Film
Die Augen des Engels

Ein Regisseur verzweifelt – das Drehbuch gerät zum bedrohlichen Labyrinth.
Michael Winterbottom inszeniert „Die Augen des Engels” als perfid kunstvolle Demontage eines Justizthrillers. Entstanden ist ein Hybrid aus Filmessay und Neo-Noir. Poetisch und ästhetisch virtuos.

Er basiert auf dem spektakulären italienischen Mordprozess gegen Amanda Knox. Erst Ende März 2015 war die 27jährige Amerikanerin in letzter Instanz von dem Vorwurf freigesprochen worden, im November 2007 gemeinsam mit ihrem damaligen Freund Raffaele Sollecito die Mitbewohnerin Meredith Kercher ermordet zu haben.

Damit bleibt die Frage nach den Tätern weiter ungeklärt. Bei Winterbottom ist die Gerichtsverhandlung noch in vollem Gange. Die Namen der Angeklagten und des Opfers hat er geändert, den Schauplatz des bestialischen Verbrechens von Perugia nach Siena verlegt. Sein Protagonist ist ein deutscher Regisseur, Thomas Lang (Daniel Brühl). Der braucht dringend ein Erfolgserlebnis. Privat wie beruflich läuft vieles schief, die geschiedene Ehefrau lebt mit der kleinen Tochter in den Staaten, er scheint auch als Vater plötzlich überflüssig. Sein letzter internationaler Spielfilm liegt lange zurück.

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Der aufsehenerregende Kriminalfall fasziniert Thomas, die perfekte Story für seine nächste Produktion? Vor Ort will er die Hintergründe recherchieren. Nur um Missverständnissen vorzubeugen, dies wird kein Thriller, auch wenn die Auftraggeber von Thomas bestimmt darauf hoffen. Eine Frauenleiche, vergewaltigt, halbnackt, von Messerstichen entstellt. Die Medien berichten täglich mehrmals. Sexspiele, Eifersucht, Satanismus, Verleumdungen, Lügen, Gerüchte. Krass muss es sein, schmierig, nur so steigen Auflagen und Einschaltquoten. Das Opfer, die britische Studentin Elizabeth Pryce (Sai Bennett) ist bald vergessen. Im Rampenlicht steht die wegen Mordes angeklagte attraktive Amerikanerin Jessica Fuller (Genevieve Gaunt). Bald schon stilisiert die lokale Presse sie zum „Engel mit den Eisaugen” (l’angelo dagli occhi di ghiaccio). Das morbide Vergnügen am Verbrechen avanciert zum Zeitgeist. Hier geht es weniger um Schuld oder Schuldzuweisungen, es ist der Versuch, sich mit den Folgen einer schockierenden wie gewalttätigen Tat auseinanderzusetzen. Regisseur Michael Winterbottom verweigert sich erfolgreich dem Whodunit-Genre.

Die Journalistin Simone Ford (Kate Beckinsale) führt Thomas in den Kreis ihrer Kollegen ein. Sie selbst verfolgt den Fall seit den ersten Tagen, hat ein Buch darüber geschrieben. Die meisten Berichterstatter verhökern weltweit skrupellos Spekulatives wie Nichtssagendes, selbst das Offensichtliche gilt im Fall Jessica Fuller als Sensation. Der Journalismus ist zum sinnentleerten Ritual erstarrt. Es zählt allein Angebot und Nachfrage. Simone rät dem unentschlossenen Filmemacher: „Du kannst die Wahrheit nur durch die Fiktion erzählen”. Daniel Brühl als Thomas wirkt ein wenig fad, das mag vielleicht Grund genug sein für ihn, an sich selbst zu zweifeln. Er stellt alles in Frage, auch seine eigenen Motive, ist wahrlich nicht der Prototyp des klassischen Helden: Ein Außenseiter, verschlossen, etwas verbittert, zu viel Koks, zu wenig Beziehung zur Realität. Er sei das Alter Ego von Michael Winterbottom, behaupten manche Kritiker, der britische Regisseur bestreitet es vehement, verständlich. Thomas heißt er genau wie der Protagonist in Michelangelo Antonionis Film „Blow Up” (1966). Auch dort ging es um die vermeintliche Wirklichkeit, war nicht der geheimnisvolle Mord das Thema sondern der Fotograf und seine Aufnahmen.

