Ein Nein akzeptierte sie nicht: Lee Miller (überragend Kate Winslet), umschwärmtes Ex-Model und Muse berühmter Künstler wie Man Ray, widersetzt sich erfolgreich männlicher Dominanz. Sie – „Die Fotografin“ – sucht ständig neue Herausforderungen, dokumentiert als eine der ersten Kriegsreporterinnen in eindringlichen surrealistischen Bildern die Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs.
Ellen Kuras („Vergiss mein nicht“), Kamerafrau von Michel Gondry, Martin Scorsese, Spike Lee und Jim Jarmusch, inszeniert ihr Spielfilmdebüt unerwartet klassisch. Die britische Regisseurin überlässt die Dramatik der hochemotionalen Szenen ganz der Protagonistin. Grade jene Momente der Enttäuschung, des Zorns gehören zu den stärksten in der Karriere der Oscar-prämierten Schauspielerin.
Noch genießt Modefotografin Lee Miller (1907–1977) mit Freunden unbeschwert den Sommer 1938 in Südfrankreich, die Bedrohung durch den nahenden Nationalsozialismus unterschätzen sie alle. Noch klingen die Wortgefechte zwischen Lee und ihrem späteren Ehemann, dem Künstler, Kurator und Mitbegründer des britischen Surrealismus, Roland Penrose (Alexander Skarsgård), fast spielerisch wie getarnte Liebeserklärungen. „Ich habe nie Unrecht“ erklärt die US-Amerikanerin, die Verleger Condé Nast nach einer Zufallsbegegnung als Fotomodell engagierte. Der Herausgeber von Vanity Fair und Vogue hatte die damals 19jährige Studentin in Manhattan davor bewahrt, von einem herannahenden Wagen überfahren zu werden. Biographische Details wie vergangene Liaisons oder Ehen ebenso ihre künstlerischen Vielseitigkeit, spart der Film aus, konzentriert sich auf wenige entscheidende Abschnitte in ihrem Leben. Unwillkürlich aber entstehen Überschneidungen mit der heutigen Gegenwart wie die Fehleinschätzungen politischer Krisenherde oder die wachsende Macht des Rassismus, das Gefühl von Ohnmacht.
Die ständig Zigaretten rauchende Mittdreißigerin präsentiert sich schroff, brillant, furchtlos, voller Energie und Geheimnisse, die sie nie mit jemandem teilen wird. Immer in Abwehrhaltung, bereit zum verbalen Gegenangriff. Warum, dass beginnen wir erst später zu begreifen. Sie lehne jeden ab, der sie in Frage stellt, das behauptet zumindest der spätere Ehemann. Es ist, als wäre die viel Umschwärmte immer auf der Suche- oder der Flucht vor sich selbst. 1940 folgt sie Penrose nach London. Vorbei die leuchtenden Farben des Südens, gedeckte Braun- und Grautöne dominieren auf der Leinwand. (Kamera: Paweł Edelman, „Der Pianist“) Die Fotografin beginnt für die Zeitschrift Vogue zu arbeiten, ihre Reportagen schildern den Einsatz englischer Frauen während der Bombardements an der Heimatfront, doch Lee will an die Kriegsfront. Für die britische Armee sind weibliche Berichterstatterinnen im Kampfgebiet ein Tabu. Lee akzeptiert kein Nein, erhält schließlich eine Akkreditierung der US Army. Allein macht sie sich nach Europa auf, Richtung Saint-Malo. Der Krieg und eine tiefe Zuneigung verbinden die Amerikanerin mit dem Life-Fotografen David E. Sherman (Andy Bamberg), die beiden entwickeln sich zum eingeschworenen Team, sind meist die Ersten, die exklusive Meldungen und Fotos von der Front veröffentlichen. Miller und Sherman dokumentieren die Befreiung von Paris, die Begeisterung der Franzosen aber auch den Hass auf jene Frauen, die sich auf Beziehungen mit den Deutschen eingelassen hatten. Es ging oft ums Überlieben, aber auch um wirkliche Gefühle. Wo keiner Verständnis oder Mitleid zeigt, Lee bezieht Position, steht auf der Seite der Unterdrückten, der Entrechteten, der Wehrlosen.
Die Fahrt im Jeep geht weiter durch ein zerbombtes, moralisch zerrüttetes Niemandsland, eine Welt, die in sich zusammengebrochen ist: In der bürgerlichen Wohnung eines wohlhabenden NS-Politikers fotografiert Lee die Leiche eines wunderhübschen kleinen Mädchens - kollektiver Selbstmord einer Familie. Miller und Sherman gehören zu den ersten Kriegsberichterstattern, die Buchenwald und Dachau betreten. Der Blick in den Abgrund. Das Unfassbare, Unvorstellbare. Ellen Kuras’ Film will mehr sein als ein konventionelles Biopic, konzentriert sich auf die Entstehung der Aufnahmen. Die Traumata ihrer frühen Kindheit prägten Lees radikal subjektiven Blick. Sie erkennt das Ausmaß des Schmerzes in den Augen der KZ-Opfer, spürt jene Verletzungen auf, die für andere unsichtbarer bleiben. Die Fotografin scheut keine Konfrontation mit dem Extremen, sie klettert in die Waggons voller Leichen, der Gestank unerträglich, sie sucht das Grauen, den Schrecken, als könnte sie ihn entlarven, zur Strecke bringen. Nichts mehr in ihrem Gesicht erinnert an die ausgelassene lachende Frau in Südfrankreich. Sie ist gealtert, jede Etappe des Krieges hat in ihrem Gesicht seine Spuren hinterlassen. Die Erinnerungen verfolgen sie bis an das Ende ihres Leben. In diesem Moment ist die Rolleiflex Kamera noch Waffe und Schutzschild zugleich. In München erkaufen sich Miller und Sherman den Zugang zu Hitlers Wohnung am Prinzregentenplatz 16 mit einem Päckchen Zigaretten, die Sieger feiern hier ihre Überlegenheit. Lee dagegen hofft auf ein heißes Bad und sieht die Chance für ein spektakuläres Foto. Dieses eine Mal posiert sie, hinter sich auf dem Rand der Badewanne Hitlers Porträt im Rahmen, der beschlägt, weg mit dem Glas, sie ist nackt, doch dieses Mal sind anders als in jenem Sommer in Südfrankreich die Brüste verdeckt von den Armen. Auf der weißen Frotteematte vor der Wanne auffällig drapiert ihre schlammbedeckten Stiefel, mit denen sie das Konzentrationslager Dachau durchquert hatte. Ihr Kollege drückt auf den Auslöser.
