Film

Der Diebstahl eines Neugeborenen aus kirchlicher Baby-Klappe ist Ausgangspunkt von Hirokazu Kore-edas in Südkorea gedrehtem Roadmovie „Broker“. Ähnlich wie in „Shoplifters“ erklärt der japanische Regisseur die herkömmliche Moral als untauglich zum Überleben am Rande der Gesellschaft

 

Familie bleibt der zum Scheitern verurteilte Versuch einer Utopie. Aber zwischen kaltem Materialismus und tiefer Menschlichkeit, zwischen Tragik und Komik entsteht eine Schicksalsgemeinschaft, die Glück wenigstens für ein paar Stunden greifbar macht.

 

„Shoplifters“ (2018) erhielt in Cannes die Goldene Palme, einhellig positive Kritiken und entwickelte sich zum internationalen Publikumsliebling. Thriller, Parabel, Lovestory, facettenreiches Aquarell, kein Begriff wird diesem filigranen manchmal schwer zu entschlüsselnden Wunderwerk gerecht. Was verbindet Menschen eigentlich, fragt Kore-eda: Geld, Gaunereien oder bedingungslose Zuneigung? Kann eine fremde Frau nicht vielleicht eine viel bessere Mutter sein als die Leibliche? Der Autorenfilmer entwickelte den Plot für „Shoplifters“ und „Broker“ zur selben Zeit, inspiriert durch die Recherchen für den Film „Like Father, Like Son“ (2013). Um den Protagonisten des Prekariats jenen ungeschliffenen Charme geben zu können, einen Mix aus Humor, Trauer, Optimismus, Stolz, Verrat und desperater Loyalität, wich der japanische Regisseur von seiner formalen Strenge wie in „Nobody Knows“ (2004) ab und inszenierte mit subtiler Finesse ästhetisch virtuos das schillernde Beziehungsgeflecht einer Familie von Kleinkriminellen, die nicht im biologischen Sinne miteinander verwandt sind.

 

Südkorea, Busan. Nachts huscht eine junge Frau durch den strömenden Regen, sie lässt ihr Neugeborenes vor, wohlgemerkt nicht in der Babyklappe einer Kirchengemeinde zurück. Beobachtet wird sie dabei von zwei ehrgeizigen Polizei-Ermittlerinnen, unterwegs im Dauereinsatz, um den Drahtziehern illegaler Adoptionen das Handwerk zu legen. Ins Visier geraten Sang-hyeon (grandios Song Kang-Ho) und Dong-soo (Dong-won Gang), ein eher zartbesaitetes als gerissenes Kleinkriminellen-Duo mit notorischen Geldsorgen. Die beiden sind nicht, wie vermutet, Teil einer großen Organisation, sondern klauen nur gelegentlich einen Säugling aus der Babyklappe. Gewissensbisse quälen die Kidnapper kaum, wissen sie doch, dass die meisten Frauen einen Zettel hinterlassen ohne Namen, wo sie zwar versprechen, wieder zurückzukommen, um das Kind zu holen, was zur Folge hat, dass diese nicht nicht zur Adoption freigegeben werden dürfen. Aber nur eine Mutter von 40 hält ihr Versprechen. Dong-soo, selbst im Waisenhaus aufgewachsen, kennt das Gefühl, vielleicht besser nicht geboren zu sein.

 

