Alice im Wunderland der Kunst
- Geschrieben von Isabelle Hofmann -
Es war der „Harry Potter“ des 19. Jahrhunderts: „Alice im Wunderland“, Lewis Carrolls surreal versponnenes Märchen, war bereits im Erscheinungsjahr 1865 ein Bestseller.
Welchen Einfluss dieser Klassiker der Weltliteratur auf die bildende Kunst nahm, zeigt nun die Galerie der Gegenwart in einer opulenten Jubiläumsschau: „Alice im Wunderland der Kunst“ umfasst rund 200 Werke von mehr als 60 Künstlern aus 150 Jahren in 19 Räumen, die dokumentieren, wie vielfältig Künstler aller Sparten und Generationen (auch von Film und Bühne) auf Carolls Erzählung reagiert haben. Das schöne dabei: Etliche Exponate verwandeln die Ausstellung selbst in ein Wunderland.
Es ist schon komisch: Jeder kennt dieses Buch, zumindest eine der zahlreichen Filmadaptionen (jüngst in 3D von Tim Burton). Doch die Geschichte lieben? Nein, das tun die wenigsten. Zu unheimlich, ja grausam sind die Fabelwesen, denen Alice „under ground“ begegnet, nachdem sie dem sprechenden weißen Kaninchen in seinen Bau folgt. Genau 150 Jahre ist es her, dass der Mathematik-Dozent und Amateurfotograf Charles Lutwidge Dodgson, der später unter dem Pseudonym Lewis Caroll Weltruhm erlangte, sie zum ersten Mal erzählte. Es war bei einer Bootsfahrt mit Edith, Lorina und der zehnjährigen Alice, den drei Töchtern seines Freundes Henry Liddell. Alice wurde die Titelheldin seiner Geschichte und sie war es auch, die ihn bat, die Erzählung aufzuschreiben. 1865 wurde „Alice in Wonderland“ veröffentlicht. Ein Kinderbuch ist es dennoch nicht. Die Grinsekatze, der verrückte Hutmacher, die Herzkönigin, die liebend gern jemandem den Kopf abhacken lassen will – all diese Gestalten gehören zu einem absurd-bedrohlichen Figurenrepertoire, das in den Tiefen des Unbewussten verankert ist. Es geht um Verwandlung (eines Mädchens zur Frau) und unterschwellige Sexualität, um Parallelwelten, um Bewusstseinserweiterung und Grenzüberschreitungen. Es geht um die Verschiebung von Zeit und Raum, von Maßstäben und Perspektiven. Vor allem geht es um Selbsterkenntnis. „Wer bist du?“, fragt die rauchende Raupe Alice. Eine Frage, mit denen sich Philosophen, Psychoanalytiker und Künstler aller Couleur immer wieder befasst haben. Sicher hätte schon die Auseinandersetzung der Surrealisten mit dem literarischen Werk mehr als genug Stoff geboten, doch in diesem Streifzug durch die Kunstgeschichte, der übrigens schon in England und Italien zu sehen war, ist den Surrealisten nur ein kleines Kapitel gewidmet.
Als atmosphärischer Auftakt des chronologisch konzipierten Rundgangs führen eine ganze Reihe gemalter und fotografierter Mädchenporträts vor Augen, welche Popularität Alice Liddell (1852-1934) und ihre beiden Schwestern Edith und Lorina in britischen Künstlerkreisen Mitte des 19. Jahrhunderts genossen. Insbesondere Alice avancierte nach der Veröffentlichung des Buches zu einem gefragten Modell, das nicht nur Dodgson idealisierte, sondern auch die legendäre Porträtfotografin Julia Margaret Cameron und William Blake Richmond, ein Maler aus dem Umfeld der Präraffaeliten. Zeit ihres Lebens inszenierte sich Alice Liddell als Muse und literarisches Vorbild - da sie den väterlichen Freund dazu brachte, die Erzählung für die Nachwelt zu erhalten (Caroll schrieb später noch die Fortsetzung, „Alice hinter den Spiegeln“) erhielt sie in hohem Alter sogar noch die Ehrendoktorwürde.
Die ersten Illustrationen lieferte der britische Zeichner John Tenniel – und die wiederum förderten enorm die Vermarktung der Geschichte. Ein ganzer Raum ist den Nippes-Artikeln jener Zeit gewidmet, Teekannen, Spielkarten, Dosen, Holzfiguren, die zeigen, wie erfolgreiches Merchandising im 19. Jahrhundert lief.
