Vorbei der fiebrige Glamour und die trügerische Romantisierung von „Goodfellas”, Verbrechen ist in „The Irishman” ein eher eintönig sorgenvolles Metier, selbstzerstörerisch, düster und einsam. Das dreieinhalbstündige elegische Mafia-Epos schildert die Zeit nach dem 2. Weltkrieg und ihre Protagonisten. Der Zuschauer taumelt fast orientierungslos zwischen den Jahrzehnten hin und her. Organisierte Kriminalität, Politik und Gewerkschaften paktieren in den USA miteinander.
Während Regisseur Martin Scorsese den Mythos des Genres ästhetisch virtuos seziert, stellt er alles, auch sich selbst in Frage. An seiner Seite wie so oft seit „Mean Streets” (1971) Schauspieler Robert De Niro. Dieser Film ist als Erlebnis von atemberaubender Intensität. Er fühlt sich an wie ein Abschied, man versucht sich zu wehren auch gegen die Tränen. Mit aller Macht. Vergeblich.
Martin Scorsese („Taxi Driver”,1976, „Raging Bull”,1980, „Gangs of New York”, 2002, „The Departed”, 2006) gilt als der einflussreichste Regisseur des zeitgenössischen amerikanischen Kinos. Mit „The Irishman” kreiert er ein Leinwand-Epos völlig neuer Art, demonstriert der Marvel-Generation, worum es beim Erzählen von Geschichten wirklich geht, dies ist der Dostojewski unter seinen Gangsterfilmen. Der 76jährige vielfache Oscar-Preisträger verzichtet mit bravouröser Nonchalance fast völlig auf Action, herkömmliche Dramaturgie und den üblichen Spannungsbogen. Es entsteht ein Sog, der uns hineinzieht in den unheilvollen Kosmos des Mafia-Killers Frank Sheeran (grandios Robert De Niro), das Herz der Finsternis. Steven Zaillians Drehbuch basiert auf dem True-Crime-Bestseller „I Heard You Paint Houses” von Charles Brandt” über das bis heute ungeklärte Verschwinden des mächtigen Gewerkschaftsbosses Jimmy Hoffa. Verbürgen für den Wahrheitsgehalt des Reports kann sich keiner, aber Scorsese haben nie wirklich Fakten interessiert sondern die Gefühle. Für ihn geht es hier um „Liebe, Verrat, Reue, Traurigkeit und Tragödie”.
Frank Sheeran kämpfte in Sizilien gegen die Soldaten Hitlers, dort lernte er auch Italienisch, nicht ahnend, welche Bedeutung die Sprache für sein Leben einmal haben werde. Selbst der Sieg über das Nazi-Regime büßt in diesem Schuld-und-Sühne-Thriller viel von seinem Ruhm ein. Der junge Soldat erschießt auf Befehl hin Kriegsgefangene, später noch sinniert er darüber, warum die Männer so brav ihre eigenen Gräber ausgehoben haben. Glaubten die im Ernst, man würde sie dafür mit der Freiheit belohnen? „The Irishman” beginnt im Pflegeheim, ein alter weißhaariger Mann im Rollstuhl. Nein, Reue empfindet Frank Sheeran nicht wegen all der Menschen, die er getötet hat. Aber da ist ein Telefonanruf, für den schämt er sich, aber das verschweigt er dem Pater. Er habe die Familien seiner Opfer ja meist nicht gekannt. Eben mit jener entscheidenden Ausnahme, und um die geht es im Film. Der Priester ist überzeugt, man könne sich auch für Reue entscheiden, wenn man sie nicht empfinde. Ein Ratschlag, vielleicht auch an den Zuschauer gerichtet.
