„Mr. Gaga”. Eine Ästhetik des Widerstands
- Geschrieben von Anna Grillet -
Ohad Naharin: Seine ungewöhnlichen Visionen haben die Welt des „Modern Dance“ revolutioniert. Er kam erst nach dem Militärdienst zum Ballett, war schon 22 Jahre alt. Heute gehört der israelische Künstler zu den führenden zeitgenössischen Choreographen.
Die Performances sind leidenschaftlich, radikal, von unglaublicher Kraft, explosiv, animalisch, fast martialisch, andere wieder sanft, sublim, zurückhaltend, sinnlich, fragil. Wie einen Drogenrausch empfand Regisseur Tomer Heymann („Paperdolls”) als junger Soldat Anfang der Neunziger die Begegnung mit den Kreationen Naharins. Auch auf der Leinwand bleibt jene Magie der Bilder körperlich spürbar. Die atemberaubenden Bewegungsabläufe verbinden Grauen und Grazie, Schrecken und Schönheit auf eine frappierend reale, unverwechselbare Weise. „Mr. Gaga” ist ein fesselnder, vielschichtiger, suggestiver und visuell virtuoser Dokumentarfilm.
Tomer Heymann stellt die Querverbindungen her zwischen Wirklichkeit und Tanz, Vergangenheit und Gegenwart. Es geschieht eher beiläufig, selbst wenn das Format ständig wechselt. Schritt für Schritt begreift der Zuschauer die Zusammenhänge und den Ursprung der Choreographien. Kindheit, Kibbuz, der Krieg um die Golan-Höhen, der frühe Tod von Mari, seiner ersten Ehefrau. Das Archivmaterial des Porträts ist beeindruckend. Lange hatte der Dokumentarfilmer um das Vertrauen seines Protagonisten kämpfen müssen, der künstlerische Leiter der Batsheva Dance Company misstraute dem Medium zutiefst. Umso erstaunlicher mit welch schonungsloser Offenheit Naharin und sein Ensemble sich nun auf Proben oder in Gesprächen der Kamera stellen.
Kompromisse hat der 63jährige nie gemacht, weder politisch noch als Tänzer oder Ehemann. Er kann durchaus geduldig und einfühlsam sein, doch manchmal klingt seine Kritik fast vernichtend, gehässig: „Du langweilst mich”, aber so unerbittlich ist er auch sich selbst gegenüber. Mit „Gaga” entwickelte der Choreograph eine völlig neue Bewegungssprache, will auf diese Weise Grenzen und Traditionen durchbrechen. Es geht um Freiraum und die Lust am Moment, die Interaktion zwischen den Beteiligten und einer Leidenschaft für Extreme. „Gaga” ist mehr Philosophie als Stil, die Beteiligten sollen lernen, auf ihren Körper zu hören, bevor sie ihm etwas befehlen. Das Ergebnis ist verblüffend wie faszinierend. Worte können kaum beschreiben, was hier entsteht. Auch eine Fotografie kann es nicht, sie friert den Augenblick ein, anders als die Filmkamera von Itai Raziel, die dem Rhythmus der Musik oder Geräuschkulisse folgt.
Eine junge Tänzerin bei der Probe, sie soll aus dem Stand zu Boden gleiten. Der Zuschauer ahnt die unbewusste Furcht des Mädchens, noch haben ihre Versuche etwas kontrolliert Künstliches, unbewusst auf Effekt bedacht. Naharin lässt sie das Fallen wiederholen, immer wieder, aber ganz ohne Druck. Sein Ziel ist nicht Perfektion, wie er in Interviews oft betont, sondern den eigenen Körper zu entdecken, ihm zu vertrauen auch dessen heilender Kraft. Und dann ganz unerwartet, wird der improvisierte Sturz durch seine natürliche Selbstverständlichkeit zum sinnlichen Schauspiel, erinnert an die Brandung des Meeres, eine Welle, die vom Sandstrand aufgenommen wird. Die Blockade ist gebrochen. Um nicht jedes Mal den Begriff „my movement language” (dt.: meine Bewegungssprache) benützen zu müssen, nannte der Guru des Modernen Tanzes sie kurz „Gaga”. Das soll nach Familienüberlieferung das erste gesprochene Wort des kleinen Ohads gewesen sein. Seine frühe Kindheit im Kibbuz Misra empfindet er als eine Zeit ungetrübten Glücks, die ihn prägte, und nach der er sich noch heute zurücksehnt. Das Archivmaterial aus jenen Jahren, einfach hinreißend. Ohad als Junge, so wie ihn der Film zeigt, war immer in Bewegung, Tanzen ist für ihn eine Lebensform, Tanzen, das ist sein Postulat, sollten wir alle.