Unter den bildenden Künstlern waren dann die Surrealisten diejenigen, die sich als erstes intensiv mit der fantastischen Erzählung befassten. Für sie war Alice eine Symbolgestalt des Surrealismus und ihr Schöpfer ein künstlerischer Vorläufer und Seelenverwandter. Salvador Dali, René Magritte, Leonor Fini, Richard Oelze und vor allem Max Ernst waren fasziniert von den Traumgestalten, die sich jeder Rationalität und Logik entzogen. Highlights im Reigen der surrealen Werke ist das verstörende Bild „Alice in 1941“ von Max Ernst aus dem New York Museum for Modern Art, sowie der animierte Kurzfilm „Destino“, den Salvador Dali und Walt Disney 1945 begannen und den Dominique Monféry 2003 vollendete.
Alice war immer präsent, im Theater, im Film, in der Pop-Kunst der 1960er- und 1970er-Jahre. Am spannendsten – vor allem für Kinder – aber sind wohl die zeitgenössischen Kunstwerke dieser Schau. Objekte und Installationen, die staunend und ängstlich machen und den Betrachter selbst wieder in die Rolle des Kindes versetzen. Wie geschrumpft fühlt man sich in den riesigen Sesseln von Pipilotti Rist und unter dem monströsen Hut von Stephan Huber , registriert mit einigem Unbehagen die Unstimmigkeiten bei den lebensgroßen Puppen von Veronika Veith und steht sprachlos vor großartigen interaktiven Projektion von Hanna Haaslahti, die erst dann ihre Dynamik entwickelt, wenn der Zuschauer mitspielt und sich bewegt: Ein süßes kleines barfüßiges Mädchen im weißen Kleidchen läuft ausgelassen im Kreis. Das Umfeld ist vollkommen dunkel. Es dauert, bis man bemerkt, dass dieses Kind nicht allein ist. Eine Gestalt, mehr als ein Schatten ist nicht erkennbar, lauert offenbar in der Mitte. „Alice in Wonderland“, auch hier wird es wieder klar, ist keine harmlos-verrückte Geschichte. Sie blickt in seelische Abgründe.
Bis 30. September 2012,
zu sehen in der Hamburger Kunsthalle, Glockengießerwall, in 20095 Hamburg.
Öffnungszeiten: Di-So 10-18 Uhr.Do 10-21 Uhr
Ein Katalog ist erhältlich.
Bildnachweis:
Header: Detail aus: Annelies Štrba (*1947) Nyima 438, 2009, Archivpigmentdruck auf Leinwand, 110 x 165 cm. Courtesy Annelies Štrba und Frith Street Gallery, London. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012
Galerie:
01. Anonym, Charles L. Dodgson (Lewis Carroll), 1852-1860, Albumen print, 197 x 146 mm. © National Portrait Gallery, London
02. Charles L. Dodgson (Lewis Carroll) (1832-1898), Alice Pleasance Liddell, Summer 1858, Modern print from whole-plate glass negative,
152 x 127 mm. © National Portrait Gallery, London
03. Max Ernst (1891-1976), Alice in 1941, 1941, Oil on paper mounted on canvas, 40 x 32,3 cm, James Thrall Soby Bequest. 2012. Digital image, The Museum of Modern Art, New York/Scala, Florence. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012
04. George Dunlop Leslie (1835-1921), Alice in Wonderland, 1879, Öl auf Leinwand, 81,4 x 111,8 cm. © The Royal Pavilion & Museums, Brighton & Hove
05. Sir Peter Blake (*1932), Illustrations to Through the Looking-Glass, 1970 , ''Well this is grand!' Said Alice Series of screenprints on paper, 242 x 180 mm, Tate Collection. © Peter Blake 2002; VG Bild-Kunst, Bonn 2012
06. Kiki Smith (*1954), Pool of Tears II (after Lewis Carroll), 2000, Intaglio-Technik mit Kolorierungen von Hand, 129,5 cm x 187, 3 cm. © Kiki Smith/Universal Limited Art Editions, Inc.
07. Diana Thater (*1962), The Caucus Race, 1998, 2 LCD-video projectors, 4 video monitors, 6 dvd players, 1 sync-generator, 6 dvds, Dimensions variable. © Courtesy of David Zwirner, New York and Hauser and Wirth. Image supplied © Roger Sinek, Tate Liverpool 2011
08. Pipilotti Rist (*1962), Das Zimmer, 1994 , Audiovisuelle Installation (Installationsansicht, Kunstmuseum St. Gallen) , Friedrich Christian Flick Collection, Hamburger Bahnhof, Berlin . © Courtesy Pipilotti Rist und Hauser & Wirth. Foto: Stefan Rohner
09. Thorsten Brinkmann (*1971), Bertha von Schwarzflug mit Zahmesdunkel, 2010, Chromogener Farbabzug, 170 x 130 cm. Courtesy Galerie Mathias Günther. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012
10. Kunsthallen-Chef Hubertus Gassner unter dem Hut von Stefan Huber. Foto: Isabelle Hofmann
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