Sie wollen Designer-Sneaker, Motorroller und das schnelle Geld. In ihrer Heimatstadt Neapel ist ein Machtvakuum entstanden, die Bosse der Camorra sind erschossen oder verhaftet, nun haben Nicola und die Jungs aus seiner Clique das Regiment übernommen.
Die 15jährigen kennen weder Angst vor dem Tod noch dem Gefängnis. Für sie gibt es keine Perspektive, wenig Hoffnung, die Kids wollen nicht mehr kuschen. Ihr Lachen ist strahlend, unbeschwert, ohne zu zögern ziehen sie die Waffe und drücken ab.
Über die Verfilmung seines Buchs „Paranza – Der Clan der Kinder” schreibt „Gomorrha”-Autor Roberto Saviano: „Neapel fungiert wieder einmal als Versuchslabor unter freiem Himmel. Als Wunde, die erkannt werden muss, wenn man verstehen will, was genau in diesem Moment unter den Jugendlichen an den Randgebieten in Berlin, Paris, London, Johannesburg, New York und Mexiko Stadt passiert.”
Claudio Giovannesi inszeniert „Paranza – Der Clan der Kinder” als vielschichtiges Porträt einer Lost Generation. Die Schönheit der Bilder steht in krassem Gegensatz zu einer Welt, wo Liebe und Freundschaft im Keim ersticken, aus diesem fast brutalen Kontrast resultiert die Stärke des Mafia-Thrillers. Die erste Szene zeigt eine menschenleere nächtliche Einkaufspassage im Stadtzentrum, die Pracht vergangener Zeiten dient als Bühne modernen Luxus, in der Mitte ein riesiger wundervoll geschmückter Weihnachtsbaum. Plötzlich tauchen johlende Jungs auf, stürzen die Tanne vom Sockel, zerren den Koloss mit sich, triumphierend als hätten sie ein feindliches Schiff gekapert. Die Kids sind aufgewachsen mit den rigiden Demarkationslinien ihrer Viertel, sie wissen, wo wer regiert, bis jetzt war die Hierarchie unantastbar. Diese Aktion in fremden Territorium ist pure Provokation, symbolische Grenzüberschreitung, man lässt die Muskeln spielen, doch aus scheinbar spielerischem Übermut wird bald blutiger Ernst.
Nicola (Francesco Di Napoli) betritt die kleine chemische Reinigung seiner Mutter, in eine der malerisch volkstümlichen Gassen von Sanità fern des Massentourismus. Die Handlanger der Camorra kassieren grade das Schutzgeld, doch den beiden Männern genügt das nicht, man verlangt eine freundliche Begrüßung vom Sohn der Inhaberin, Nicola gehorcht, sein Gesicht bleibt unbeweglich, was immer der Junge denkt, er lässt es sich nicht anmerken. Der andere Ganove nimmt sich eine Winterjacke von der Stange, zieht sie an. „Die gehört einem Kunden,” wagt die Mutter einzuwenden. “Nun gehört sie mir” erklärt der Mann. An diesem Abend lehnt der 15jährige das Geld für die Disco ab, die Mutter hat schon genug zahlen müssen. Sie werden etwas umherfahren auf ihren Motorrollern. Überall spüren die Kids, sie gehören nicht wirklich dazu, ihnen fehlt das Geld, um Anspruch auf Respekt zu haben. Ein Tisch in der Disco kostet 500 Euro, und die coolen Marken T-Shirts und Sneaker sind für sie auch unerschwinglich. Aber Geld allein ist keine Garantie für Respekt, man darf auch nie mit der Staatsmacht paktieren, wer das tut, ist für immer ein Verräter und die Söhne ebenfalls.
