Film

Als „Fabel nach einer wahren Tragödie” bezeichnet Pablo Larraín seine ästhetisch virtuose Horror-Farce „Spencer”. Der chilenische Regisseur und sein britischer Drehbuchautor Steven Knight befreien Lady Di (überragend Kristen Stewart) von ihrem ikonischen Image.
Endlich darf Diana, Princess of Wales, aus der Rolle fallen, muss nicht mehr um Sympathie buhlen, darf störrisch sein, ungerecht, kokett, zornig, verzweifelt, ihre Ängste ausleben, versagen wie eine Frau aus Fleisch und Blut. Sie stellt die ihr verhasste Märchenwelt auf den Kopf und ist betörender denn je. Eine Vogelscheuche am Feldrand avanciert zum Symbol der Suche nach Identität.   


Sandringham House, Dezember 1991. Ein Militärkonvoi hält vor dem königlichen Landsitz, Soldaten im Marschschritt schleppen riesige graue Holzkisten Richtung Küchentrakt. Was Kriegsgerät vermuten lässt, entpuppt sich als atemberaubend kulinarische Köstlichkeiten, die in den nächsten Tagen der Queen und ihrer Familie aufgetischt werden. Eine Brigade von Köchen rückt an, der Kampf beginnt, möglichst geräuschlos. Die Herrschaften können alles hören und vielleicht auch alles sehen, selbst Gedanken lesen, das ist die Furcht der Bediensteten. Christmas bei den Royals verlangt maximale Disziplin, alle sind versammelt, nur Prinzessin Diana hat sich verspätet, und sie wird es immer wieder tun. Rebellion oder Angst? Ihre Ehe mit Charles ist auf dem äußersten Tiefpunkt angelangt. Der Zuschauer spürt vom ersten Moment an die Kälte, das Misstrauen, die Lady Di umgeben: Bewacht, gegängelt, isoliert, der Lächerlichkeit preisgegeben.

Und was treibt ihre Königliche Hoheit? Die kurvt orientierungslos im schwarzen Sportcabriolet durch die Grafschaft Norfolk. „Where the fuck am I?” seufzt sie und sucht Rat bei den Dorfbewohnerinnen im Cafe der Tankstelle, die erstarren bei Ihrem Anblick. Ehrfurcht oder Schrecken? Sie hätte sich verirrt, verkündet Lady Di mit kokett entschuldigendem Lächeln. Das englische „I am lost” trifft es eher als die deutsche Übersetzung. Den Weg müsste sie nur zu gut kennen, nicht nur von den Weihnachtsfesten der Vorjahre her sondern auch weil sie unweit von hier aufgewachsen ist. Spencer, ihr Mädchenname, steht für Selbstbestimmung, Unbeschwertheit, jene Zeit, wo Träume und Hoffnungen noch Teil des Daseins waren. Die Vogelscheuche zwischen den Feldern, Bertie getauft, trägt noch immer die Jacke ihres Vaters. Auf Sandringham schließen die Söhne William und Harry ihre Mutter begeistert in die Arme, sie klagen über die Kälte, doch die Heizung wird nicht höhergestellt, stattdessen gibt es kuriose Rituale, denen Diana sich Jahr für Jahr widersetzt: Alle Gäste werden gewogen bei Ankunft und Abreise. „Fun” soll es sein, und die strikte Einhaltung überwacht der neue Sicherheitschef Alistair Gregory (unerbittlich Timothy Spall). Ist doch die Gattin von Prince Charles ein Sicherheitsrisiko für sich und hatte in den letzten Monaten reichlich für Schlagzeilen gesorgt.

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Die königliche Familie muss vor den sensationsgierigen Blicken der Öffentlichkeit geschützt werden. Da Lady Di nicht der Weisung folgt, die Vorhänge zugezogen zu lassen, werden sie zugenäht. Hier ist alles streng reglementiert, auch die Reihenfolge der Kleider zu den verschiedenen Mahlzeiten und Anlässen vorgeschrieben. Und wieder verweigert sich Diane. Jenes Kleid passe nicht, erklärt sie kategorisch, die Dienerin versichert, sie hätte es enger gemacht, nein, die Prinzessin meint ihre Stimmung. Sie kann überaus kapriziös sein, verachtet Charles’ (Jack Farthing) pragmatischen Standpunkt, zu lange hat sie sich angepasst, untergeordnet bis von ihr selbst kaum noch etwas übrigblieb. „Man muss in der Lage sein, Dinge zu tun, die man hasst. Es muss zwei von Dir geben”, belehrt sie der Noch-Ehemann. Je größer die politische Verantwortung, desto kleiner der Spielraum für private Gefühle. Pablo Larraín verwandelt die Royals weder in Karikaturen noch Ungeheuer, nur die Atmosphäre wird immer beklemmender, klaustrophobischer, gespenstischer. Genau wie die Protagonistin kann der Zuschauer oft nicht mehr unterscheiden zwischen Angst-Vision und Realität. Die Paranoia wächst, Lady Di glaubt zu ersticken, reißt sich beim Dinner das Perlencollier vom Hals, die Perlen kullern in die Suppe, sie schluckt sie betont gleichmütig hinunter. Die Kette ist das Weihnachtsgeschenk von Charles, seine Geliebte bekam die Gleiche. Dianas Perspektive wird zu unserer. Der Geist von Anne Boleyn verfolgt sie, jener Königin 1536 geköpft wegen angeblicher Untreue, damit ihr Gatte, Heinrich VIII ungehindert seine Liaison ehelichen konnte. 

