Film

Drei Jahrzehnte nach „Forrest Gump“ überlistet uns US-Regisseur Robert Zemeckis zu einer höchst ungewöhnlichen cineastischen Exkursion. Sein Fantasy-Drama „Here“ bricht mit der Einheit von Zeit, Raum und Handlung.

 

Zur Schnittstelle der Schicksale im Verlauf von mehr als hundert Jahren entwickelt sich das gutbürgerliche Wohnzimmer einer amerikanischen Vorstadtvilla. Die Bewohner wechseln, werden älter, sind ständig in Bewegung, die Kamera rührt sich nicht. Das schillernde Kaleidoskop der Emotionen polarisiert: Kitsch, Kolportage oder erzwungene Versuchsanordnung behaupten die einen, die anderen sehen in „Here“ das spannendste Oeuvre des 72 jährigen Filmemachers.

 

Wenn Wände sprechen könnten: Räume als Ursprung eines Puzzles und stumme Zeugen von Gegenwart und Vergangenheit faszinierten schon den französischen Schriftsteller George Perec (1936–1982). „Das Leben. Gebrauchsanweisung“ erschien 1978 bei Hachette, Paris. Vom Bodenraum bis in die Keller erstreckt sich die 776 Seiten lange literarisch-kriminalistische Spurensuche nach den einstigen Bewohnern des neunstöckigen Mietshauses in der Rue Simon-Crubellier. Die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts, Stück für Stück ans Licht gebracht, aber eigentlich geht es um Strukturen, das Spiel mit der Sprache und die Dechiffrierung des Daseins.

 

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„Here“ basiert auf dem gleichnamigen Comic von Richard McGuire, veröffentlicht 1989 im Magazin RAW. Auf nur sechs Seiten stellte der Zeichner die herkömmliche Auffassung von Zeit und Raum in Frage, 25 Jahre später erschien die Langversion als Graphic-Novel von 300 Seiten. Die Kritiker waren hingerissen, wie McGuire die Menschheitsgeschichte von Jahrzehnten, Jahrhunderten, gar Jahrmillionen durchstreifte auf der Suche nach dem Absurdem. Genussvoll ließ er jegliche Chronologie kollabieren, Parallelwelten entstanden, deren Zusammenhänge auf der Leinwand vielleicht noch offensichtlicher zum Ausdruck kommen als auf dem Papier. Nur manches geht halt verloren von der Magie der gezeichneten Originalvorlage, die zu Recht als erzählerische Offenbarung galt. Aber auch bei Robert Zemeckis tapsen Saurier durch den Urwald, genau dort wo 1907 das Fundament für ein Wohnhaus entsteht. Dem Regisseur und seinem Co-Autor Eric Roth („Forrest Gump“) gelingt, die ästhetische Virtuosität der Graphic-Novel fürs Kino umzusetzen und das Wohnzimmer nie zur Kulisse erstarren zu lassen, ist es doch der eigentliche Protagonist des Mystery Dramas. Fantastisch die ständige Verwandlung des Raum mitsamt Dekor.

 

Jene Zeitreise über Generationen hinweg überzeugt dank digitalem De-Agings. Und so spielt der heute 68jährige Tom Hanks („Forrest Gump") anfangs einen 17jährigen Babyboomer namens Richard. der von einer Karriere als Künstler träumt, nur taugt er nicht zum Rebell der Sechziger. Wenig später wird Freundin Margaret (Robin Wright, „Forrest Gump) schwanger, Heirat folgt. Robert arbeitete von nun an, er ist einer, der Verantwortung übernehmen will, so wie es seine Eltern Al (Paul Bettany) und Rose (Kelly Reilly) immer getan haben. Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs entschlossen Al und Rose sich zum Kauf des Hauses, erschrocken über so viel eigene Courage. Das Wohnzimmer bleibt emotionales Zentrum des Films ob in den Roaring Twenties oder der Gegenwart, ein Kaleidoskop ständig wechselnder Gefühle, Angst, Hoffnungen, flüchtige Momente des Glücks, Verzweiflung und Trauer, die erste große Liebe, Ehestreitigkeiten. Rituale wiederholen sich wie der reich geschmückte Weihnachtsbaum, unbeschwert krakeelende Kinder und ein leicht genervter Vater. Das prosaisch Alltägliche ist aus dieser Perspektive berührend in seiner Unzulänglichkeit. Natürlich will das Blitzlicht bei den Hochzeitsfotos nicht funktionieren, und Al fühlt sich einmal mehr als Verlierer, er schleppt das Kriegstraumata weiter mit sich herum, mit der einzigen Hoffnung, noch ein Whisky könnte helfen. An diesem schwer erkämpften gutbürgerlichen Leben in den eigenen vier Wänden ist wenig Glamouröses, mehr die Sorge ums standesgemäße Überleben. Bei Richard und Margaret reicht das Geld nicht für eine eigene Wohnung, und eigentlich will der Sohn auch gar nicht ausziehen. Er passt sich an, sie fühlt sich eingesperrt, rebelliert, mag zuletzt nicht länger nur von Selbstverwirklichung träumen.


