Sie das?”
„Schauen Sie sich doch in der Welt um”, antwortete Cording und nahm sich die Ausgabe vom November 2022 vor, in der er über den Krieg zwischen militanten Umweltschützern und der von den Lumber Companys bestellten Nationalgarde berichtet hatte. „Die kalifornischen Redwood-Wälder, die Sie auf dieser Karte noch verzeichnet sehen, gibt es nicht mehr”, sagte er und blätterte einige Seiten weiter. „Haben Sie den Kommentar gelesen, den ich damals geschrieben habe? Nein? Lesen Sie ihn. Lesen Sie ihn laut vor…”
Timofejew griff sich das Magazin: „Unser Leben wird sich dramatisch verändern”, las er, „der von den Menschen längst eingeleitete Ökozid geht an den Nerv allen Lebens. Nichts wird mehr so sein, wie wir es heute vorfinden. Wir sehen also: Man muss gar nicht radikal denken und handeln, um es mit radikalen Ergebnissen zu tun zu bekommen. Für gewöhnlich reicht die pure Ignoranz einer Gefahr, um sich ihr unversehens gegenüberzusehen. Wie hatte Nietzsche gesagt: ›Blickst du zu lange in einen Abgrund, blickt der Abgrund irgendwann in dich.‹”
Cording hatte jetzt Oberwasser, was er genoss. „Ist Ihnen eigentlich bewusst, welche Schrecknisse dieser Abgrund birgt?”, fragte er, um die aktuelle Bilanz anschließend fast roboterhaft herunterzubeten, vom rasanten Rückgang der Artenvielfalt bis zum Atommüllproblem, von der Wasserknappheit über die Phosphatkrise, dem kollabierenden Finanzsystem, der Überbevölkerung, den Extremwettern, der Erderwärmung, den durch Genmanipulation erodierten Böden, der Unregierbarkeit der Städte und den daraus folgenden bürgerkriegsähnlichen Zuständen bis hin zu den verheerenden neuen Seuchen, die sich wie ein Flächenbrand über den Globus ausbreiteten und kaum noch einzufangen waren.
Er hätte noch tausend andere Dinge nennen können. Die katastrophalen Verhältnisse waren dem Wachstumswahn einer industrialisierten Welt geschuldet, die sich in rapider Auflösung befand, was Leuten wie Timofejew endgültig die letzten Illusionen rauben sollte.
Aber vielleicht täuschte er sich. Leute wie Timofejew, Leute die Macht besaßen, gaben nicht so ohne Weiteres auf. Macht gibt nicht ohne Drängen nach. Das hat sie bisher nicht und das wird sie nie tun. Während sich die Welt in Auflösung befand, hatte RussiaPetrol einen Brachialangriff auf die letzten Gas- und Ölvorkommen des Nordpolarmeeres gestartet. Die durch Tiefenbohrungen verursachten Umweltschäden waren bis zum Äquator spürbar.
Nein, dachte Cording, ich werde diesem Mann keine Absolution erteilen, nur weil er zu erkennen gegeben hat, dass er bereit wäre, die eine oder andere Milliarde in einen Fond der Superreichen zu investieren, mit dem die Folgen einer Politik abgefedert werden sollten, die man unbeirrt weiter betrieb. Wirtschaft im Suprakapitalismus ist ein Prozess der schöpferischen Zerstörung. Und Nikolaj Timofejew war einer der Kreativsten in diesem perversen Spiel.
„Wissen Sie, Nikolaj”, sagte er (nach dem dritten Wodka durfte er ihn so nennen), „das Leben zu verlieren ist keine große Sache; aber zuzuschauen, wie der Sinn des Lebens aufgelöst wird, das ist unerträglich.“ Das Rauschen in seinem Kopf schwoll erneut an, als würde eine Monsterwelle auf ihn zurollen. Gleichzeitig sah er sich einem kosmischen Angriff ausgesetzt. Millionen silberner Pfeile schossen auf ihn zu, von denen jeder Einzelne eine bestimmte Gehirnzelle ins Visier genommen hatte. Er sah Timofejew etwas sagen, hören konnte er ihn nicht. Er schluckte, um Druck auf die Ohren auszuüben, aber es half nichts. Mit letzter Kraft fuhr er aus dem Sessel und stolperte auf den Ausgang zu. Kurz vor der Terrassentür brach er zusammen, wo er die Attacke in einer erbärmlichen Embryohaltung zuckend über sich ergehen ließ, bis er das Bewusstsein verlor.