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Unerwartet taucht den nächsten Tag die Mutter des gestohlenen Babys auf. Sie heißt So-young (sensationell Lee-Ju-eun), ist Prostituierte und bereut ihre Entscheidung. Schnell kommt sie den Dieben auf die Spur. Der ältere Sang-hyon betreibt eine Reinigung für Abendkleider, Dong-soo arbeitet ehrenamtlich in der Gemeinde, versteht sich auf Elektronik und hat sofort die Daten der Überwachungskamera von der Babyklappe gelöscht. Irgendwelche ehrenwerten Motive nimmt die wutentbrannte So-young den Männern nicht ab, in ihren Augen sind sie keine Samariter sondern geldgierige Broker, nichtsdestotrotz ist sie durchaus interessiert an einer prozentualen Beteiligung des Vermittlungshonorars für die Adoption. Zusammen machen sich die drei plus Baby in dem zerbeulten Mini-Van von San-heyeons Wäscherei auf die Fahrt durch Süd-Korea, um passenden Eltern für den kleinen Woo-sung zu finden. Es entwickelt sich eine Schicksalsgemeinschaft, die unwillkürlich an „Shoplifters“ erinnert, wenn auch weniger idyllisch. Mit gebührendem Sicherheitsabstand folgt das Fahrzeug der beiden Polizistinnen, Su-jin (Donna Bad) und Lee (Lee Joo-young). Die Langweile während des nie enden wollenden Wartens vertreiben sich die zwei mit Snacks aller Art, ihr Wagen gleicht einer Mülltonne. Für Mütter, die sich ihres Babys entledigen als wäre es Abfall, haben sie kein Verständnis

 

Die hitzköpfige So-young hatte versprochen sich zurückhalten bei den Verhandlungen mit den potenziellen Adoptiveltern. Diplomatie ist ganz offensichtlich keine ihrer Stärken, als das Ehepaar am Aussehen des Babys nörgelt, auf dem Foto im Internet wäre es viel niedlicher gewesen, die Augenbrauen seien so komisch, explodiert So-young, solchen Arschlöchern würde sie nie ihr Kind geben. Ein Abstecher zu dem Waisenhaus, wo Dong-soo seine Kindheit verbrachte, erklärt, warum die Baby-Diebe sich als Retter und nicht als Kriminelle fühlen. Die kleinen Jungen im Heim verehren Dong-soo, den Survivor ihres Martyriums wie ein Fußball-Idol, vielleicht ist es die Freiheit der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten, um die sie ihn beneiden, um seine Freunde, die aufregende Reise mit dem klapprigen Mini-Van. Heimlich schließt sich ihnen der achtjährige Waisenjunge Hae-jin an. Seine Abenteuerlust, seine provozierenden Fragen lässt die Erwachsenen enger zusammenrücken, einander besser verstehen. Ablehnung und Verlust haben das Leben der Protagonisten geprägt, ein Hauch von Einsamkeit umgibt sie alle. Sang-hyen sehnt sich schmerzlich nach der eigenen Tochter, selbst wenn er lacht, erdrückt ihn die Traurigkeit. Son-young hat immer einen Vater vermisst, den ihres Sohnes, einen brutalen Gangster hat sie umgebracht.

 

Jeder gesetzlose Freiraum braucht Legitimationen. Wir entsinnen aus „Shoplifters“: „Was in einem Laden liegt, gehört noch niemanden", das lernte die Jüngste von ihrem sogenannten Bruder. Kore-eda verklärt weder seine Anti-Helden noch die Armut. Der Optimismus von Osamu Shibat (Lily Franky) ist ansteckend, seine selbst gebastelte Philosophie der Ersatz für das Unerreichbare, Geld, Bildung, Sicherheit, eine Zukunft. Der emsige gerissene Gauner lehrt die Kids stehlen. „Warum?“, fragt ihn am Ende ein Beamter. „Was hätte ich ihnen sonst beibringen können.“ Diese Antwort schmerzt ihn selbst am meisten. Eine Gesellschaft zwischen Rezession und Umbruch, sie verleugnet die Ärmsten, nackte Wut packt den Autorenfilmer über so viel himmelschreiende Ungerechtigkeit, und doch erzählt er mit scheinbarer Beiläufigkeit davon. Es zerreißt einem das Herz. Der Zuschauer muss sich an die Wahrheit herantasten.

