Academy Awards 2021: „Nomadland” wurde als bester Film ausgezeichnet, Chloé Zhao für die beste Regie und Frances McDormand als beste Hauptdarstellerin.
„Nomadland” ist eine zärtlich raue Ode an den Pioniergeist der Wanderarbeiter. Ob in Arizona oder Kalifornien, der Finanzcrash 2008 zerstörte ihre bürgerliche Existenz. Die ehemaligen Mittelständler sind älter, weit über sechzig, sie geben nicht auf, nehmen Verlust und Armut als Herausforderung, durchqueren von nun an das Land in einfachen umgebauten Vans auf der Suche nach Jobs, Freiheit, neuen Werten, jener nie gekannten Unabhängigkeit. Zhaos visuell eindringliches Roadmovie berührt zutiefst in seiner poetischen Verflechtung von Realität und Fiktion, Western Mythos und Traditionsbruch.
Fern (Frances McDormand, auch Koproduzentin) ist verwitwet, ihr Mann war angestellt bei der United States Gypsum Corporation in Empire, ein Baustoffhersteller und der einzige große Arbeitgeber der Gegend. Als die Mine 2011 geschlossen wird, ziehen die Bewohner fort, selbst die Postleitzahl verschwand, es ist, als hätte es jene Kleinstadt am Rande der Wüste nie gegeben. Die Sachbearbeiterin bei der Behörde sieht keinerlei Verwendung für eine sechzigjährige Aushilfslehrerin auf dem Arbeitsmarkt. Frauen traf die Krise am härtesten. Dem Ratschlag, sich berenten zu lassen, widerspricht Fern vehement. Sie wolle arbeiten, sie arbeite gerne. So packt die Protagonisten ihre wenigen Habseligkeiten in einen klapprigen weißen Van, den sie Vanguard getauft hat. Komfortabel ist der nicht, Schlafplatz, Kochnische und Stauraum, ein Eimer dient als Toilette. Relikte ihres alten Lebens wie das zerbrechliche Teeservice aus Porzellan nehmen sich seltsam in dieser Umgebung aus.
Der Film beginnt mit einer Verbeugung an John Fords Western „The Searchers” (1956): Die Silhouette einer Frau, die aus dem Dunkel ihres Hauses in die weite, zerklüftete Landschaft blickt. Chloé Zhao kehrt die ikonische Eröffnungssequenz um, Fern blickt von draußen in den dunklen Innenraum des Vans, der ihr Heim geworden ist. Und sie beharrt Anderen gegenüber darauf, „I’m not homeless, I’m just houseless.” Sie empfindet sich nicht als obdachlos, sie besitzt halt kein Haus mehr. Was die Sechzigjährige wirklich fühlt bei solchen Demütigungen, wir können es nur ahnen, Fern ist ein kompliziertes Wesen, das seine Emotionen oft hinter mürrischer Ablehnung versteckt. Sie demonstriert Stolz, Unnahbarkeit, will allein sein, noch hängt sie an den Erinnerungen von einst, Wohlstand, Sicherheit, die Geborgenheit einer Ehe. Doch mit jedem Kilometer auf der Fahrt durch South Dakota, Nevada und Nebraska entfernt sie sich innerlich von der Vergangenheit, entdeckt sich selbst, ihre Kräfte, aber auch ihre Grenzen. Es ist ein harter Weg. Manchmal ist sie nur ein winziger unbedeutender weißer Punkt auf den einsamen Serpentinen der Gebirge. Kein Mensch weit und breit.
