Im Juni 1959 brach Pier Paolo Pasolini in seinem Fiat Millecento auf, die Küste Italiens zu umrunden. Noch war er nicht der legendäre Regisseur des Neorealismus, sein Auftrag für die Zeitschrift „Successo” lautete, das veränderte Ferienverhalten der Mitbürger zu erkunden.
Aus der Reportage wurde ein poetisch philosophisches Reisetagebuch: Melancholisch, amüsant, politisch kompromisslos. Pasolini empfand den wachsenden Konsumismus schlimmer als jede Diktatur.
Sechzig Jahre später wiederholt der deutsche Dokumentarfilmer Pepe Danquart mit einem Fiat Millecento und kleinem Kernteam jene Reise von fast 3000 Kilometern. „Vor mir der Süden” ist ein frappierendes, vielschichtiges Roadmovie, es zeigt, in welch erschreckendem Ausmaß Pasolinis Prophezeiungen sich bewahrheitet haben.
„Mein Herz klopft vor Freude, Ungeduld, Erregung. Ganz allein, ich und mein Fiat Millecento und der ganze Süden vor mir... Ich stürze mich in die Fahrt am fremdfeindlichen verführerischen Ionischen Meer entlang”. Pasolinis Texte im Off begleiten uns auf der Reise mit Pepe Danquart, sind Orientierungspunkt und Herausforderung, gesprochen von Ulrich Tukur. Vielleicht hätte ich mir eine andere Stimme gewünscht, näher am Tonfall von PPP, doch die Worte verlieren nicht an Eindringlichkeit und suggestivem Zauber. Irgendwann aber taucht der spätere Regisseur von „Accattone” (1961) und „Mamma Roma” (1962) auch selbst auf. Archivmaterial von Gesprächen und alte Schwarz-Weiß Fotografien. Gegenwart trifft auf Vergangenheit. Im Sommer 1959 ist noch nichts von der späteren Verzweiflung des Künstlers zu spüren. Für seine Reportage „Die Lange Straße aus Sand, Italien zwischen Armut und Dolce Vita” entwickelt Pasolini einen eigenwilligen modernen Stil, jener Mix aus Impressionen, Emotion, Analyse. Momente des Glücks wechseln mit düsteren politischen Prognosen. Und doch verschwindet die Unbeschwertheit des Sommers nie ganz. Juni, San Remo: „Ich betrete das Kasino. Wie Charlie Chaplin versuche ich mich unter den imposanten Blicken des Portiers klein zu machen...” Wundervoll seine Beschreibungen der Menschen, die ihm begegnen, ob beim Baccarat, an Stränden, den Häfen, in kleinen Pensionen, eleganten Badeorten oder abgelegenen Felsen, wo sonst sich kein Tourist verirrt. Er trifft Fremde und Freunde wie Alberto Moravia in Fregene und Luchino Visconti auf Ischia, der dort seine Sommer verbringt und ihn herumführt. Pasolini beobachtet und phantasiert, sieht in die Leute hinein, als wären sie die Akteure seines Drehbuchs und er einer von ihnen. Doch dann setzt sich der Erzähler wieder hinter das Steuer seines Fiat Millecento (ein Geschenk von Fellini für seine Mitarbeit an „Le notti di Cabiria”) „Meine Reise zieht mich nach Süden, immer weiter nach Süden wie in süßem Zwang”.
Dokumentarfilmer Pepe Danquart („Schwarzfahrer”, „Am Limit”) bezeichnet sich selbst als italophilen Deutschen, wollte schon immer diese Reise machen entlang der Küste, erklärt er im Interview, „so das Land besser kennen lernen, verstehen, wie sich der industrialisierte Norden gegen den verarmten Süden absetzt, wie sich die verschiedenen Provinzen voneinander unterscheiden, das Gemeinsame wie das Trennende entdecken.” Dann sah er im Schaufenster einer Buchhandlung die deutsche Ausgabe von „La lunga strada di sabbia”. Und da war sie die Reise, die er schon immer vorhatte. „Poetisch und prophetisch, geschrieben vor sechzig Jahren, aber noch immer so aktuell wie damals. Der Stil der Reportage neu, philosophisch, politisch und privat und noch heute aufregend spannend. Pasolini untersuchte die Veränderungen, die sich durch die Industrialisierung des Landes bei den Menschen, in der Politik, im Alltag einstellten. Er benannte den Verlust von Dialekt und Klassenzugehörigkeit, er sah im grade aufkommenden Tourismus der 60er-Jahre... eine große Gefahr und im immer stärker werdenden Konsumismus den Identitätsverlust eines ganzen Landes durch die Vereinheitlichung der Wunschproduktion. Er empfand dies schlimmer als jede Diktatur, nannte es „hedonistischen Faschismus”, der mehr und nachhaltig die Menschen zu manipulierbaren, für die Mächtigen funktionierende Wesen verändern wird. Seine Hoffnung lag im archaischen armen Süden der Halbinsel Italien, im Subproletariat der Industriestädte, zuletzt auch in der afrikanischen Migration, in der er Hoffnung auf Veränderung sah.”