„Mr. Gaga” ist auch eine spirituelle Expedition. Ob schmerzliche Erinnerungen oder Bilder von der Kriegsfront, der Film ist wie die Choreographien des Meisters oft schonungslos, erschreckend und von bestürzender Schönheit. Hier entsteht eine ungewohnte Ehrlichkeit fern jeder Tabus, Protagonist und Regisseur entlarven nicht nur die rigiden Bewegungsmuster des Balletts sondern auch die eigenen Lügen, das Spiel mit der Wahrheit. 1974 begann Naharin auf Drängen seiner Mutter eine Ausbildung bei Batsheva Dance Company in Tel Aviv. Dort begegnet er der legendären Martha Graham, die ihn wenig später nach New York an die School of American Ballet holte. An der Juilliard School unter Maggie Black und David Howard verfeinerte er seine Technik. Von Anfang an ist er einer, der nicht protegiert werden will, gegen den Strom schwimmt. Das musste notgedrungen manchmal zu künstlerischen Divergenzen führen wie während seiner Zeit in Maurice Béjarts „Ballet du XXe siècle“. Anfang der Achtziger entstehen in den USA seine ersten Choreographien. Er trifft Mari Kajiwara, seine große Liebe. Sie ist schon ein Star, ihn kennt noch kaum jemand. Die beiden heiraten und gründen zusammen eine Company. „Königin und Sklavin”, so definiert Mari das Dasein einer Tänzerin. Naharin nennt sie eine Dichterin. Der Entschluss, Amerika zu verlassen und nach Israel überzusiedeln, fällt ihr schwer. Die Anfänge waren nicht einfach, das Publikum, konservativere Kost gewöhnt, verweigerte sich. Aber die beiden setzen sich durch, Naharin avanciert zu einer Art Nationalheld. 2002 stirbt Mari an Krebs. Trauer und Tanz schließen sich nicht aus, sagt der Choreograph, doch der Verlust verändert ihn und er verändert sein Leben.
Acht Jahre dauerten die Dreharbeiten und zuvor musste Tomer Heymann sich lange gedulden, bis er das Okay von Naharin bekam, alles, was im Tanzstudio passierte ohne irgendwelche Einschränkungen aufzuzeichnen. Er begleitete den Choreographen bei der Arbeit, in seinem privaten Leben selbst bei den Besuchen der Eltern. Im Ausland interviewte Heymann Tänzer, die der Choreograph früher trainiert hatte und durchforstete daheim die Archive. Die eigentliche Herausforderung war im Schneideraum die verschiedenen Ebenen miteinander in Einklang zu bringen. „Mr. Gaga” ist das Gegenstück zu Wim Wenders Dokumentarfilm „Pina”, es ist weniger missionarisch, glücklicherweise nicht in 3D, biographisch und bewusst ein bisschen indiskret. Es erzählt von der Heimat des Künstlers, der Zerrissenheit und den Ängsten des Landes, von Okkupation und den Toten an der Front. Pina Bausch gehörte zu den Vorbildern des Künstlers, als er jung war. Doch dann entwickelte Naharin eine ganz bewusst israelische Ästhetik des Widerstands und der Konfrontation. Harmonie bleibt meist eine unerfüllte Sehnsucht, nicht nur auf der Bühne: die Schlachtfelder sind längst Teil des kollektiven Gedächtnisses. Aber „Mr. Gaga” erzählt auch von der Liebe, der Film ist Mari gewidmet.
Naharin hat wieder geheiratet, die 31jährige Batsheva-Tänzerin Eri Nakamura, sie haben eine gemeinsame Tochter. „Die Szene, die sich am meisten in meinem Herzen eingebrannt hat,” erklärt der Regisseur, „ist als Eri eine Probe gezwungenermaßen unterbricht und zu ihrer Tochter Noga rennt, weil diese draußen herzzerreißend weint. Das war ein Moment unerträglicher Spannung zwischen Familie und Vatersein, Karriere und Profession.” Das Gesicht des Choreographen ist ausdruckslos, er weiß nicht, wie er reagieren soll. Naharin wurde Tänzer, obwohl er unter einer schweren Rückenverletzung leidet, er ist jemand, der Schwierigkeit nicht aus dem Weg geht, im Gegenteil. Seine erklärten Ziele sind das Ende der Besetzung, die Trennung von Religion und Staat. Seine Bühne ist keine Agitprop-Arena und doch ist Ausdruckstanz nirgendwo so politisch wie in Israel. Naharins Choreographie zum Pessach-Lied „Echad Mi Jodea” (אחד מי יודע) sorgte 1998 während der Feierlichkeiten anlässlich des 50jährigen Bestehens Israels unter den konservativen Regierungsmitgliedern für einen Skandal.
Naharin sagt über „Gaga”: „Wir erarbeiten uns ein Wissen darüber, wie man sich effizient und instinktiv bewegt, und wie man lernen kann, seine explosive Kraft und sein Feingefühl miteinander zu verbinden. Wir lernen über uns selbst zu lachen. Wir lernen unsere Leidenschaft mit der Kraft der Phantasie zu verbinden, während wir unsere körperlichen Fähigkeiten entwickeln...In meinem Leben und bei meiner Arbeit habe ich nie nach Perfektion gesucht. Die Suche nach Perfektion assoziiere ich mit konventionellem und konservativem Denken. Ich strebe nach sinnvollen und großartigen Momenten”. Das mag wahr sein, und doch sind die Choreographien von umwerfender Perfektion, auch wenn ihr Schöpfer das weit von sich weist. Heymann nennt seinen Protagonisten „einen widersprüchlichen Charakter, was ihn für einen Dokumentarfilm zu einem faszinierenden Subjekt macht.” Der Ausnahmekünstler ist genial, charismatisch, witzig, attraktiv, eloquent, manchmal arrogant, verlangt totales Engagement. Das Resultat ist überwältigend und unvergleichlich reizvoll. Sein Geheimnis: lernen, sich fallen zu lassen?
Originaltitel: Mr. Gaga
Regie/Drehbuch: Tomer Heymann
Darsteller: Ohad Naharin,
Produktionsland: Israel, Schweden, Deutschland, Niederlande, 2015
Länge: 100 Minuten
Verleih: Farbfilm
Kinostart: 12. Mai 2016
Fotos & Trailer: Copyright Gadi Dagon/Heymann Brothers Films
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