„Die Fotografin“ basiert auf der von Anthony Penrose verfassten Biografie über seine Mutter: „Immer lieber woanders hin - Die Leben der Lee Miller“. Lem Dobbs, Liz Hannah, John Collee und Marion Hume schrieben das Drehbuch, Der Film ist Kate Winslets erklärtes Passion Projekt, als Produzentin kämpfte sie jahrelang unerbittlich für die Realisierung. In ihren Augen verkörpert Lee Miller das Ideal realen Feminismus. Eine Frau, die Ihre Rolle in der Gesellschaft selber definieren will, sich den Erwartungen der Umwelt total verweigert, ungeachtet aller Widerstände, bereit ihr Leben dafür zu riskieren. Sie ist Ikone, Vorbild aber auch Projektionsfläche. Regisseur Alex Garland gab seiner desillusionierten Heldin in „Civil War“, gespielt von Kirstin Dunst, den Namen der legendären Kriegsfotografin, die er so bewundert. Auch Garlands erfolgreiche Protagonistin zerbricht an ihrem Beruf, und doch lässt der sie nicht los, bestimmt vollständig ihr Fühlen, Reagieren. Kriegsfotografie frisst die Seele auf. Aber Kuras’ Film erzählt nicht nur vom Entstehen der Bilder, sondern auch vom dem Umgang mit der Wahrheit. Als Lee nach England zurückkommt, muss sie entdecken, dass in der „Victory issue“ der Vogue vom Juni 1945 die eigentlich geplante Bildstrecken aus dem Konzentrationslager Dachau fehlt, die Leichen, das Porträt eines traumatisierten jungen Mädchen, das überlebt hat. Man wollte der Bevölkerung es nicht zumuten, sollte doch irgendwann wieder Frieden geschlossen werden zwischen den Nationen. Diese Verbrechen, sollten sie selbst vom Ausland totgeschwiegen werden?
Lee Miller veränderte den Fotojournalismus grundlegend. Doch es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis ihr Werk die Aufmerksamkeit erhielt, die es verdiente. Was macht es mit einem Menschen, der sein Leben riskiert für diese Aufnahmen und dann wird etwas Amüsantes, Unterhaltsames vorgezogen, oder ein paar Skandalnachrichten aus dem Showbusiness? Es passiert uns Journalisten öfter, Aber in diesem Fall, macht es einen sprachlos. Verschweigen heißt legitimieren. Das Gefühl von Ohnmacht, unbegreiflichem Unrecht zerstört selbst den Tapfersten. Und Lee Miller war tapfer. Es gehörte schon Mut dazu, sich als Modell den Blicken Anderer zu stellen, Lee wurde als Siebenjährige vergewaltigt. Verständlich nun ihre Defensivhaltung, sie setzte Schönheit, ihren Körper bewusst ein, signalisierte: Ich habe keine Angst vor Euch. Sie lernte von den Machos, bot Paroli ob Pablo Picasso oder einem Cecil Beaton. Aber diese Entscheidung der Vogue traf sie tief. Sie zerschnitt voller Wut die Negative, verbannte die Fotografien in einer Schachtel auf dem Dachboden, sprach mit ihrem Sohn nie über die Vergangenheit. Er kannte sie nur als exzellente Köchin und Gastgeberin, und etwas distanzierte Mutter. Im Film interviewt ein junger unsensibler Journalist die mittlerweile siebzigjährige ständig Whisky trinkende Kettenraucherin (ebenfalls grandios gespielt von Kate Winslet). Lee schweigt anfangs beharrlich: "Was springt für mich dabei heraus?“ Das Interview mit dem aufdringlichen Journalisten entpuppt sich am Ende als das fiktive Gespräch, das Mutter und Sohn nie hatten führen können.
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Originaltitel: Lee
Regie: Ellen Kuras
Drehbuch: Lem Dobbs, Liz Hannah, John Collee, Marion Hume
Darsteller: Kate Winslet, Andy Samberg, Alexander Skarsgård, Marion Cotillard
Produktionsland: Großbritannien, 2023
Länge: 116 Minuten
Kinostart: 19. September 2024
Verleih: StudioCanal Germany
Fotos, Pressematerial & Trailer: © StudioCanal
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