„The Irishman” ist ein kunstvolles Geflecht von Rückblenden und nimmt auf den verschiedenen Zeitebenen immer wieder indirekt Bezug auf frühere Gangsterfilme Scorseses. Die langsame Kamerafahrt durch die Räume des Pflegeheims bis hin zu seinem gebrechlichen Helden ist das krasse Gegenteil jener triumphierend rasanten Durchquerung des Nachtclubs in „Good Fellas” (1990). Alles signalisierte dort wie auch in „Casino” (2013) Selbstbewusstsein, Power, überschäumende Lebensfreude, schnellen Reichtum, Skrupellosigkeit, den Erfolg gefürchteter Gangster. Hier bittet der greise einsame Mafia-Killer am Abend die Krankenschwester, seine Tür einen Spalt aufzulassen, wie ein Kind, das sich vor der Dunkelheit und den Monstern unterm Bett fürchtet. Es ist Weihnachten, keiner wird ihn besuchen, die Familie hat sich längst von ihm abgewandt, die Freunde sind tot, Frank hortet Tabletten, irgendwann muss es mal ein Ende haben. Im Hintergrund erklingt verträumt lieblich „In the Still of the Night”, gesungen von The Five Satins. Dem Protagonisten mangelt es an Gefühl, sein Gesichtsausdruck bleibt seltsam unbewegt, niemand anderer als Robert De Niro könnte diese innere Leere so berückend verkörpern als eine der vielen Wunden eines mörderischen Krieges.
Wieder daheim arbeitet Frank als Lasterfahrer für Großschlachtereien. Unter der Hand verkauft er Fleisch an Mafiosi, beste Qualität, versteht sich. Er fliegt auf, aber ein geschickter windiger Anwalt paukt ihn raus. Der stellt Frank seinem Cousin vor, Russell Bufalino (Joe Pesci), Kopf einer Mafiafamilie in Pennsylvania. Dass unser Held loyal ist, schweigen kann, hat er während des Prozesses unter Beweis gestellt. Anfangs schanzt Buffalino ihm kleine, eher unbedeutende Jobs als Geldeintreiber zu. Dann gibt es den ersten richtigen Auftrag: „Häuser zu streichen“, Mafia-Code für Mord, weil das Blut der Opfer an die Wand spritzt. Getötet wird mit kühler, brutaler Effizienz. Die Mafia arbeitet eng mit der Gewerkschaft der Lastwagenfahrer zusammen und ihrem, die gigantischen Rentengelder verwaltenden Boss Jimmy Hoffa (Al Pacino). Russell macht Frank zum Mann an Hoffas Seite, eine Art Bodyguard, Faktotum und Vertrautem. Gewalt ist unterschwellig immer präsent als permanente Bedrohung und unverzichtbarer Teil des Geschäfts, aber wird selten gezeigt, Und wenn, dann explodiert sie in traumartigen meist nur Sekunden dauernden Sequenzen. Scorsese demontiert mit unglaublicher Präzision und bissigem Humor den Mafia-Mythos, den er einst kreiert hatte. Es ist, als würde er mit sich selber ins Gericht gehen, eine klare Absage erteilen an die Ära des Paten und toxischer Männlichkeit, die hier sich noch einmal voll entfaltet.
Selbst Nebenfiguren werden beim ersten Auftreten eingeführt mit einer Bildunterschrift, die den Zuschauer belehrt, wann und wie der Betreffende sterben wird, und durch wie viele Schüsse. Zwischen den Morden wird Minigolf oder Bowling gespielt, meist aber sitzen die Männer beieinander, lamentieren, streiten, endlos die Tiraden, wer es ihnen an Respekt hat fehlen lassen, welche Strafe die eindrucksvollste wäre. Doch es gibt auch Momente, die berühren, Sheeran und Hoffa ähneln einem alten Ehepaar, wenn sie in ihren Pyjamas auf den Hotelbetten sitzen und auch dort noch über Verrat und Treue räsonieren. Der Anspruch von absoluter Unterordnung hat etwas tragisch Lächerliches. Und doch kommen uns diese bizarr verrückten Ausbrüche seltsam bekannt vor. Grüße an Trump. Das Tempo des Films scheint bedächtig, schwelgerisch, erinnert an ältere vorsichtige Männer, weniger kernige Sätze, mehr kritische Anmerkungen. Der Auftragskiller entsorgt seine Waffen immer an der gleichen Stelle im Fluss, auf dem Grund im trüben Wasser lagern genug Waffen für einen Bürgerkrieg. Manche Rezensenten stören sich an der Geschwätzigkeit des Erzählers, aber grade das ist der Charme von „The Irishman”. Das Abschweifen, Zurückkehren ist, als ob sich der alternde Protagonist umdreht, immer wieder vergewissert, dass wir ihm folgen. Ja, wir, die Zuschauer sind mit ihm alt geworden, verstehen, was er meint, wir sind nicht mehr die coolen Typen von damals, vielleicht waren wir es nie, genauso wenig wie die Gangster auf der Leinwand. Der Raubtierkapitalismus hat uns längst eingeholt.
