„Miss Hokusai”. Von Drachen, Kurtisanen, Emanzipation und dem Geräusch fallenden Schnees
- Geschrieben von Anna Grillet -
O-Ei führt ein Schattendasein, die 23jährige hat das Talent des Vaters geerbt, aber ihre Bilder tragen seinen Namen: Katsushika Hokusai (1760-1849). Er zählt zu den bekanntesten Künstlern Japans. Des Meisters Werke inspirierten Claude Monet und Vincent van Gogh. Hier, auf der Kinoleinwand wird nun die Tochter zur Protagonistin. Regisseur Keiichi Hara inszeniert „Miss Hokusai” als anrührende poetische Coming-off-Age Story zwischen Tradition und Rebellion. Der ästhetisch virtuose japanische Zeichentrickfilm ist ein höchst ungewöhnlicher Mix aus Familiendrama, Slapstick, Geistergeschichte, Biopic, historischem Epos, Realität und Fiktion.
„Miss Hokusai” basiert auf dem Manga „Sarusuberi” von Hinako Sugiura, das Drehbuch schrieb Miho Maruo. Doch spätestens wenn „Die große Welle vor Kanagawa” das winzige Boot erfasst, ist es, als hätte Katsushika Hokusai selbst zusammen mit seiner Tochter diesen Anime kreiert und nicht die 350 Zeichner und Key Animation Supervisor Yoshimi Itazu. Die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Malerei sind aufgehoben, die Bilder entwickeln ein verblüffendes Eigenleben. Japan 1814. Edo, das heutige Tokyo, ist eine der am dichtesten besiedelten Städte der Welt. Das weitläufige Netz von Straßen, Gassen, Brücken, Märkten, Warenlagern, Teehäusern steckt voller Geheimnisse. Alle scheinen ständig in Bewegung, sie gleiten mehr, als dass sie gehen, Samurai, Bauern, Bürger, Kaufleute, Adlige, Geishas und mittendrin O-Ei, die uns direkt anspricht: „Da gibt es diesen schrulligen alten Mann, der malt einen riesigen Bodhidharma auf einen Bogen Papier, der die Größe von 120 Tatamimatten hat und dann wiederum malt er zwei Spatzen auf ein winziges Reiskorn. Wenn Sie ihn nicht als Tetsuzo kennen, dann vielleicht als den Maler Hokusai... Dieser schrullige eigenwillige Typ ist mein Vater.”
Tetsuzo gehört zu den gefragtesten Künstlern des Landes. Er arbeitet unermüdlich in dem Chaos seines kargen Studios. Unter wechselnden Pseudonymen schafft er Tag für Tag beeindruckende Werke. Er ist Mitte 50, mürrisch, streitsüchtig, neigt zu Wutausbrüchen und hat einen Hang zum Sarkasmus. Er liebt Süßigkeiten, macht sich aber wenig aus Geld. Große Summen würde er allenfalls für Aufträge verlangen, die für ihn keine Herausforderung darstellen. O-Ei ist seine Assistentin, malt jedoch auch Bilder allein. ”Wir sind Vater und Tochter, mit zwei Pinseln und vier Essstäbchen bringen wir uns immer irgendwie durch”, lautet ihre Devise. Da sie weiß, dass nur der Name des Meisters Geld, bringt, signiert sie nie mit ihrem eigenen. Das ist heute nicht anders als damals. Kein Kunsthändler würde freiwillig den Wert seiner Bilder mindern wollen, indem er deren Authentizität in Frage stellt. Selbst wenn es technisch möglich wäre, bestimmte Werke eindeutig O-Ei zuzuordnen, wäre der Widerstand von Museen und Sammlern erheblich. Die Darstellungen würden nichts von ihrer Schönheit einbüßen, wenn die Öffentlichkeit wüsste, dass die Tochter sie gemalt hätte, doch begehrt und wertvoll sind sie allein deshalb, weil sie den Namen Hokusai tragen.
