Film
Wege des Lebens - The Roads not Taken

„Wege des Lebens – The Roads Not Taken” ist ein Blick tief in das Innerste des Menschen, eine ästhetisch virtuose Exkursion durch Zeit und Raum auf den Spuren noch unentdeckter oder unbewusster paralleler Gedankenwelten. Suggestiv, voller Melancholie und schauspielerisch überragend.

Die britische Regisseurin Sally Potter schildert 24 Stunden aus dem Leben von Leo (Javier Bardem) und seiner Tochter Molly (Elle Fanning). Mit ungelenk verzweifelter Zärtlichkeit kämpft die Zweiundzwanzigjährige um den Vater, der früh an Demenz erkrankt ist. Sie versucht das ihr Unverständliche zu dechiffrieren, die Distanz zu überbrücken. Selbst wenn Leos Kopf auf ihrer Schulter ruht, ist er weit weg. Nur wo? Wir, die Zuschauer, beginnen es zu begreifen.

 

„Wege des Lebens – The Roads Not Taken” ist der persönlichste Film der 70jährigen Regisseurin und Drehbuchautorin. Nic, ihr jüngerer Bruder, war Bassist, Komponist und Maler, er litt an Demenz, starb im Januar 2013. Kritiker tun sich manchmal schwer mit Sally Potters Oeuvre, auch wenn sie seit „Orlando” oder „Yes” mit seinen in Pentametern verfassten Dialogen, Kultstatus bei Cineasten genießt. Die experimentelle Filmemacherin besitzt ein untrügliches Gespür für die Absurdität menschlichen Leidens. „The Party” (2017) inszenierte sie als hintergründige Kammerspiel-Farce über den Verlust von Wahrheit in der Politik wie in der Liebe. Um Verlust geht es auch hier.

 

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„Papa”, ein angsterfüllter Schrei hallt durch den langen düsteren Flur, dann steht Molly vor dem Bett des Vaters, es ist ein karges schäbiges Appartement in Brooklyn, der Lärm der Hochbahnzüge dringt von draußen herein. Leo starrt an die Decke, zeigt kein Zeichen des Erkennens, er hat weder auf das Klingeln der Haushaltshilfe an der Tür reagiert noch auf die Telefonanrufe der Tochter. Die völlig überforderte Molly versucht unendlich geduldig den verängstigten störrischen Vater durch den stressigen Alltag mit Zahnarztbesuch, Inkontinenz, Panikattacken, blutiger Kopfverletzung, Notaufnahme und zynischer Ex-Ehefrau zu schleusen. Da wird schon eine Taxifahrt zum tragischen Desaster, während die Karriere der jungen ambitionierten Frau einen gewaltigen Dämpfer abkriegt. Der Vorgesetzte verlangt unverzüglich ihre Präsenz, sie sucht grade im unübersichtlichen Supermarkt nach einer Hose für den Vater.

 

Leo stammelt unzusammenhängende Worte, oft nur gutturale Laute, reagiert mit Furcht auf das Verkehrschaos der Straßen, die vielen Passanten. Berührungen verschrecken ihn, er wehrt sich gegen alles. Ob Augenarzt oder Zahnarzt, die Wirklichkeit ergibt für ihn keinerlei Sinn mehr, ist unheimlich, bedrohlich, er driftet immer wieder ab in seinen eigenen Kosmos. Molly spürt, dass der Vater ihr entgleitet. Was anfangs nur wie Rückblenden anmutet oder fragmentartige Erinnerungen, entpuppt sich als zwei parallele farblich konträre Gedankenwelten. Was wäre geschehen, wenn sich der heute Fünfzigjährige damals in Mexiko für seine Jugendliebe Dolores (Salma Hayek) entschieden hätte? Ein Teil von ihm geht auf dem nicht eingeschlagenen Weg weiter. Es ist der Tag der Toten, el día de los muertos, der kleine Sohn kam bei einem Autounfall um. Tränen, Zorn, innere Leere, karge Landschaften von rauer Schönheit, die Sonne brennt unbarmherzig. Gemeinsamkeit droht zu zerbrechen, Leo fürchtet den Friedhof mit seinen unzähligen flackernden Lichtern, dem Anspruch auf Vergebung und ewige Ruhe. Er möchte die Flucht ergreifen vor dem Schmerz.