Frauen tauchen nur am Rande auf, auch wenn sie die Geschäfte des Gatten übernehmen, oder ihm ungerührt ihren Willen aufzwingen. Auf der Fahrt quer durch Amerika beharren die beiden mitreisenden Damen eiskalt auf ihren Rauchpausen, und Russell Bufalino, vor dem alle kuschen, gehorcht. Die Machtgier des dreckigen Gewerbes hat längst die Familien zerstört. Hier hat Gewalt nichts Faszinierendes, Schillernd Glamouröses, es ist die Banalität des Bösen. Der greise Sheeran kann selber keine Reue empfinden, und doch hofft er noch bis zuletzt auf das Verzeihen seiner Tochter Peggy. Schon als Kind hat sie mit angesehen, wie ihr Vater einen Menschen grauenvoll zurichtete. Er glaubt, sein Fleisch und Blut verteidigen zu müssen, auch wenn der Anlass ein völlig nichtiger war und sein Zorn ungerechtfertigt. Sie ist angewidert von ihm und seinen Mafiosi Freunden, nur welche Ironie, jemandem wie Hoffa vertraut und bewundert sie, ahnt nicht, dass er der eigentliche Drahtzieher ist. Als John F. Kennedy 1961 das Präsidentenamt antritt, fängt die Beziehung zwischen dem Gewerkschaftler-Imperium und der Cosa Nostra an zu bröckeln. Die Italiener hatten mit ihrem Geld JFK ins Weiße Haus gehievt, er sollte Castro aus Kuba vertreiben, doch dessen Bruder, Justizminister Robert F. Kennedy (Jack Huston), macht nun stattdessen Jagd auf den korrupten Gewerkschaftsführer. Immer größer werden die Spannungen zwischen der Mafia und dem sich für unantastbar und übermächtig haltenden Hoffa. Frank muss sich entscheiden. Es ist die Stunde des Verrats.
159 Millionen Dollar kostete angeblich Scorseses Mafia-Epos, kein Hollywood Studio hat den Mut zu solchem Wagnis, da sprang Netflix ein, was bedeutet, dass der Film nur in einer beschränkten Anzahl von Kinos gezeigt wird. Über die digitalen Verjüngungskuren wurde viel geschrieben, sie sind weniger befremdlich als erwartet, die schauspielerischen Leistungen von Pacino, De Niro und Pesci dagegen phantastisch, ohne sie wäre diese Choreographie des Untergangs nicht vorstellbar. Al Pacino als Hoffa, nach dem Präsidenten der mächtigste Mann Amerikas, wettert in seinen hochemotionalen Reden gegen die Industrie-Barone mit ihren gigantischen Spesenkonten und ohne Moral. Er verachtet Politiker, die mehr Zeit auf Golfplätzen verbringen als bei ihren eigentlichen Aufgaben. Doch der brillante Taktiker und nervige Egomane überschätzt seinen Einfluss, er ist unfähig für irgendeinen Kompromiss, spricht damit sein eigens Todesurteil. Joe Pesci in der Rolle des Bufalino gibt sich weder furchteinflößend noch exzentrisch, Entscheidungen scheut er nicht, die Hände müssen sich andere schmutzig machen, für Frank ist er Mentor und Freund zugleich. Im Gefängnis sitzen sie als gebrechliche alte Männer beieinander, tunken ihr Brot nun in Traubensaft, eine Referenz an ihr erstes Treffen, sie sprechen Italienisch, teilen frisches Brot und Rotwein nach Bauernart. De Niros Stirnrunzeln erinnert unwillkürlich an „Once upon a Time in America”, Sergio Leones letzten Film. Wenn dort am Ende der Müllwagen in der Dunkelheit verschwindet, das ist auch die schicksalhafte Traurigkeit von „The Irishman”. Das finstre Gangster Epos ist mehr noch als „The Wolf of Wall Street” eine beängstigende Parabel über den Beginn des amerikanischen Raubtierkapitalismus.
Originaltitel: The Irishman
Regie: Martin ScorseseDrehbuch: Steven Zaillian
Darsteller: Robert De Niro, Al Pacino, Joe Pesci, Harvey Keitel, Anna Paquin
Produktionsland: USA, 2019
Länge: 209 Minuten
Kinostart: 14. November 2019, als Video-on-Demand auf Netflix ab 27. November 2019
Verleih: Netflix
Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Netfilx
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