Fern jobbt in der Vorweihnachtszeit im Amazon Versandcenter, ist froh, ihren Wagen auf dem Parkplatz lassen zu dürfen, die Bezahlung gar nicht so übel. Von manchem Vorurteil muss der Zuschauer sich trennen, im sozialen Abseits verändert sich die Perspektive. Rübenernte, Küchenhilfe im Burger Café, Toiletten schrubben auf Campingplätzen. Versteht sich „Nomadland” als Milieustudie oder Gesellschaftsparabel? Chloé Zhao schreibt in ihrem Regie-Statement: „Ich wollte den Fokus nicht einfach auf eine Frau legen, die auf der Straße lebt, um einen Sozialkommentar über die Schwachstellen des amerikanischen Kapitalismus abzugeben. Das interessiert mich nicht. Mir ging es darum, diese Welt zu betreten und eine ganz unverkennbare amerikanische Identität zu erforschen: den wahren Nomaden. Auf diesem Boden will ich mein Publikum treffen. Treffen und, hoffentlich, auch eine Verbindung herstellen, zu jedem Einzelnen.“ Und genau das gelingt ihr, da ist der bärtige Bob Wells, charismatische Kultfigur der Vandweller, jedes Jahr versammelt man sich auf dem Rubber Tramp Rendezvous, in der Wüste von Quartzite, Arizona. Kameraderie am Lagerfeuer. Bob Wells verbindet seine Philosophie mit praktischen Tipps. Jede Form von Lovestory spart die Regisseurin bewusst aus, den Rhythmus und die Struktur des Films diktiert die Lebensform ihrer Protagonisten. Wenn ein Job vorbei ist, zieht Fern weiter. Sie trifft auf Bob, auch er wird von einem professionellen Schauspieler verkörpert, David Strathairn. Etwas unbeholfen sucht der gutmütige Kavalier ihre Nähe, sie verschwindet grußlos. Doch dann bei der nächsten Begegnung die Wende, Bob muss ins Krankenhaus, Fern hilft, unterstützt, gibt sich weniger abweisend, so etwas wie Freundschaft entwickelt sich. Beide arbeiten im selben Café, unerwartet taucht Bobs Sohn dort auf, lädt den Vater ein, Idylle mit Enkelkind erwartet ihn. Fern besucht den Gefährten im neuen Heim, eigentlich hofft er, sie möge bei ihm bleiben. Fern flieht, als reflexartige Reaktion vorhersehbar. Der Verlust der bürgerlichen Existenz damals war zu schmerzhaft und das Nomadendasein ist längst Teil von ihr geworden, inzwischen eine bewusste freiwillige Entscheidung und keine Notlösung mehr.
Woher die Kraft nehmen für ein solches Leben? Aus der Solidarität jener Gemeinschaft von Außenseitern oder dem eigenen Bekenntnis zur Freiheit? Quelle der Energie ist hier die Natur. Der Wechsel atemberaubender Prärien, Wälder, Gebirge, Wüsten, ihre Weite und Grenzenlosigkeit lassen den Traum vom Kontinent der ungeahnten Möglichkeiten wieder erwachen. Die Betonstädte und Metropolen scheinen vergessen, nicht existent. Wie bei Terrence Malick ist Landschaft nicht bloße Kulisse, sondern spiritueller Protagonist, Ursprung unseres Seins und Fühlens. „In der Wildnis, den Felsen, Bäumen, Sternen, in einem Wirbelsturm entdeckt Fern ihre Unabhängigkeit“, schreibt Chloé Zhao. Ihr Partner, der britische Kameramann Joshua James Richards, kreiert betörende Panoramen, manchmal erinnern sie uns an klassische Western dann wieder in an geheimnisvolle Regionen eines unerforschten Kosmos. Genau wie Malick verzichtet die Regisseurin weitgehend auf Kunstlicht. Den überwältigenden Landschaften mit ihrem suggestiven Zauber stehen viele kleine alltägliche intime Szenen gegenüber, Momente fragilen Glücks wie auch tiefer Traurigkeit. Man spürt in der Nomaden Community den Geist des Schriftstellers und Philosophen Ralph Waldo Emerson (1803-1882). „Furcht besiegt mehr Menschen als irgendetwas anderes auf der Welt,” lautete seine These. „Aus den Trümmern unserer Verzweiflung bauen wir unseren Charakter.”