 

Was wäre, wenn? Griechenland, eine leere Taverne am Meer. Leo, der einsame Schriftsteller, sinniert über die letzten Seiten seines unvollendeten Romans, Exil oder Rückkehr in die Heimat? Zwei junge Touristinnen treffen ein, er fragt eine von ihnen, welche Art von Ende sie bevorzuge. „Ein schnelles.” Dafür hat er Frau und Tochter verlassen. Er grübelt, das blonde Mädchen, mit dem er gesprochene hat, könnte sie vielleicht jene Tochter sein? Macht das Sinn? Vielleicht. „The Roads Not Taken” ist kein Schuld- und Sühnedrama, solche Begriffe haben in dieser Phase des Lebens längst ihre Bedeutung verloren, Assoziationen ersetzen Logik. Über jedem Szenario lastet der Schatten von Verlust, Trauer, Tod. Leiden scheint unumgänglich, gleich welche Entscheidung der Protagonist getroffen hätte. Eine Yacht holt die beiden Touristinnen ab. Es ist Nacht, die Dunkelheit vermischt sich mit Musik und Lachen. An Bord wird getanzt, Leo folgt den Lichtergirrlanden in einem kleinen Ruderboot weit hinaus aufs Meer. Dieser magische Moment von fellinesker Poesie, ist er Metapher für die Vergeblichkeit menschlichen Handelns?

 

Sally Potter schreibt: „Den Grundstein zum Drehbuch von „The Roads not Taken” legte ich durch Überlegungen zum Konzept paralleler, ineinandergreifender Universen, in denen alles Vorstellbare nebeneinander existiert. Damals stand ich zwei Menschen nahe, die aufgrund ihres Gesundheitszustands Schwierigkeiten hatten, sich auszudrücken. Ich schaute ihnen in die Augen und fragte mich, wohin sie verschwunden waren und was sie wohl tief in ihrem Inneren erlebten. Ich begann zu überlegen, ob sie vielleicht die Fähigkeit entwickelt hatten, in andere Realitäten hinein- und wieder herauszuschlüpfen.... In seinen drei nahtlos ineinandergreifenden Lebensrealitäten lernen wir einen „essenziellen” Leo kennen; eine Person, die in ihrem Wesen immer dieselbe bleibt, aber durch unterschiedliche Umgebungen, Arbeitsumstände und persönliche Beziehungen subtil verändert ist. Seine Beeinträchtigung kann man als paradoxes, magisches Geschenk begreifen. Er ist in der Lage, seine inneren Grenzen zu überschreiten, während die Welt, die er bewohnt, diejenigen abzuschirmen versucht, die anders sind. Das schließt auch Menschen wie ihn mit ein.”

Gesten, Töne fungieren einem Trigger gleich, die Ebenen wechseln für uns unerwartet, korrespondieren über die Schnitte hinweg, ein kunstvoll visuelles Netzwerk der Emotionen entsteht. Die Regisseurin orchestriert die komplexen Bildfolgen zusammen mit den Cuttern Emilie Orsini und Jason Rayon als betörende wie verstörende Odyssee,- nicht ohne einen Touch absurder Komik. Während der Zuschauer versucht die einzelnen Puzzleteile einzuordnen, verspürt er jene in uns tief verwurzelte Sehnsucht, dem Leiden wie auch dem Tod einen tieferem Sinn zu geben, nur die literarische Phantasie kann manchmal helfen das Unerträgliche zu ertragen, zu begreifen als Herausforderung und neue Perspektive. Nirgendwo hat das Kino so grandios versagt wie bei dem Thema Demenz. Zu den großen Ausnahmen zählen Richard Eyres Film „Iris” (2001) und Florian Zellers Drama „The Father” (2020) mit Anthony Hopkins und Olivia Colman in den Hauptrollen. „Wege des Lebens – The Roads Not Taken” gibt der Krankheit fern jeder Sentimentalität wieder eine Würde. Der Titel bezieht sich auf das legendäre Gedicht von Robert Frost „The Road Not Taken” (1916).

