Film
Mr Long

Melancholisches Gangsterdrama zwischen Poesie und Splatter, Utopie und knallhartem Realismus.
Mit artistischer Bravour zieht Mr. Long (Chang Chen) seinen Opfern die geschliffene Klinge durch die Kehle. Er ist ein Meister seines Fachs, furchtlos, kühn, elegant und schweigsam. Nicht die Lust am Töten treibt ihn an, sondern das Pflichtgefühl. SABU nennt sich der japanische Regisseur und Schauspieler Hiroyuki Tanaka, seit er auf der Leinwand einen Yakuza dieses Namens verkörperte. Seinen neuen Film inszeniert er ästhetisch virtuos als chaplineske Fabel, brutal, komisch, traurig, rührend und auf seltsame Weise ungeheuer tröstlich. SABUs Außenseiter-Ballade ist ein verstörendes wie betörendes Labyrinth, sich darin zu verlieren ein Genuss, nur der unbarmherzige Stilwillen des Künstlers hält den wilden Genre-Mix zusammen.

Taiwan, Kaohsiung. Die Kamera durchstreift nächtliche Stadtlandschaften, folgt Motorradfahrern um die Kurven, gleitet geheimnisvoll glitzernde Häuserfassaden hinauf. In den Schaufenstern an der Straßenecke werben Prostituierte mit großen Schildern für sich und ihre käuflichen Träume. Lampions bewegen sich leicht im Wind vor einem roten Himmel, der keiner ist, sonst sind die Farben wie ausgewaschen, die Bilder manchmal fast unscharf. Im Kellergewölbe unter einem buddhistischen Tempel brüsten sich fünf Gangmitglieder mit ihren Taten. Aus dem Dunkel taucht Mr. Long auf, das Blut spritzt, wenige Minuten dauert das Gemetzel, mit minimalistischer Beiläufigkeit exquisit in Szene gesetzt. Der Killer im schwarzen Anzug greift sich Geld und Pässe, liefert die Beute bei seinem Auftraggeber ab. Während des Zubereitens von Teigtaschen, erhält er neue Order. Doch dort in Japan läuft alles schief.

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Roppongi, Tokio. Unser Protagonist lauert dieses Mal in einem Stripclub seinem Opfer auf, ein Yakuza mit blondgefärbtem Haar. Aber als er zustechen will, überwältigt ihn sein Gegner. Der Gangster und seine Handlanger stecken ihn in einen Jutesack, fahren in abgelegenes Gelände, um dort den ungebetenen Gast hinzurichten. Doch Mr. Long kann fliehen, als die Japaner abgelenkt sind durch einen jungen zornigen Mann, der von dem Bandenchef sein Mädchen zurückfordert. Es kommt zum Schusswechsel, der verletzte Auftragskiller stolpert durch die Dunkelheit, findet sich irgendwann wieder zwischen dreckigen zerstörten Baracken am Rande einer verlassenen Wohnsiedlung. Ohne Geld und ohne Ausweis. Als er den nächsten Morgen aufwacht, steht da ein kleiner Junge (Run-yin Bai) und beobachtet ihn wortlos. Das Kerlchen mit dem engelsgleichen Gesicht läuft weg, kehrt wenig später zurück und bringt ihm Wasser. Immer wieder verschwindet der Kleine, er besorgt Verbandsmaterial, saubere Kleidung, frisches Gemüse.

Der Killer beginnt sich umzusehen, sucht in den verwahrlosten Hütten nach fließendes Wasser, entdeckt zwischen dem Müll einen Topf, etwas Geschirr, biegt einen Löffel zurecht. Er bereitet eine einfache Suppe zu, die er mit dem Jungen teilt. Der Kleine heißt Jun und spricht Chinesisch, da seine Mutter genau wie Mr. Long aus Taiwan stammt. Lily (Yi Ti Yao) ist heroinabhängig, das Geld dafür verdient sie als Prostituierte. Sie schickt ihren Sohn los, um in einem Parkhaus Drogen zu besorgen. Der Killer folgt ihm, nimmt der Mutter das Heroin ab. Er fesselt sie und zwingt die Wehrlose so zu einem kalten Entzug. Jun nimmt es dem Fremden übel, aber dennoch sucht er weiter dessen Nähe. Gemeinsam kümmern sich die beiden um Lily und versorgen sie mit leckeren Suppen. Nach einem Telefonat in Taiwan ist klar, ohne Pass führt der einzige Weg zurück in die Heimat über die Schiffsroute. Der nächste Termin ist in fünf Tagen, bis dahin muss Mr. Long das Geld für die Passage auftreiben. Die Geistersiedlung scheint zumindest ein ideales Versteck.