Etwas Klaustrophobisches umgibt dieses geräumige Wohnzimmer, die Fenster mit Blick auf das historische Anwesen im Kolonialstil gegenüber. Eine andere Welt unerreichbar. Trotz ihrer Kürze sind die minimalistischen zwischenmenschlichen Begegnungen intensiv, überzeugen als erzählerische Miniaturen grade durch die realistische Zufälligkeit. „Here“ funktioniert wie unsere Erinnerung ohne Chronologie, eher willkürlich, ein Auslöser genügt. Grandios die Übergänge zwischen den Zeitebenen. Veränderungen kündigen sich an, da wird ein Fernseher aus den Sechzigern zum Fenster in die Vergangenheit, verwandelt sich zum Rundfunkgerät der dreißiger Jahre, -dann erst folgt der gesamte Raum in die nächste Epoche. Kriege und Krisen hinterlassen ihre Spuren, unabhängig davon holen die Bewohner immer wieder den hässlichen Klapptisch aus dem Keller, damit bei Festlichkeiten alle Verwandten Platz finden. Unsere Reaktionen sind gekoppelt an eigene Erinnerungen oder das eher erleichterte Aufatmen, was uns erspart blieb. Wer glücklich war im Elternhaus und sich nun davon trennen muss, kann die Tränen kaum unterdrücken, und wer es nicht war, ist vielleicht um so betroffener. Zemeckis rückt in seiner Familienchronik die Zeit selbst in den Fokus, fragt, was machen wir mit der Zeit, was macht die Zeit mit uns.


Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft existieren in dem Universum des Regisseurs von „Back to the Future“ quasi simultan und beeinflussen einander. Davon ahnen die Akteure in „Here“ nichts. Abgesehen von den Sauriern, einem Urwald-Date und kurzen historischen Ausflügen, konzentriert sich „Here“ auf die letzten 120 Jahren inklusive Covid-Pandemie. Zu den ersten Bewohnern gehören John, ein ambitionierter Pilot und seine Ehefrau Pauline, die überzeugt ist, dass ihrem Gatten die Leidenschaft fürs Fliegen das Leben kosten wird. Die gemeinsamen Tochter spielt Geige und versteht durchaus die Passion ihres Vaters für die Luftfahrt. Der stirbt bald, nicht durch einen Flugzeug-Absturz, sondern an der Spanischen Grippe und wird aufgebahrt im Wohnzimmer. Es folgt ein lebenslustiges Paar, sie Pin-up-Model und er der Erfinder des berühmten „Lay-Z-Boy“, ein Sessel mit ungeahntem technischen Komfort, der dem Paar den lang ersehnten Reichtum bringt. Wenige Träume erfüllen sich, und wenn, dann nicht so, wie erhofft. Verlassen von seiner Ehefrau Margarete kann sich Richard im Alter doch noch dem Malen widmen, endlich sehen wir auf der Leinwand den sonst immer verdeckten Mond. Am berührenden die Szene, als das Grundstück zum Verkauf steht, im sonst leeren Wohnzimmer nur zwei braune Klappstühle. Richard, Mitte Achtzig, führt die schon vor vielen Jahren an Alzheimer erkrankte Margarete in die uns allen vertrauten vier Wände: „Das war unser Zuhause, hier haben wir gelebt". Regisseur Zemeckis sieht seinen Film als Meditation über den Tod.

 

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Here. Die besten Jahres deines Lebens

Originaltitel: Here
Regisseur: Robert Zemeckis

Drehbuch: Eric Roth, Robert Zemeckis

(basierend auf der Grafic-Novel von Richard McGuire

Produktionsland: USA, 2024

Länge: 104 Minuten

Darsteller: Tom Hanks, Robin Wright, Kelly Reilly, Michele Dockery, Gwilym Finn, Nicholas Pinncock, Nikki Asuka-Bird, Cache Vanderpuye

Kinostart: 12. Dezember 2024

Verleih: DCM

 

Fotos, Pressematerial & Trailer: © DCM

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