Thomas, der ewiger Zweifler, kann sich nicht entscheiden, Dokumentar- oder Spielfilm. Er findet keinen Zugang zum Sujet, also macht er die Suche danach zum Sujet. Es folgt eine Affäre mit Simone, aber erst als er in Siena auf die Studentin Melanie (Cara Delevingne) trifft, erwacht der Protagonist aus seiner Erstarrung, nehmen Film und Fall wieder Konturen an. Der Regisseur hat bisher als Chronist versagt, Melanie bringt ihn endlich auf eine heiße Spur. Eduardo (Valerio Mastandrea), der mysteriöse furchteinflößende Blogger, soll wichtige Informationen über das Verbrechen und dessen Hintergründe haben. Simone vermutet, dass er selbst darin verwickelt ist. Sympathisch amateurhaft durchsucht Thomas heimlich das Zimmer seines diabolischen neuen Bekannten und entdeckt ein verdächtiges Messer. Die Mordwaffe? Der Protagonist sabotiert unverhofft die eigenen Theorien, ist mehr philosophierender Angsthase als ein Philipp Marlowe. Blutige Gewaltfantasien machen ihn für Momente zum surrealen Komplizen der Täter. Das Drehbuch verselbstständigt sich. Die labyrinthischen schwach erleuchteten Seitengassen Sienas werden zur Metapher für die aussichtslose Suche nach der Wahrheit. Riesige Reptilien tauchen kurz auf wie einem Mysterythriller entflohen. Die tote Elizabeth erscheint als leicht verschwommene Figur in der Ferne. Derweil halten die kunstvoll verflochtenen Handlungsstränge der Fülle widersprüchlicher Indizien kaum stand.

Was einmal das Leben des Protagonisten war, verblasst zur vagen Erinnerung. Die kleine Tochter Bea (Ava Acres) ist nur noch ein ungeduldiges zappeliges Wesen auf Skype, der neue Partner der Mutter längst ein attraktiver vollwertiger Vaterersatz. Hier in Thomas düstrer Wohnung dreht sich alles allein um den künstlerischen Schaffungsprozess, die Wirklichkeit scheint unvorstellbar, der Begriff der Wahrheit verliert so jede Berechtigung. Das mittelalterliche Siena ist voller dunkler Geheimnisse. Am Ende will Thomas sein Drehbuch nach dem Vorbild von Dante Alighieris „Göttlicher Komödie” strukturieren. Das ist genau, was Michael Winterbottom schon tut. Hölle, Fegefeuer, Paradies. Protagonist und Regisseur, die Rollen werden austauschbar. Der Zuschauer verirrt sich zwischen den Spiegelungen von Fiktion und Realität. Verschwörungstheorien sind irgendwann überzeugender als die schlampig ermittelten Fakten beim Prozess. „Die Augen des Engels” ist mehr als ein selbstreflektierender Essay als Noir maskiert, er schildert den Verlust einer Tochter. Die Eltern des Mordopfers fühlen sich um die Gerechtigkeit betrogen, die Eltern der vermeintlichen Täterin verunglimpft. Thomas verspürt nur noch Leere, vielleicht hätte er sich selbst und seine Pläne schon aufgegeben, wäre da nicht Melanie, die Muse mit ihrer unerschöpflichen Energie. Eine platonische Beziehung als Ideal in einer korrupten Welt. Der Prozess fungiert bis zuletzt als Projektionsfläche, reflektiert Vorurteile, geheime Sehnsüchte, Hass und Rache. Die Grenze zwischen Beobachter und Täter wird durchlässig.

Michael Winterbottom suchte immer schon Filmstoffe, die sich durch Unmittelbarkeit und Aktualität auszeichnen wie „The Road to Guantanamo” (2006), „In This World”(2002) oder „Welcome to Sarajevo”(1997). Der Regisseur scheute nie die Umsetzung kontroverser Themen wie Jim Thompsons Pulp Klassiker „The Killer Inside me” (2010), manche Zuschauer waren angewidert von der Brutalität der Bilder. Ganz mag er selbst hier nicht von der Avantgarde-Gewalt lassen. Es ist nicht das erste Mal, dass er sich mit dem Horror von realen Mordfällen auseinandersetzt: „Ein mutiger Weg” (2007) handelt von der Entführung und Ermordung des amerikanisch-israelischen Journalisten Daniel Pearl. Es ist auch nicht das erste Mal, dass er die Schwierigkeiten bei der Entstehung eines Drehbuchs und Films thematisiert: „A Cock and Bull Story” (2005) erzählt von dem Versuch eines Regisseurs, Lawrence Sternes als unverfilmbar geltenden Roman „Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman“ in den Griff zu bekommen.

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Originaltitel: The Face of an Angel
Regie: Michael Winterbottom
Darsteller: Daniel Brühl, Kate Beckinsale, Cara Delevingne, Valerio Mastandrea,
Großbritannien, Italien, Spanien, 2014
Länge: 102 Minuten
Verleih: Concorde Filmverleih GmbH
Kinostart: 21. Mai 2015 “Die Augen des Engels”. Abschied von der Wahrheit

Fotos & Trailer: Copyright Concorde Filmverleih GmbH

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