Eigenwillig ist O-Ei genau wie ihr Vater, sie hat nicht nur sein Talent sondern auch dessen Sturheit geerbt. Gefühle für einander zeigen beide nie, die Malerei ist, was sie verbindet. Auch wenn sie kaum ein freundliches Wort wechseln, eigentlich Rivalen sind, spürt man die gegenseitige tiefe Zuneigung. Sie unterstützt ihn, er spornt sie an. Wenn O-Ei sich daran macht, die Zeichnung eines Drachen zu beenden, wächst die Gestalt des Fabeltiers am Nachthimmel ins Gigantisch-Übernatürliche. Der Abgabetermin rückt bedrohlich näher, und Kunst will wie ein Monster gezähmt werden. Die einzelnen Episoden der Erzählung sind anekdotisch locker verknüpft, entwickeln einen für das Genre außerordentlich bedächtigen Rhythmus fern jeder Melodramatik. Gedanken und Albträume nehmen Gestalt an. Tragik entlarvt sich nur zögerlich, Sentimentalität ist kein Tabu, Komik etwas kokett, wundervoll das Spiel von Licht und Schatten, Kerzen und Lampen. Handgezeichneten Figuren werden verwoben mit stilisierten CG. Nicht Suspense bestimmt den Fortgang der Handlung sondern die zwiespältigen Gefühle der Protagonistin. O-Ei entspricht wenig dem japanischen Schönheitsideal, aber sie zieht die Blicke der Männer auf sich. Ihre breiten Augenbrauen erinnern an die mexikanische Malerin Frida Kahlo, Yoshimi Itazu leugnet den Bezug, er hätte vielmehr an Pablo Picasso gedacht. O-Ei ist mutig, unbefangen, selbstbewusst, dann wieder schüchtern, linkisch. Wer sich als Kavalier um sie bemüht, wird unwirsch zurückgewiesen. Sie raucht im Studio Pfeife, kämpft um Unabhängigkeit und einen eigenen Stil. Wenn sie die Straße überquert, erklingt unerwartet der explosive Rocksound elektrischer Gitarren.
Die geschminkten Gesichter der Kurtisanen faszinieren O-Ei. Wenn ihr Vater und dessen geschwätziger Schüler Zenjiro sie nicht ins Rotlichtviertel begleiten können, geht sie allein dorthin. Sie hat besonders Talent, Frauen zu zeichnen, fühlt sich ihnen mehr verbunden als jenen unhöflichen, ständig betrunkenen Männern, die mit einer selbstbewussten jungen Frau, die weder kocht noch putzt, wenig anfangen können. Zwar hat die Protagonisten ein Faible für den großgewachsenen, attraktiven Künstler Kuninao, doch ihre Annäherungsversuche sind mehr als ungeschickt. Sie selbst hat keine sexuellen Erfahrungen, Erotik betrachtet sie nüchtern wie jedes andere Sujet, unterschätzt deren Magie. Am meisten am Herzen liegt ihr die jüngere Schwester O-Nao. Sie ist blind, lebt zusammen mit der Mutter nicht weit entfernt vom Studio und doch verweigert Hokusai jeden Kontakt. Selbst auf der Straße geht er wortlos an der Kleinen vorbei, O-Ei ist erschüttert von so viel Lieblosigkeit und emotionaler Kälte. Vielleicht sieht er, der große Meister, dessen Dasein und Arbeiten ausschließlich auf visuellen Reizen beruht, in der Blindheit die schlimmste Strafe der Götter. O-Ei dagegen kümmert sich rührend um die Schwester und weiß, dass die ihre Blindheit durch andere Sinne ausgleicht. Gemeinsam fühlen, hören und riechen sie den Sommer, den Herbst und den Winter, entdecken zusammen die Welt.
In einem verschneiten Garten will ein Junge mit O-Nao spielen. Als er begreift, dass sie nicht sehen kann, wirft er Schneebälle in die Zweige der Bäume, so dass die weiße Pracht sich auflöst und in kleinen Lawinen herabstürzt. Jenes sanfte weiche Geräusch des fallenden Schnees hat einen besonderen Zauber genau wie der Versuch O-Eis, das Rot einer Rose zu beschreiben. Sie führt die kleine Schwester auch durch ihre Bilder, doch dann kommt der Frühling. O-Nao erkrankt. Ob Bordell oder Hölle, der Film, genau wie die Werke Hokusais, reflektiert den Zeitgeist, die Suche nach dem Sublimen. Die Kunst stellt ihre übernatürlichen Kräfte unter Beweis, Hokusai wird als Exorzist zu einer von bösen Geistern besessenen Geisha gerufen. Dem eigenen Kind aber kann er nicht helfen, es stirbt. Zum ersten Mal begreift O-Ei, dass der Vater ihre jüngere Schwester wirklich liebte, ahnt die Gründe seines Handelns.