SABUSs Protagonisten sind mehr Loser als Helden, einfache, eher unscheinbare Menschen, die der Zufall in Extremsituationen katapultiert. Von diesem Moment an sind sie ständig in Bewegung, auf der Flucht oder auf der Jagd. In ”Postman Blues“ (1997) radelt ein unbedarfter Briefträger, den die Polizei erst für einen Drogenkurier, später für einen Profikiller hält, munter durch die grotesken Wendungen des tragisch-komischen Epos. „Drive“ (2002) schildert die Erlebnisse eines pedantischen Angestellten, der unfreiwillig zum Chauffeur von Bankräubern wird und alle mit dem strikten Einhalten der Verkehrsvorschriften zur Verzweiflung treibt. Die aberwitzige nie enden wollende Hetzjagd dreier Männer in „Dangan Runner“ (1996) wird oft als Inspiration für Tom Tykwers „Lola rennt” (1998) zitiert. Unwahrscheinlich, Tykwer ist ein großer Verehrer des polnischen Regisseurs Krzysztof Kieślowski, mit seinen drei Abwandlungen ein und derselben Geschichte variierte er die Grundidee dessen 1981 gedrehten Films „Der Zufall möglicherweise”. In “Mr. Long” bricht SABU mit den eigenen Regeln: Dieses Mal stellt sich die Normalität als Wahnsinn dar, und statt in Bewegung zu bleiben, ist der Killer verdammt, sich nicht vom Fleck zu rühren. Das wird für ihn zur persönlichen Extremsituation, eine Erfahrung, die ihn völlig verändert.

Ein ahnungsloser Nachbar kommt vorbei und probiert eine von Mr. Longs Suppen, er ist begeistert und nimmt den Killer mit zu sich heim, auch seine Freunde sind angetan von dem talentierten Hobbykoch. Man beschließt, dass der schweigsame Fremde das Catering für einen geselligen Abend ihrer Kabuki-Gruppe übernehmen soll. Und tatsächlich versorgt er die muntere Gesellschaft mit den verschiedensten Köstlichkeiten. Da er kein Japanisch versteht oder spricht, kann er dem Geschehen nur ungläubig staunend beiwohnen. Die Anwesenden sind entzückt von den herrlichen Speisen und schmieden fröhlich aufgeregt plappernd Zukunftspläne für „ihren” Mr. Long. Sie wollen seine scheußliche Unterkunft wohnlich gestalten und ihm zu einer Karriere als Koch verhelfen. Bereits am nächsten Tag starten die Hilfsaktionen und schließlich bauen die enthusiastischen Nachbarn sogar eine fahrbare Garküche für ihn. „Warum passiert all dies”, fragt der Killer den Jungen. Der antwortet: „Weil Du cool bist und nichts sagst”. Scheinbar unbeteiligt nimmt der Protagonist das Treiben hin, aber schon am darauffolgenden Mittag verkauft er mit dem kleinen Jun vor dem örtlichen Tempel seine wohl schmeckenden taiwanesischen Nudelsuppen. Wie die beiden den Karren zusammen durch den Straßenverkehr schieben, ist ein hinreißendes Bild, das zutiefst berührt. Es erinnert an Charlie Chaplin und „The Kid” (1921), auch wegen der spärlichen Dialoge.

Fast 30 Minuten vergehen, bevor Mr. Long das erste Wort sagt, dem Zuschauer ist es kaum bewusstgeworden. Musik, Geräusche sind so suggestiv, das unbewegliche Pokerface von Chang Chen („Grandmaster”, „The Assassin”) atemberaubend ausdrucksstark. Wie der charismatische Schauspieler seine Gefühle und Gedanken vermittelt, grenzt an Zauberei. Die Helden des in Europa so beliebten Regisseurs und Drehbuchautors umgibt immer eine Aura von Einsamkeit. Der Killer zählt die Tage bis zur Abfahrt. In diesem sozialen Abseits kann er weder nach seinen Regeln leben noch seine Sprache sprechen. Die Mahlzeiten sind das einzige Kommunikationsmittel, er bereitet sie mit der gleichen elegant ernsten Konzentration zu, mit der er noch vor kurzem die Kehlen seiner Opfer durchschnitt. Die Distanz zu den Mitmenschen ist keine feindliche, hat eher etwas Theatralisch-Rituales. Jun respektiert sie, während ungeachtet dessen die Beziehung zwischen beiden immer stärker wird. Der Junge, der so früh erwachsen werden musste, ähnelt ihm in seiner Abgeklärtheit, Ruhe und sanften Entschlossenheit. Die Präsente ließ der Kleine fast beiläufig neben mysteriösen Fremden fallen, es ist mehr ein Hinwerfen als ein Übergeben. Es bleibt dem Protagonisten überlassen, was er daraus macht.

