Im Rahmen des Internationalen Sommerfestivals können Gäste sich ab 13. August auf Kampnagel selbst inszenieren: Christoph Schlingensiefs Gesamtkunstwerk, der Animatograph, gewährt Einlass in das heterogene Innenleben.
Die Langzeitinszenierung begann 2005 auf Island, war in Wien, Namibia und Bayreuth. Kurz vor der Premiere malt eine sehr kleine Dame noch an einer dazugehörigen Wand einen der unerlässlichen Straußenvögel. Karin Witt, 125 Zentimeter groß, ausgesprochen selbstbewusst und charmant, gehört nach eigener Aussage zum Schlingensief’schen Inventar…
Dagmar Seifert (DS): Und wie kam es dazu, Frau Witt?
Karin Witt (KW): Das ist eine lange Geschichte. Als ich jung war, da war so was wie Kunst, Schauspiel, Theater für mich weit weg. Ich hätte immer gedacht, damit kann man doch Unterhalt und Rente nie erreichen. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, in Schleswig-Holstein, und zwar auf einem Bauernhof. Meine Eltern waren Landwirte, wir hatten Kühe und Schweine und Pferde – deshalb hab ich auch Reiten gelernt, das konnte Christoph Schlingensief kürzlich auf Island gut gebrauchen. Er hat alle anderen gefragt, ganz zum Schluss erst mich, er hätte es mir wohl nicht zugetraut: „Karin, kannst du eigentlich reiten?“ – Und ich hab gesagt: „Natürlich.“
D.S.: Eine Kindheit auf dem Land. Hatten Sie Geschwister?
K.W.: Zwei Schwestern. Aber ich war die einzige Kleine, meine ältere und meine jüngere Schwester sind ganz normalwüchsig. Mir lag immer viel daran, nicht abhängig zu werden. Ich wollte auf jeden Fall berufstätig sein, am liebsten angestellt, bloß nicht selbstständig.
D.S.: Warum nicht?
K.W.: Wegen des Urlaubs! Als Selbständiger kann man sich meistens keinen Urlaub leisten. Ich reise so gern. Aber auf anderer Ebene liegt mir viel daran, selbstständig zu sein, als Lebenshaltung nämlich.
D.S.: Sie sind nicht verheiratet?
K.W: Nein, und ich war’s auch nie. Drei Männer wollten mich heiraten und allen dreien hab ich eine Absage gegeben. Bei dem dritten war das allerdings so… Als er mich fragte, da war ich nicht bereit. Und später hat er leider nie wieder gefragt. Kinder hab ich auch nicht. Aber meine Schwestern haben zusammen 8 Kinder. Wissen Sie, acht Nichten und Neffen, das reicht. Da braucht man keine eigenen Kinder.
D.S.: Sie haben also zunächst einen unkünstlerischen Beruf ergriffen?
K.W.: Ich hab in einer Umschneiderei gearbeitet.
D.S.: Das ist doch auch im weitesten Sinne schöpferisch?
K.W.: Doch, eigentlich schon. Aber wirklich nichts gegen das, was ich jetzt mache! In den 70er Jahren ging das los mit mir und dem Theater. Ich wohnte in Hamburg und war inzwischen im Bundesselbsthilfeverband Kleinwüchsiger Menschen e.V. Bei denen haben die Theater nachgefragt, wenn sie Zwerge und so was brauchten. Damals suchte das Operettenhaus auf der Reeperbahn welche für das Weihnachtsmärchen, Schneewittchen. Ich war einer von den sieben Zwergen. Das passte mir auch deshalb gut, weil ich gerade mal für kurze Zeit arbeitslos war. Es hat Spaß gemacht, ich hatte Zeit dafür…
D.S.: Und es wurde gut bezahlt?
K.W.: Na ja. Damals war ich noch jung und unschuldig und ich dachte wirklich, das würde ganz gut bezahlt.
D.S.: Und Sie sind dann weiter angefordert worden, für andere Rollen?
K.W.: Ja. Ich hab eine ganze Menge gespielt. Nur während der Zeit mit meinem letzten Lebenspartner, neun Jahre lang, hab ich es bleiben lassen. Das wäre einfach zu viel gewesen – ich brauchte schließlich Zeit für den Mann und Zeit für den Verein, ich bin immerhin erste Vorsitzende im Landesverband Hamburg, das ist viel Arbeit. Aber dann starb mein Partner – 1988 im August. Und dann hat es auch noch eine Weile gedauert, bis ich wieder mit dem Spielen angefangen hab. 1996 kam ein wunderbares Angebot: Christoph Marthaler wollte mich für das Stück Kasimir und Karoline von Ödön von Horváth. Da gibt es einen Direktor der Abnormitäten, einen ganz bösen kleinen Mann, eine herrliche Rolle…
D.S.: Sind Sie gern böse?