„All das war in poetischer Form in diesem Buch zu lesen, illustriert mit Fotos des berühmten Fotographen Paolo di Paolo, und ich dachte bei mir, dass all diese Vorahnungen über die Entwicklungen des Landes sich beinah prophetisch eingestellt hatten: der überbordende Massentourismus, der zum Kollaps ganzer Städte führte (Beispiel Venedig), der Konsumismus, der durch das Internet global wurde und wie die Migrationsbewegungen aus Afrika eine Bedrohung (statt einer Befreiung) Europas wurden. Da entstand die Idee, statt einer privaten Reise einen Film mit Visionen und Texten über das heutige Italien zu machen. Voilà: Vor mir der Süden. Ein Roadmovie als Hommage an den Dichter, Filmemacher und Poeten Pier Paolo Pasolini”. Er hatte, so Danquart, ihn sein ganzes berufliches Leben begleitet. Mitte der 1970er Jahre faszinierten ihn die neorealistischen Werke aber auch der Dokumentarfilm „Gastmahl der Liebe”, eine Untersuchung des Sexualverhaltens der Italiener: „Sie trafen mein politisches wie cinematographisches Herz. Er war DER Filmemacher, Schriftsteller, Intellektuelle für mich, er mischte die italienische Gesellschaft auf wie kaum jemand vor oder nach ihm. Pier Paolo Pasolini verehrte den Papst, liebte Fußball, die Kommunisten schlossen ihn als Homosexuellen aus, er lebte dennoch als einer der Ersten in Italien weiterhin offen offensiv homosexuell. Sein Tod im November 1975 bleibt mythenbehaftet- Tod im Strichermilieu oder organisierter Mord. Daran scheiden sich die Geister, obwohl das für mich ein politisches Attentat auf einen der kritischsten Denker wider das homophobe Establishment war. Seine Filme, so Danquart, wurden Meilensteine des Kosmos Kino: „Accattone”, „Mamma Roma”, „Decameron” und „Die 120 Tage von Sodom” (1975), dieser Spielfilm über das Ausmaß unkontrollierter Machtausübung, der wie ein Dokumentarfilm über die Machthaber in den Vernichtungslagern der Nazis daherkommt. Kaum zu ertragen in seiner Brutalität des Realen. Pasolinis Werk reicht bis ins Sakrale mit Filmepen wie „Das Erste Evangelium - Matthäus” (1964), „Edipo Re - Bett der Gewalt” (1967).”
Der Dokumentarfilmer ist während dieser Reise ständig auf der Suche nach Bildern, die Pasolini antizipierte, als er über die Moderne, den Fortschritt, den Konsumismus reflektierte. So wird „Vor mir der Süden” zur Reflektion der Reflektion. Gespenstische Warenströme, Container im nächtlichen Hafen von Genua. Nirgendwo ein Mensch zu sehen, wegrationalisiert von einer vollautomatisierten Ökonomie. Weiter unten im Süden verrottende Schiffe, dem Schicksal und Wasser preisgegeben. Kameramann Thomas Eirich-Schneider („Das neue Evangelium”, Regie Milo Rau) fährt mit virtuos ästhetischer Akribie am Strand die endlosen Reihen der Liegestühle und Sonnenschirme entlang. Von betörender Schönheit allein die Landschaft, aber wie das Meer ist ihre Schönheit trügerisch und vergänglich. Der romantische Blick, den Pasolini auf die Küstenlandschaften und das Meer wirft, lässt sich nicht mehr wiederholen auf Grund der globalen politischen Situation. Danquart: „Das Meer ist heute nicht mehr das Bild, das in seiner endlosen Weite die Sehnsucht der Touristen erfüllt, sondern auch der Seeweg der Flüchtlinge, die nach Europa gelangen wollen. Die Richtung der Sehnsucht hat sich verkehrt. Das Meer hat sich als Bild politisiert!”