Herrlich auch die äußere Veränderung, Mr. Long trägt nun mangels Alternative ein lächerliches T-Shirt mit dem Aufdruck ‚Perfume’, eine japanische Girl-Group. Aus dem gestylten Macho im Matrix-Anzug wird jene Vaterfigur, nach der sich Jun schon lange sehnt: Jemand, der ihn beschützt, ihm einen Teil der Verantwortung für die Mutter abnimmt, seinem Dasein einen Hauch von Unbeschwertheit und Sinn gibt. Keine Gefühle zu zeigen, ist die Stärke und zugleich die Schwäche unseres Killers. Humor als groteskes Stilelement hilft die Ungerechtigkeiten des Systems zu entlarven, aber auch zu ertragen. SABUs Herz schlägt für den kleinen Mann, der nur ein Spielball des Universums ist, der Zufall zerstört ihn, der Zufall rettet ihn, viel Spielraum bleibt da nicht. Doch die Nachbarn von Mr. Long nützen ihn, ihre Freundschaft, ihre Loyalität triumphiert vorübergehend über die Macht des Bösen. Trotzdem, seiner Vergangenheit kann keiner entfliehen, Lily erinnert sich, wie sie als Nachtklubtänzerin in Tokyo arbeitete. Dort lernte sie Kenji (Sho Aoyagi) kennen, einen Chauffeur aus dem Milieu. Sie waren glücklich und bald wurde sie schwanger. Ihr Arbeitgeber ist jener blonde Gangsterboss, den Mr. Long beseitigen sollte. Als er von der Schwangerschaft erfuhr, ließ er Kenji krankenhausreif schlagen und Lily sollte das Kind abtreiben. Sie lief weg, versteckte sich, brachte Jun zur Welt. Um zu überleben, blieb nur die Prostitution. Einer der Freier spritzte der jungen Frau gegen ihren Willen Heroin und wurde ihr Dealer. Sie verlor die Wohnung, zerbricht innerlich. Juns Vater sah sie nie wieder.

Mr. Long ist an der Grenze zum Stummfilm. Der Rückblick kommt unerwartet, die Verkettungen des kunstvoll konstruierten Plots erschließen sich erst im Nachhinein: Kenji war jener zornige Youngster, der von dem Yakuza sein Mädchen zurückforderte und dadurch den Killer vor dem sicheren Tod rettete. Einer Vergewaltigung folgt die Idylle: krasser könnten die Gegensätze kaum sein: Jun, Lily und Mr. Long zusammen beim Pingpong, im Badehaus, beim Töpfern. Nichts ist hier unwahrscheinlicher als das Glück oder die Liebe, es wird als Kitsch oder Romantik angeprangert, doch alle drei genießen es, auch wenn es nur von kurzer Dauer ist. Die Genres stellen einander in Frage, heben sich auf, führen Moral und Wertmaßstäbe ad absurdum. Mit Worten lässt sich dieses anrührende stilisierte Gangster-Epos kaum beschreiben. Es ist ein ständiger und doch immer wieder unvorhersehbarer Wechsel oder Bruch von Stilen, Farben, Gefühlen, Atmosphäre, Rhythmus und Sound. Nicht die Hardcore Action erinnert am Ende der Zuschauer oder die absurden Momente, wenn der Killer, noch in dem Jutesack verschnürt, blind durch die Gegend tapst, sondern die behutsame Annäherung zwischen Mr. Long und Jun. Fern jeder falschen Sentimentalität. Die Bilder sind sorgsam arrangiert, SABU spürt Schönheit auf, wo niemand sie vermutet, zwischen Gewalt, Brutalität, Dreck, Sperrmüll und zerbrochenen Fensterscheiben, Verzweiflung und Hoffnung. Zuletzt ein alles entscheidender Showdown.

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Originaltitel: Mr. Long / RYU SAN
Regie / Drehbuch: SABU, Hiroyuki Tanaka
Darsteller: Chang Chen, Yi Ti Yao, Run-yin Bai
Produktionsland: Japan, Taiwan, Hongkong, China, Deutschland, 2017
Länge: 128 Minuten
Verleih: Rapid Eye Movies
Kinostart: 14. September 2017

Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Rapid Eye Movies

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