Auch über dieses Tabu setzt sich der jugendliche Protagonist hinweg, er sucht den Kontakt mit Agostino (Pasquale Marotta), einem Jungen aus dem Striano Clan, dessen Familie früher über das Viertel herrschte, bis der exzentrische Onkel Tonino getötet wurde und sein Vater mit den Ermittlungsbehörden einen Deal machte. Vorbei Prestige und Ansehen, geblieben ist der Palazzo, voll mit Antiquitäten, Kostbarkeiten und Kitsch, eine Ahnengalerie illegaler Macht. Nicola ist tief beeindruckt, und Augostino mag den charismatische Youngster mit dem intelligenten, offenen markanten Gesicht, der ihn bewundert und ihm den Respekt erweist, der ihm zusteht. Respekt ist das Schlüsselwort der Mafia. Und so darf der 15jährige auch noch ein Selfie von sich mit dem Sohn des Verfemten machen. Die Omertà, das Gelübde des Schweigens, wird im Internet-Zeitalter abgelöst von den Followern, deren Anzahl über den Grad der Anerkennung in der Gesellschaft entscheidet. Die Clique versucht sich an dem Überfall eines Juweliers, eigentlich geglückt, doch der Boss des Viertels lässt sich nicht ins Handwerk pfuschen, die Jungs müssen die erbeutete Ware brav abliefern, Prügel unvermeidbar. Immerhin der Mut und die Effizienz haben überzeugt, ab jetzt darf die Gang, Drogen im Universitätsviertel an die Studenten verticken.
Das Drehbuch schrieb Claudio Giovannesi zusammen mit Roberto Saviano und Maurizio Braucci. „Anfangs suchten wir den Film im Buch, und eins war dabei immer klar. Alles musste schnell erzählt werden im wilden hektischen Rhythmus dieser jungen Neapolitaner, die auf ihren Motorrollern leben und durch die Stadt rasen”, erklärt Braucci. Nicola baut geschickt seine Allianzen aus, überzeugt Agostino die übrig gebliebenen lächerlichen Fossilien der Mafia auszuschalten. Einige Camorrista hat er bewundert, aber die meisten von ihnen wurden auf einer glamourösen Hochzeit festgenommen, der ideale Zeitpunkt also, die eigene Macht auszubauen. Nur braucht er Waffen, manchmal speist man ihn ungeduldig ab, warum er nicht mit Fußball-Spielen sein Glück versuche. Für Fußball habe er kein Talent, entgegnet lakonisch der ambitionierte Mafia-Nachwuchs. Die Schauspieler sind alle Laiendarsteller, grandios wirklich Francesco Di Napoli, schon vergleichen ihn Kritiker mit dem damals jungen Alain Delon. Nicola besitzt besonders Verhandlungsgeschick, kann geschenkt Menschen gegeneinander ausspielen, aber eigentlich sieht er sich in der Rolle des Befreiers, will nicht, dass die Mutter noch weiter Schutzgeld zahlen muss noch irgendjemand anders in seinem Viertel. Eine moralisch handelnde Camorra, die schützt und nicht ausbeutet, das wäre sein Traum, nur Reichtum ist noch verführerischer. Die Youngster werden von einem Kaufrausch erfasst, in den Läden sind sie nun willkommen, begeistert schwelgen sie in den Statussymbolen der Konsumgesellschaft. Nicola führt seine große Liebe Letizia (Viviana Aprea) beim ersten Date in die Oper aus, verzaubert bestaunt das junge Paar die ungewohnte luxuriöse Umgebung, betasten ehrfurchtsvoll den roten Samt der Brüstung ihrer Loge. Die Kids sind gutbürgerlich trotz ihres kriminellen Umfelds.