„Vor mir der Süden” ein beeindruckender bildgewaltiger Dokumentarfilm, aber dann greift man doch wieder zu dem Reisetagebuch, in einer Art hoffnungsvoller Verzweiflung, als könnte man die Zeit noch einmal zurückdrehen, festhalten, Nostalgie zu Gegenwart werden lassen. Im Juni 1959 schrieb Pasolini über Genua: „Nachdem es über etliche Kilometer hinter einer riesigen verrußten Speicherstadt verborgen war, wechselt das Meer seine Farbe. Zwischen zwei Felsvorsprüngen und einem Glockenturm, halb maurisch, halb Jugendstil, taucht es wieder auf, zusammen mit einer Reihe Wolkenkratzer auf einer Anhöhe staubfarben wie alles hier. Genua raucht, verraucht in einem grandiosen Wirrwarr... das fahle Meer peitscht gegen die Kais, ein Erdrutsch von Häusern steht zu einem einzigen staubigen Klumpen zusammengepfercht; in der Nähe alte rostige Schiffe, Kaimauern aus schwarzen Blöcken, das olivgrüne Meer, trüb wie ein Fluss bei Hochwasser, dazu Schnörkel aus Klippen, Inseln und schmiedeisernen Ringen, und unten in den Schlünden Unkraut, Feigenkakteen und Müll. Am äußersten Rand des Bildes, zu Füßen des Betrachters und am Ende einer schwindelerregend hohen Mauer wie aus einer Stadt der Zukunft, liegt unter einem Sicherheitsnetz ein kleiner Kiesstrand. Im Gewitterlicht sieht man jemanden baden. Ein blondes nacktes Mädchen aus Fleisch, warmes Fleisch zwischen all dem Eisen.”
Pier Paolo Pasolini ist mehr als der Prophet globaler politischer Entwicklungen, er sieht, was anderen verborgen bleibt oder was sie fürchten, sie anekelt, sie verabscheuen. Dort entdeckt er sinnliche Schönheit, Wahrhaftigkeit, fern dem heuchlerischen Establishment. „Groß war seine Liebe für die Ränder der Gesellschaft, für das Ungleichzeitige, für das, was sich nicht in den Prozess der Modernisierung einpassen wollte,” heißt es bei Thomas Schmid in „Literatur und Leidenschaft”. „Die Gewalt, der er selbst zum Opfer fiel, hat er schon früh diagnostiziert”, so Hans Christoph Buch. In Sorrent erlebt Pasolini die zwei schönsten Stunden seines Lebens. „Diese Fähigkeit, glücklich zu sein trotz Verzweiflung und Todessehnsucht, gehörte bis zur Mitte der 60iger Jahre zur Grundstimmung seiner Gedichte, immer verbunden mit einem elegischen, ästhetisch politischen Blick auf die Kulturen der Vergangenheit, schreibt Peter Kammerer im Nachwort zu „Die lange Straße aus Sand. „Dieser mit Nostalgie gesättigte Blick ist jedoch alles andere als eine romantische Vision, was selbst für die Zeitgenossen, selbst für Freunde wie Moravia und Calvino nicht leicht zu verstehen war. Pasolini sieht sich als „eine Kraft der Vergangenheit” gleichzeitig „moderner als jeder Moderne.” Vertraute wie Gegner rätselten später, was, wenn er die Wirklichkeit, die er prophezeite, selbst erlebt hätte. Wie hätte er reagiert.
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Originaltitel: Vor mir der Süden
Drehbuch & Regie: Pepe Danquart
Produktionsland: Italien, Deutschland, 2019
Länge: 117 Minuten
Kinostart: 1. Juli 2021
Verleih: Neue Visionen Filmverleih GmbH
Alle Fotos, Pressematerial & Trailer: © Neue Visionen Filmverleih GmbH
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