 

In „Broker – Familie gesucht“ ist die Wahrheit leichter zugänglich, offensichtlicher, doch das Glück noch rarer. Diese Welt ist härter, realistischer, unmöglich sich Momente vorzustellen, wie wir sie aus „Shoplifters“ kennen: Ein Feuerwerk, die Familie sitzt draußen vor dem winzigen Haus, sehen können sie keine von den Raketen, die in den nächtlichen Himmel schießen, ihre Sicht ist verstellt von Betonmauern, aber die Geräusche beschwören in ihrer Fantasie das Spektakel, sie haben zusammen gelernt mit unendlich wenig glücklich zu sein. Diese Fähigkeit spürt man in dem neuen Film von Kore-eda höchstens ansatzweise bei dem achtjährigen Waisenjungen, der Ausflug in den Lunapark mit Riesenrad, liebevoller Fürsorge, unbeschwertem Gelächter und rosa Zuckerwatte ist für ihn überwältigend. „Heute war so ein lustiger Tag, den sollten wir nicht vergessen“. Soo-young begreift, dass sie nicht allein ist auf der Welt, während Dong-soo davon träumt, wie es wäre, wenn sie zusammen blieben, sich selbst um den Kleinen kümmern. Bei Kore-eda ist kein Platz für solche Happy-Ende, aber wenigsten für praktikable liebevolle Lösungen, mit denen wir leben können. Dieser Roadtrip hat sogar die beiden Polizistinnen verändert, sie waren es übrigen, die Woo-sung in die wärmende Babyklappe legten.

 

Manche Kritiker tun „Broker – Familie gesucht“ als sentimental ab. Gäbe es für sentimental doch nur ein anderes, treffenderes Synonym, Kore-eda hat eine völlig neue Kunstform daraus geschaffen, selbst hellblaue und rosarote Neonlichter bekommen nahe dem Abgrund und der Verzweiflung eine neue tiefere Bedeutung, das Glück könnte nicht fragiler sein und grade deshalb ist es unendlich kostbar. Song Kang-ho in dem Part des väterlichen Sang-hyeon verteidigt es mit sanftem trotzigem Zorn, er ist das Alter Ego des Autorenfilmers, spricht die entscheidenden Worte, wenn er sich wie einem Ritual an jeden seiner drei Weggefährten wendet: „Dank, dass Du geboren wurdest.“ Für die Rolle erhielt er in Cannes 2022 die Auszeichnung als bester Schauspieler.

 

„Broker – Familie gesucht“ richtet sich an die Betroffenen. Bei seinen Recherchen begegnete der Autorenfilmer Kindern, die in Waisenhäusern aufwuchsen, weil ihre Eltern sie weggegeben hatten. Einige dieser Kinder fragten sich: "War es überhaupt gut, dass ich geboren wurde?“ „Sie konnte sich diese existenziellste aller Fragen nicht beantworten,“ schreibt Kore-eda in seinem ‚Director’s Statement‘. „Als ich das hörte, war ich sprachlos. Was bringt es, mit tröstenden Worten auf diese Fragen zu antworten? Könnte ich ihnen wirklich erklären, dass es nicht einen Menschen auf der Welt gibt, der es nicht verdiente, geboren zu werden? Was für einen Film könnte ich diesen Kindern anbieten, die tagtäglich gegen innere und äußere Stimmen ankämpfen, die ihnen sagen, sie hätten nie geboren werden sollen? Beim Dreh des Films stand diese Frage stets im Zentrum. „Broker“ ist ein Film, in dem ich genau dieses Leben betrachte und durch die Figuren mit meiner eigenen Stimme spreche. Es ist ein Film, der einer Bitte oder einem brennenden Wunsch gleicht.“

 

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Broker – Familie gesucht

Originaltitel: 브로커 (Beurokeo)

Englischsprachiger Titel: Broker

Regie: Hirokazu Kore-eda

Drehbuch: Hirokazu Kore-eda

Darsteller: Song Kang-ho, Gang Dong Won, Doona Bae, Lee Ji Eun, Lee Joo Young

Produktionsland: Südkorea, 2022

Länge: 129 Minuten

Kinostart: 16.März 2023

Verleih: Plaion Pictures

 

Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Plaion Pictures

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