Zum Background des Films: Im Jahr 1843 zeichnete Tsuyuki Kosho ein Bild mit dem Titel: „Skizze des Hauses von Hokusai”. Es ist das einzige bekannte Dokument, das den Meister in seinem privaten Umfeld zeigt und auch seine Tochter O-Ei. Sie beobachtet ihn bei der Arbeit und raucht Pfeife. Ihre Ehe mit dem Minamizawa Tomei war rasch geschieden worden, weil O-Ei keine treusorgende Hausfrau sein wollte, sie war ähnlich unordentlich wie ihr Vater und machte kein Hehl daraus, dass sie die künstlerischen Ambitionen ihres Mannes lächerlich fand. Nach der Scheidung zog sie zu ihrem Vater. Erst seit wenigen Jahren wird ernsthaft untersucht, wie umfangreich der Anteil von O-Ei an Hokusais Oeuvre war. Es gibt nur zehn Werke, die ihr eindeutig zugeschrieben werden können. Im Nachwort ihres Romans „The Gost Brush”, der in Großbritannien unter dem Titel „The Printmaker’s Daughter erschien, geht Katherine Grover auf die hitzige Debatte über die Authentizität des Spätwerks ein. Allerdings gibt es kein Verfahren, mit dem zweifelsfrei ermittelt werden könnte, ob ein Bild von Hokusai selbst oder seiner Tochter stammt. Weder der Meister noch O-Ei wollten, dass die Bilder unterschieden werden konnten. Das Thema wurde vor allem von den japanischen Comics, den Mangas aufgegriffen wie „Furious Love” (1977) von Kazu Kamimura. Grade weil so wenig über Hokusais Tochter bekannt ist, eröffnet es den Autoren das Terrain der Phantasie und lässt ihnen viel Spielraum zwischen Realität und Fiktion. So ist auch von der historischen O-Nao nichts bekannt. Dass sie blind war, hat Hinako Sugiura erfunden.
Durch Katsushika Hokusai wurde der Begriff Manga („ungezügeltes Bild”) populär. Es ist aber ein Irrtum, ihn als Vorvater der heutigen japanischen Comics anzusehen. Die 15 Bände umfassende Buchreihe „Hokusai-Manga” enthielt Skizzen, die keine zusammenhängende Geschichten erzählen, sondern lediglich Momentaufnahmen der Kultur und Mode in der späten Endo-Zeit sind. Edo war Hokusais Geburtstort und das politische wie kulturelle Zentrum Japans. Seit 1639 herrschte eine strikte Isolationspolitik. Die 30 Millionen Japaner konnten ihr Land nicht verlassen, Ausländer durften nicht einreisen mit Ausnahme einiger holländischer und chinesischer Kaufleute in Nagasaki und koreanischer Händler in Tsushima. Die Isolation hatte nicht zur Folge, dass die Entwicklung Japans im 17.und 18. Jahrhundert stagnierte. Im Gegenteil. Die Diktatur führte zu einer künstlerischen Renaissance. Vor allem in der Millionen-Stadt Edo wollten die Menschen unterhalten werden. Sie besuchten Theater, Sportveranstaltungen und legal betriebene Bordelle. Sie verlangten nach reproduzierten Bildern von beliebten Schauspielern, Ringern und Kurtisanen. Holzschnitte wurden zu einer boomenden Industrie.
Hokusais künstlerisches Schaffen erstreckte sich über eine Zeitspanne von 75 Jahren. Seine Kreativität und Produktivität ließen auch im Alter nicht nach. Der Name Hokusai war nur einer von 30 Künstlernamen, die er sich in seiner langen Karriere gab. Als Kind hieß er Tokitaro, Freunde und Angehörige nannten ihn auch Tetsuzo. Er signierte seine Bilder bevorzugt mit “Mann, der verrückt nach Malen ist.” und später mit “Alter Mann, der verrückt nach Malen ist. Der berühmte Künstler galt als exzentrisch und lebte in totaler Unordnung. Putzen und Aufräumen hielt er für reine Zeitverschwendung, lieber suchte er sich ein neues Atelier, wenn das alte zugemüllt war. Insgesamt ist er angeblich 93-mal umgezogen. Der Film kombiniert moderne Animation mit einer Vielzahl seiner Darstellungen. Hokusai war Zeit seines Lebens darauf konzentriert, sich künstlerisch weiterzuentwickeln. Auf seinem Totenbett soll er 1849 gesagt haben: „Hätte der Himmel mir weitere fünf Jahre geschenkt, wäre ich ein großer Maler geworden.” In einer autobiographischen Notiz hatte er bedauert, vor seinem 70. Geburtstag nichts von wirklicher Bedeutung geschaffen zu haben.
Originaltitel: Sarusuberi: Miss Hokusai
Regie: Keiichi Hara
Sprecher: Yutaka Matsushige, Anne Watanabe, Kumiko Aso,
Produktionsland: Japan, 2015
Länge: 93 Minuten
Verleih: AV Visionen
Kinostart: 16. Juni 2016
Fotos & Trailer: Copyright AV Visionen
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