Manche warfen auf der Berlinale dem Regisseur vor, er glorifiziere die Killerkinder, nun, der Roman ist unbarmherziger, härter, Nötigung statt Liebe. Nicht unbedingt muss ein Film düster, dunkel sein, um die Mechanismen und Machtstrukturen der Mafia zu entlarven. Giovannesi nimmt die Perspektive der Teenager ein, beschreibt den Weg in die Kriminalität ausschließlich über die individuellen Empfindungen der Jugendlichen. Nicola und seine Freunde sind Geschöpfe der Ära Berlusconi. Betrug, Unterschlagung, Korruption, Bilanzfälschung, nichts wurde bestraft, die Mächtigen waren unerreichbar für Gesetz und Gerichte. Wo Kokain und Prostitution in Regierungskreisen zum normalen Alltag gehören wie die dunkelblaue Limousine, kann man schwerlich ein Unrechtsbewusstsein bei 15jährigen erwarten. Die Kids knallen sich mit Drogen zu, während der Protagonist Mamas kleine Wohnung mit teuren kitschig protzigen Möbeln vollstopft. Er wohnt wie die anderen noch daheim, morgens streitet er mit dem kleinen Bruder um die Kekse. Macht euphorisiert, warum es anders darstellen, Nicola und Letizia auf dem Motorroller, wenn sie über die Straßen rasen, das ist Lebenslust pur, die scharfen Kurven, das Tempo. Macht berauscht, die Jugendlichen genießen die nächtlichen Schießübungen während eines Feuerwerks, töten als ultimativer Kick? Nein, es gehört zum Job, anders lässt sich ihr Ziel nicht erreichen. Und irgendwann beginnt ein mörderischer Krieg um die Vorherrschaft. Wir bleiben Beobachter, distanziert, anders als bei Sergio Leones Gangster-Epos „Once Upon a Time in America” (1984). Die Protagonisten wuchsen uns an Herz, Nicola bleibt uns fremd, der smarte knallharte Bursche mit dem fast engelhaften Gesicht, tut uns leid, und wir sind erleichtert, dass Francesco di Napoli einen anderen Weg gewählt hat. Im Interview berichtet er, dass durchaus Freunde versucht haben, ihn zu Einbrüchen zu überreden, er habe immer nein gesagt. Sein Job als Bäcker im Traiano-Viertel war ihm lieber. „Es gibt immer eine Alternative zur Camorra” ist seine Überzeugung.
Mit seinem Buch „Gomorrha – Reise in das Reich der Camorra” (2006) schuf der Journalist und Schriftsteller Roberto Saviano ein neues sozialkritisches Genre, Mischform aus Roman und Reportage, 2008 wurde es verfilmt von Matteo Garrone. In seinen Werken zeigt er die Verbindungen auf, die zwischen der Verbrecherorganisation, einzelnen Wirtschaftszweigen und der lokalen Politik besteht. Über „Paranza – Der Clan der Kinder” schreibt er: „Betrachtet man das, was derzeit geschieht, aus der Nähe, wird der banale logische Schluss, dass Du als Sohn eines Camorra-Mitglieds selbst zum Camorrista wirst, heute hinfällig. Wie sehr manch einer es sich auch wünschen mag, eine klare Trennlinie zwischen Gut und Böse ziehen zu können – die jungen Menschen, die unerklärlich grausame Taten begehen, entstammen heute meistens nicht kriminellen Familien. Oft entsteht Gewalt ohne jedes Ziel, ohne jeden Zweck. Sie ist der Antwort auf eine beinah vollkommene Leere, die nicht nur fühlbar, sondern greifbar ist. Es gibt kein gesellschaftliches Ordnungssystem mehr und niemand setzt sich ernsthaft damit auseinander, in welche Richtung sich diese Jugendlichen sich gerade hinbewegen. Es gibt keinen Staat mehr in irgendeiner Form wie wir ihn kennen.”
„Die Dreharbeiten dauerten neun Wochen,” erzählt der Regisseur, „und die Szenen wurden in chronologischer Folge gedreht. Am ersten Drehtag haben wir den Anfang des Films und am letzten Drehtag das Finale aufgenommen. Keiner der Jungen hatte das Drehbuch gelesen und auch nicht den Roman, auf dem er basiert. Die Schauspieler sollten die Erfahrungen ihrer Figuren, Tag für Tag von Anfang bis Ende selbst durchmachen. Sie durften nicht wissen, welche Folgen ihre Handlungen haben würden, sie sollten sie einfach erleben: Das Entstehen einer brüderlichen Freundschaft, die Bildung einer Gruppe, die Tragik des Kriegs auf den Straßen, das realitätsferne Wunschdenken, die unwiderrufliche Folgen ihrer kriminellen Aktivitäten, der Verlust der Unschuld, die Unmöglichkeit umzukehren und eine unbeschwerte Jugend zu genießen, die Erfahrung des Scheiterns.”
Originaltitel: La paranza dei bambini
Regie: Claudio GiovannesiDrehbuch: Claudio Giovannesi, Roberto Saviano, Maurizio Braucci
Darsteller: Francesco Di Napoli, Ar Tem, Viviana Aprea, Alfredo Turitto, Mattia Piaon Del Balzo
Produktionsland: Italien 2019
Länge: 105 Minuten
Kinostart: 22. August 2019
Verleih: Prokino
Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Prokino
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