Als er wach wurde, fand er sich in einem komfortablen Bett wieder. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie Nikolaj Timofejew einen älteren Herrn mit Arztkoffer aus dem Zimmer geleitete. Cording bemerkte das Pflaster in seiner Armbeuge und spürte, wie ihm die Augenlider schwer wurden.
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Die nächste Folge (Feuer am Fuß 02) erscheint am Mittwoch, 4. November 2015.
Weitere Informationen
Hintergründe - Bezüge - Wissen
KulturPort.De bietet den Lesern zu jeder Folge Hintergrundwissen in einer "Fact Box" an, die jeweils gemeinsam mit der Autor zusammengestellt wurde. Damit soll Einblick gegeben werden in die Arbeitsweise Dirk C. Flecks sowie seine historischen und aktuellen Bezüge sichtbar gemacht werden, um den realen Kontext besser zu verorten.
Dirk C. Fleck wurde 1943 in Hamburg geboren. Nach dem Studium an der Journalistenschule in München volontierte er beim Spandauer Volksblatt in Berlin und war Lokalchef der Hamburger Morgenpost. Er war Redakteur bei Tempo und Merian, seit 1995 ist er als freier Autor für die Magazine Spiegel, Stern und Geo tätig und schreibt für die Welt und die Berliner Morgenpost. Er ist Autor des Öko-Thrillers Palmers Krieg (1992) sowie des Zukunftsromans GO! Die Ökodiktatur (1996), für den er bereits schon einmal den deutschen Science-Fiction-Preis erhielt. Dirk C. Fleck lebt und arbeitet in Hamburg.
Carl Friedrich von Weizsäcker: Eine unglaublich genaue Analyse aus dem Jahre 1983
YouTube-Video (4:49): https://www.youtube.com/watch?v=nGf_zzeGoYU&feature=youtu.be
Foto Carl Friedrich von Weizsäcker: Bundesarchiv, B 422 Bild-0174 / CC-BY-SA 3.0
„Das Tahiti-Projekt ist ein äußerst realistischer, kluger und brillant geschriebener Zukunftsroman. Er zeigt die Konflikte zwischen multinationalen Großkonzernen, ihrer blindwütigen Profitstrategie und einem um seine elementarsten Rechte kämpfenden Land im Pazifik. Es ist ein Buch der Hoffnung: internationale Solidarität, Widerstand sind der Atem des Buches.“
Jean Ziegler, UN-Sonderberichterstatter
Foto: Jean Ziegler, Photograph by Rama, Wikimedia Commons, Cc-by-sa-2.0-fr
„Wir haben Sie hergebeten, damit Sie sich davon überzeugen können, dass die menschliche Gemeinschaft funktioniert. Dass sie frei sein kann von Missgunst und Vorteilsnahme, dass die Kluft zwischen Arm und Reich nicht zwingend notwendig ist. Die menschliche Gemeinschaft ist unsere Heimat. Ebenso wie die Natur unsere Heimat ist. Wir Polynesier begegnen uns im gegenseitigen Respekt und verstehen, dass der Natur das gleiche Recht gebührt. Wir haben damit begonnen, unser Leben neu zu organisieren. Wir organisieren es unter dem Einfluss jener großen Seele, die allen alten Kulturen innewohnt. Die Menschheit ist entschieden zu weit gegangen – es ist an der Zeit, wieder Lebensqualität statt Gier und Zerstörung zu produzieren.” Der tahitianische Präsident Omai vor fünfzig geladenen Journalisten aus aller Welt (Zitat aus dem Buch „Das Tahiti-Projekt“)
Dirk C. Flecks Maeva-Trilogie ist komplett
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