K.W.: Ja! Auf der Bühne schon. Ich glaube, ich kann das besser ’rüberbringen als Freundlichkeit. Trotzdem, ein Problem hatte ich dann auch wieder damit. Marthaler ging später nach Zürich und wir haben auch dort Kasimir und Karoline gespielt. Und da ist es geschehen, dass zum Schluss alle Beifall bekommen haben, nur ich nicht. Mich haben sie ausgepfiffen und ausgebuht, drei Abende hintereinander.
D.S.: Weshalb?
K.W: Weil der Abnormitätendirektor seine Abnormitäten mit der Peitsche schlägt. Das fanden die Zuschauer schrecklich. Und das hat mich sehr verstört. Christoph Marthaler hat gemerkt, dass mit mir was nicht stimmt. Ich ging beim Ende des Stücks nicht mehr auf die Bühne, weil ich es nicht ausgehalten hab. Er hat mich gefragt, was los ist und ich hab es ihm erzählt. Und er sagte: Karin, der böse Direktor, das bist doch nicht du. Das ist deine Rolle und ich, als Regisseur, ich will, dass du so böse bist. Dass die Leute pfeifen, das zeigt, wie perfekt du es spielst. Dass sie dich ausbuhen, das ist dein Applaus!
D.S.: Sind Sie dann wieder auf die Bühne gegangen zum Schluss des Stückes?
K.W.: Ja. Von da ab hat es mir wirklich nichts mehr ausgemacht. Irgendwie war ich sogar stolz darauf.
D.S.: Und wie kamen Sie nun zu Schlingensief – oder er zu Ihnen?
K.W: Das war am letzten Tag in Zürich, 2003. Ich wollte am Abend mit dem Zug nach Hause, ich hatte schon meine Fahrkarte. Und da wollte mich plötzlich eine Dame sprechen, die für Christoph Schlingensief Casting machte. Sie sagte, er will mich kennen lernen und er will, dass ich für ihn spiele.
D.S.: In welchem Stück?
K.W.: ATTABAMBI-Pornoland. Das Casting sollte am kommenden Tag sein. Ich erklärte der Castingfrau, das sei ganz unmöglich. Meine Wohnung in Hamburg, der Verein, meine Fahrkarte… Ich überlegte, ob ich, sobald ich alles Zuhause erledigt hätte, wiederkommen könnte. Da sagte sie, das geht mit der Bahn alles viel zu langsam. Passen Sie auf, Sie werden fliegen! Heute Abend nach Hamburg und morgen früh zurück, dann sind Sie rechtzeitig zum Casting wieder hier in Zürich.
D.S.: Haben Sie das gemacht?
K.W: Ja, aber es war der Wahnsinn. Ich hab praktisch die halbe Nacht telefoniert und versucht, alles zu klären und zu sortieren, einen Vertreter als ersten Vorsitzenden für die nächsten Wochen im Verein zu finden – Dabei wusste ich noch nicht einmal, ob ich das Casting bestehen würde!
D.S.: Aber Sie haben es bestanden?
K.W: Das war eine Szene! Auf der Bühne, inmitten von vielen Menschen, Beleuchtern, Technikern, Bühnenbildnern und so weiter. Schlingensief hat gesagt: Karin – er war gleich per Du, alle Theaterleute sind immer gleich per Du – Karin, du sollst meinen Sohn spielen.
So. Mehr nicht. Ich hab gesagt: Und wie möchtest du denn deinen Sohn? Lieb, schwul, böse, aggressiv? Sagt er: eher die letzten beiden Eigenschaften. Ich frage, wo ist der Text, und er sagt, den geb ich dir vor, ich rede mit dir und du antwortest einfach. Dann ging das los – alle haben zugehört, ein Duell, ein Gefecht. Und irgendwann hatte ich Christoph so weit, dass ER nicht mehr antworten konnte. Da haben rundum plötzlich alle applaudiert. Ja, und seitdem gehöre ich zum Inventar.
D.S.: Was bedeutet das?
K.W: Das ist eine Gruppe von 15 bis 20 Leuten, die er immer um sich hat. Das wechselt auch mal. Und wir machen alles Mögliche, nicht nur spielen.
D.S.: Zum Beispiel am Animatographen malen?
K.W: Also da bin ich die einzige. Es geht hier auch nur um die Eingangswand, die war leer. Da hat Christoph Schlingensief zu mir gesagt: Karin, kannst du eigentlich malen? Und ich hab gesagt: für den Hausgebrauch reicht es…
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