 

Molly entdeckt, dass der Vater eigentlich immer schon ein Fremder für sie gewesen ist, lange bevor er krank wurde. Sie ignoriert die Symptome, behandelt Leo, als gäbe es dieses Monster nicht, das den Fünfzigjährigen Stück für Stück verschlingt. Krampfhaft versucht sie sein Verhalten zu interpretieren, das Unverständlichen doch noch zu enträtseln, schnappt Worte aus den alternativen Realitäten auf, fragt nach. Er, der einen Sohn verloren und eine Tochter verlassen hat, kann die Gegenwart von Molly nicht wirklich als solche wahrnehmen, welche Ironie des Schicksals. Aber die junge Frau ist unbeirrbar, beginnt irgendwann ein wenig von Leos geheimen Leben zu erahnen. Mit einem Übermaß an Zärtlichkeit, ihrer arg strapazierten Geduld und dem etwas bemühten Humor will sie ihrer beider Unzulänglichkeit überspielen. Als wäre es ein riesiger Spaß, die Hosen zu tauschen, während sie eigentlich doch nur heulen möchte vor Verzweiflung. Manche Kritiker nörgeln an Elle Fannings extremen Reaktionen. Doch genau so fühlt man sich als Betroffener: Frustriert, nahe der Hysterie, diese Krankheit zeigt uns die eigenen Grenzen auf, wir dringen nicht mehr durch zu dem Gegenüber, gleich welche Rolle er in unserem Leben hatte. Jede Art von Verständnis wirkt da fast ridikül oder aufgesetzt, wie der unbeirrbare Wille von Molly, dem Gebaren des Vaters noch Vertrautheit oder Logik abzuringen. Sally Potter inszeniert es mit ungeheurer Finesse.

 

Beeindruckend wie subtil Javier Bardem die Facetten seiner Figur verkörpert, ob als um Anerkennung ringender Schriftsteller oder trauernder Vater oder ein Mann, der sich verloren hat. Dieser Mix aus Schwermut, Qual, Sehnsucht und Verwirrung erinnert an seine Rolle in „Biutiful”. Leo ist auf der Suche. Nach sich selbst? Er verlangt heimzukehren, nur wohin? Die karge Behausung in Brooklyn meint er nicht. Er entwischt seiner Tochter, klaut einen kleinen Hund, in der festen Überzeugung, es wäre Nestor, sein längst verstorbenes Haustier. Wegen des Unfalls bleibt Molly die Nacht über bei ihm, schläft auf dem Sofa. Leo macht sich unbemerkt davon in Schlafanzug und Bademantel ohne Schuhe, durchquert barfuß die nächtliche Stadt. Die Odyssee beginnt eigentlich erst. Irgendwann wieder daheim hat er einen lichten Moment, erzählt der Tochter von Griechenland und warum er zurückkehrte. Er erinnert sich wieder an Mollys Namen.

 

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Originaltitel: The Roads Not Taken

Regie, Buch, Musik, Schnitt: Sally Potter
Darsteller: Javier Bardem, Elle Fanning, Salma Hayek, Laura Linney, Branka Katic, Milena Tscharntke
Länge: 85 Minuten
Produktionsland: Großbritannien, 2020
Verleih: Universal Pictures Germany
Kinostart: 13. August 2020

 

Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Universal Pictures Germany

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