Bilder einer scheinbar glücklichen Kindheit verdrängen die Gegenwart. Die Verzweifelte will heim, doch das verlassene Elternhaus ist verbarrikadiert mit Stacheldraht wie eine Sperrzone. In Abendrobe und Gummistiefeln, ausgerüstet mit einer Drahtschere bricht die Prinzessin nachts auf in die Vergangenheit: Jede Grenze, jedes Verbot, jede Schwäche ist da, um überwunden zu werden. Das ist mehr als Rebellion, Annäherung an den Wahnsinn. Diana darf sich verlieren, um sich dann neu zu definieren. „Spencer” ist das Gegenstück zu „Jackie” (2016), ein mitreißendes collageartiges Drama zwischen Fiktion und Realität, Horror, Sehnsucht und Satire: poetisch, bizarr, ästhetisch betörend, überbordend an Assoziationen. Wie ein Pfauengefieder umgibt das Abendkleid die Protagonistin, wenn sie sich kniend über der Toilette erbricht. Die endlosen furchteinflößenden Korridore erinnern an Kubricks „Shining”, nur für die königliche Familie ist sie, Diana, das Monster. Larraín schenkt ihr und den beiden Söhnen ein wundervoll optimistisches Finale. 

„Wir alle sind seit Kindertagen mit Märchen vertraut, doch Diana Spencer veränderte deren Paradigmen und die idealisierten Vorbilder der Popkultur von Grund auf, schreibt Pablo Larraín im Statement des Regisseurs: „Dies ist die Geschichte einer Prinzessin, die nicht Königin werden wollte, sondern sich eine eigene Identität erschuf. Sie stellte die Märchenwelt auf den Kopf. Bis heute bin ich von der Entscheidung, die für sie extrem hart gewesen sein muss, überrascht. Dieser Schritt bildet das Herzstück des Films. Ich wollte Dianas Entscheidungsprozess beleuchten, das Schwanken zwischen Zweifeln und Entschlossenheit bis zum letztendlichen Befreiungsschlag für sie selbst und ihre Kinder. Ihre Entscheidung wurde ihr Vermächtnis: Dieses Bekenntnis zu Ehrlichkeit und Menschlichkeit ist bis heute beispiellos.  

Die Arbeit an „Jackie: Die First Lady” (2016) war ein weiterer Grund, weshalb ich die Persönlichkeiten von Frauen, die das Gesicht des 20. Jahrhunderts entscheidend prägten, analysieren und darstellen wollte. Beide, Diana und Jackie, schufen sich eine eigene Identität, die sich nur bedingt aus der Lebenswelt ihrer Ehemänner speiste. Jede von ihnen wusste die Medien ihrer Zeit auf ihre eigene Weise zu nutzen, um der Außenwelt ein bestimmtes Bild von sich zu vermitteln. 

Als Diana beschließt, Charles zu verlassen und der königlichen Familie und dem damit verbundenen Leben den Rücken zu kehren, trifft sie diese Entscheidung für sich selbst, denn ihr ist klar geworden, dass ihr die eigene Identität wichtiger ist als die der Königsfamilie oder der Nation. Sie trifft sie nicht aus Bequemlichkeit, sondern aus innerer Notwendigkeit. Sie lebt in einem Umfeld, das sie erdrückt und herabsetzt und vor dem sie sich und ihre Kinder schützen muss. Dianas Entscheidungsprozess, ihr Schwanken zwischen Zweifeln und Entschlossenheit, der sich in den Weihnachtstagen auf Sandringham verdichtet, mag nur einen verknappten Einblick in ihr Leben gewähren, steht aber exemplarisch für ein großes Ganzes. Wenige Tage spiegeln ein Leben wider. In Zeitungen, Zeitschriften und Büchern finden sich unendlich viele Geschichten und Berichte über Diana. Einige entsprechen der Wahrheit, andere nicht. Wir haben zu ihrer Person, den königlichen Weihnachtsbräuchen sowie den Anekdoten über die Geister von Sandringham intensiv recherchiert. Aber das Schweigen der Königsfamilie ist legendär. Selbst wenn sich ihre Mitglieder zu bestimmten Anlässen in der Öffentlichkeit zeigen, irgendwann schließen sich die Türen, und von da an bleibt alles, was dahinter geschieht, ein Geheimnis. 