Die heute 39jährige Chloé Zhao wuchs in Bejing auf, besuchte ein Internat in England, studierte Politikwissenschaft am Mount Holyoke College in Massachusetts und anschließend Film an der Tisch School of Arts in New York. „Songs My Brothers Taught Me" (2016) war ihr erster Spielfilm, der große internationale Durchbruch kam mit „The Rider” (2018), einer Charakterstudie von herzzerreißender Schönheit, lakonisch und zutiefst bewegend. Kein Neo-Western hatte je so radikal mit den Stereotypen des Genres gebrochen, und doch nähert sich die Regisseurin behutsam ihren Protagonisten und dem trügerischen Mythos vom unzerstörbaren Cowboy. Sie, die mit Mandarin als erster Sprache aufwuchs, hat ein feines Gespür für die Rolle des Außenseiters, der sich neu definieren muss im Heartland der Vereinigten Staaten. „Wir kennen diese Welt ja weitgehend nur aus der Sicht der Verzerrung und der Dämonisierung als Trumps Wählerbasis”, schrieb damals Regisseur Werner Herzog über sie. Diese neue unerwartete Perspektive zeuge von Mut und Entschlossenheit. Ihren unverwechselbaren lyrischen Realismus setzt Zhao auch in „Nomadland” wieder ein. Fast hatten wir während der Präsidentschaftswahl Amerika als Ziel unserer Sehnsucht verloren, dieser Film gibt dem amerikanischen Traum für 110 Minuten seine Unschuld zurück. Es ist der Sieg des Individuums, das dem übermächtigen Gegner die Genugtuung der Kapitulation verwehrt. Das Leben als Arbeitsnomade ist ein gefährlicher Trapezakt ohne Netz, Chloé Zhao gibt den Älteren, den Ausgegrenzten, oft Gedemütigten ihre Würde zurück. Gespannt sein darf man auf ihre erste 200 Millionen Dollar Produktion, dem Comic Abenteuer „Eternals” aus dem Marvel Universum.
Die dreifache Oscar Preisträgerin Frances McDormand war nie überzeugender als in „Nomadland”. Sie spielt nicht Fern – sie ist Fern. Bisher brillierte die Ehefrau von Joel Coen in ironisch überzogenen Rollen wie dem Rache Drama „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri” (2018). Sie nimmt sich zurück, es braucht ungeheuren Mut als Sechzigjährige sich allein in einen klapprigen Kleintransporter zu setzen und den Westen Amerikas zu durchqueren auf der Suche nach Arbeit. Vielleicht ist es am Anfang nur der Mut der Verzweiflung. Es braucht aber auch viel Courage, einen solchen Part zu spielen. Fern mit ihrem schiefen Haarschnitt, den unförmigen Klamotten hat etwas clownesk Tragisches, und doch bewundern wir sie, die Heldin genau wie die Schauspielerin. Sich mit Magenschmerzen auf einem Eimer zu winden, entlarvt Eitelkeit als Privileg ihrer verlorenen bürgerlichen Existenz. Angst und Verzweiflung haben deutliche Spuren im Gesicht der Protagonistin hinterlassen, ihre Gefühle übertragen sich körperlich wie Kälte und Einsamkeit, sie schnüren uns die Kehle zu, der Gedanke plötzlich aus unserer Komfortzone katapultiert zu werden, macht Angst, denn wir, die Zuschauer, sind nicht tapfer, verschließen meist die Augen vor dem Elend. Sozialer Abstieg, Altersarmut wird erschreckend real in der dritten Welle der Corona Pandemie. Keine Fluchtmöglichkeit. Der klapprige weiße Van gibt seinen Geist auf, die Reparaturen sind unerschwinglich, notgedrungen muss Fern ihre Schwester bitten, ihr Geld zu leihen. Nach den betörenden Landschaften wirkt das Haus der wohlhabenden Verwandten wie ein kalter abstoßender Klotz. Fern wird bewusst, sie hat sich grundlegend verändert, sie wird nie in ihre alte Welt zurückkehren. Von der Freundin lässt sie sich im Freizeitpark vor einem riesigen Dinosaurier fotografieren. Poesie eignete sich am besten, die Wahrheit zu vermitteln, glaubt Chloé Zhao.
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Regie: Chloé Zhao
Drehbuch: Chloé Zhao, basierend auf dem Sachbuch von Jessica Bruder
Darsteller: Frances McDormand, Linda May, Bob Wells, Charlene Swankie, David Strathairn, Gay DeForest, Patricia Grier, Angela Reyes,
Produktionsland: USA, 2020
Länge: 110 Minuten
Verleih: Walt Disney Germany
Kinostart: 1. Juli 2021
Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright: Searchlight Pictures / Walt Disney Germany
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