Dies ruft die menschliche Vorstellungskraft auf den Plan. Darin bestand unsere Arbeit. Wir wollten kein Doku Drama machen, sondern aus Elementen der Realität und unserer eigenen Vorstellung das Leben einer Frau mit den Mitteln den Kinos erzählen... Bei der Figurenzeichnung lag uns nicht daran, Dianas wohlbekanntes Image nachzubilden. Vielmehr wollten wir mit den Stilmitteln des Kinos, Zeit, Raum und Ton, eine innere Welt erschaffen, die die Rätselhaftigkeit und die Fragilität ihres Charakters vermittelt. Diese beiden Eigenschaften sind in den Szenen, die Elemente des Übernatürlichen aufweisen, besonders augenscheinlich. Hierbei wollte ich jedoch nicht ins Paranormale oder Absurde abgleiten, sondern Dianas Innenleben abbilden. In allem, was sie sieht, spiegeln sich ihre Erinnerungen, ihre Ängste und Wünsche, ja vielleicht sogar ihre Illusionen. Die Elemente des Übernatürlichen reflektieren ihre Befindlichkeit und auf diese Weise eine Verletzlichkeit betörender Schönheit.”  

Kristen Stewart kennt seit „Twighlight” den zerstörerischen Druck der Medien, es ist, als würde man der eigenen Persönlichkeit beraubt. Die Schauspielerin ähnelt Lady Di äußerlich eigentlich nicht, aber sie verinnerlicht deren Schmerz, das Unberechenbare, den Tonfall ihrer Stimme, manchmal haucht sie die Antworten nur, dann wieder sind die Erwiderungen scharf, provokativ ironisch. Diana hat sich längst selbst zur Kunstfigur stilisiert mit jener rehäugigen Sanftheit, dem schräg gelegten Kopf, ein Gesicht, das nichts preisgeben will von sich, bemüht, Misstrauen und Angst zu kaschieren und doch kläglich scheitert. Im Gegensatz zu „Personal Shopper” und „Die Wolken von Sils” wird von Stewart nun Künstlichkeit gefordert, die sich auf rätselhafte Weise überschneidet und vermischt mit intimsten realen Emotionen. Eine Frau auf der Flucht, die sich ständig hinter Türen verbarrikadiert, zwischen Selbstverletzung und Ängsten mit sich selbst um Achtung ringt, während der königliche Clan nur darauf spekuliert, dass sie völlig durchdreht.  

Claire Mathons Kamera folgt ihr, umkreist sie, beschützt sie. Kurze Momente des Glücks mit den Söhnen, und doch sind die Jungen hilflos, wenn sich die Mutter wieder einmal hinter einer Tür verschanzt, kein Betteln hilft, sie kennen das magische Zauberwort nicht, die traurige Prinzessin zu erlösen. Stephan Knight, Autor von „Peaky Bleaks”, versteht sich auf düstere spannungsgeladene zwischenmenschliche Auseinandersetzungen verborgener Gewalt. Die Dialoge ähneln manchmal fast Selbstgesprächen. „Für mich gibt es hier keine Hoffnung, nicht mit denen.” „Du musst gegen sie kämpfen”, beschwört Garderobiere Maggie (Sally Hawkins) Lady Di. „Du bist Deine eigene Waffe”. Pablo Larraín kreiert für Chanel Fan Diana vielleicht einen der verblüffendsten Fluchtversuche der Kinogeschichte. Ihr Auftritt als Vogelscheuche bei der königlichen Fasanenjagd ist hinreißend und zutiefst berührend. 

 

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Originaltitel: Spencer

Regie: Pablo Larraín 
Drehbuch: Steven Knight
Darsteller: Kristen Stewart, Sally Hawkins, Timothy Spall, Jack Farthing, Richard Sammel, Amy Manson, Sean Harris
Produktionsland: Großbritannien, Deutschland
Länge: 111 Minuten
Kinostart: 13. Januar 2022
Verleih: DCM Film Distribution GmbH

 

Trailer, Pressematerial & Fotos: Copyright DCM Film Distribution GmbH

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