Bildende Kunst
Jan Siebert

Der Maler Jan Siebert legt zwei Kataloghefte auf den Tisch und schaut mich erwartungsvoll an: „Die ganz neuen Arbeiten sind hier noch nicht zu sehen, aber einige wichtige Werke aus den letzten Jahren“.
Der Künstler ist zu einem kurzen Besuch in seiner Heimatstadt Hamburg. Hier begann er mit seinem Malereistudium, bevor er 1996 nach Mexiko ging und dort, in der Hauptstadt, an der „Academia de San Carlos“ und an der „Escuela Nacional de Pintura y Escultura“ seinen Abschluss machte. Er blieb einige Jahre als Maler im Land und zog zum Jahreswechsel 2004/2005 nach Brasilien, wo er zunächst in Santos und heute nun in Rio de Janeiro lebt und arbeitet.
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In den Katalogen von Jan Siebert sind Stadtlandschaften und Straßenzüge zu sehen, Portraits, Figurengruppen und Interieurs – alle samt zu nächtlicher Zeit gemalt. Es überwiegen Braun- und Gelbtöne, fahles Licht und lange Schatten. Die Räume wirken merkwürdig entleert, selbst dann, wenn einzelne Figuren oder Figurengruppen zu sehen sind. Die Straßen und Plätze sind sauber, sogar regelrecht rein, befreit von Straßenschildern, Stromleitungen, Werbeflächen und Mülleimern. Die Korridore, Treppenhäuser und Wohnungen sind bilder- und teppichlos. Kein Staubkorn hat sich in die Leinwandmotivik verirrt.

Der Künstler hat Malereistile aus Europa und Nordamerika, aus Mexiko und Südamerika miteinander vereint: Edvard Hopper meets Diego Rivera meets Max Beckmann meets Rodolfo Amoedo meets José Clemente Orozco – und er macht daraus – Jan Siebert.

Claus Friede (CF): Warum bist Du zur Kunstausbildung nach Mexiko und später zur beruflichen Arbeit nach Brasilien gegangen?

Jan Siebert (JS): Ich musste damals, Mitte der 90er-Jahre einfach raus aus Hamburg, weg von den festen Vorstellungen wie ein Kunststudium auszusehen habe. In Mexiko traf ich auf eine andere Malereitradition und auf ein anderes Kulturverständnis, das interessierte mich. Außerdem malte ich schon damals vor Ort auf der Straße und das konnte ich mir in Mexiko schrittweise und besser aneignen. Es bedeutete zunächst für mich eine Überwindung definierte Räume zu betreten und manchmal auch zu übertreten, weil Menschen, die zwar im und am öffentlichen Raum leben häufig glauben, sie seien die Hüter des selben.
Ich bin grundsätzlich sehr neugierig, wollte das bannen, was ich dort sah, damals noch tagsüber. In Mexiko habe ich dann die Nacht entdeckt. Die Räume leben zu unterschiedlichen Zeiten ein unterschiedliches Leben. Orte zu denen man tagsüber nie gehen würde sind nachts die große Attraktion und umgekehrt. Ich bin zu einem alten Bahnhof gegangen. Dort standen alte Güterwagons, die von Laternen beschienen wurden, tolle Motive – still, verlassen, vergessen. Mir wurde immer abgeraten dort hin zu gehen. „Dort ist ja keiner“, hieß es, und „es ist gefährlich“.

CF: Diesen Kick hast du ja bis heute, wenn du in den Favelas von Rio malst. Du gehst an Orte, die nicht ungefährlich sind...

JS: Ja, zunächst war das in Brasilien die verrottete Innenstadt von Santos. Nach Ladenschluss blüht dort in den Bars und auf der Straße ein ganz anderes Leben auf, irgendetwas zwischen Dekadenz und Morbidität. Nachts tragen diese Städte andere Gewänder. Es war eine Herausforderung die nächtlichen, ärmlichen Randbereiche, die häufig auch etwas mit Kriminalität und Überleben zu tun haben für meine Malerei auszusuchen. Man weiß nie wie die Leute aus den Vierteln reagieren. Ich habe mich dort in einem schäbigen Hotel eingemietet, lief ein wenig wie ein Vagabund herum mit meinem lädierten Rucksack voller Ölfarben und kleinen Leinwänden unter dem Arm und setzte mich dann an irgendeiner Stelle zum Malen hin.
Was aber für mich bis heute ganz pragmatisch auch bedeutet, dass ich kaum Licht habe zum arbeiten. Oft stehe ich mit einer Taschenlampe da, um überhaupt etwas zu erkennen.
Die Bilder sehen deshalb so aus, weil ich mich im Dunklen aufhalte und dadurch die Leuchtkraft der Lichtquellen mich zu diesen kontrastreichen Ergebnissen führen. Es hat etwas von einer Theaterinszenierung ohne in der Realität tatsächlich inszeniert zu sein. Vergleichbar ist die Situation mit der von Victor Hugo, der Ende der 19. Jahrhunderts, im Halbdunkel zeichnete.
Zur Zeit arbeite ich in einer der Favelas in Rio, die gerade „befriedet“ wird. Schwer bewaffnete Polizisten und Militär durchkämmen die Gassen und versuchen das Gebiet zu kontrollieren. Wenn ich mich dort zum Malen hinsetze kommen die Bewohner und die Polizisten zu mir und dann ist erst einmal Kommunikation angesagt. Letztlich finden es die meisten gut, bleiben einen Moment, schauen mir zu und lassen mich arbeiten. Mittlerweile laden mich einige sogar ein und sagen, schau Dir doch mal das an, ist das nicht ein Motiv für Dich?

CF: Du malst also am jeweiligen Ort direkt mit Öl auf Leinwand. Arbeitest du dann im Atelier weiter, wenn die Bilder nicht fertig werden?

JS: Alles passiert vor Ort, ich male recht zügig – prima Malerei – beginne nachts und bin meist im Morgenrauen mit dem Bild fertig. Wenn nicht, nehme ich es in der nächsten Nacht wieder mit und male es dann fertig. Ich brauche in der Regel drei bis zehn Tage, um eine kleine Serie fertigzustellen. Skizzen oder Zeichnungen mache ich selten. Wenn ich dann das einzelne Bild ausgeschlafen und bei vollem Tageslicht anschaue, bin ich oft so überrascht, dass ich das gemalt habe, weil ich die Farben erst dann ganz und gar sehen kann. Nur der bestimmte Ort, die Situation und das nächtliche Licht sind die Faktoren solche Bilder malen zu können. Tagsüber und im Atelier wäre das nicht möglich!

CF: Was muss ein Ort, eine Situation haben, diese zu malen?

JS: Es gibt mehrere Gründe und je nachdem an welchen Themen ich gerade arbeite, habe ich meine Kriterien. Zum einen sind es welche, die urbane Räume in ihrer nächtlichen Verlassenheit zeigen. Diese Orte bestehen aus reiner Architektur, mit sichtbaren Zeichen oder Überbleibseln menschlicher Spuren. Es sind Straßen und Brücken, quasi „Unorte“ an die man normalerweise gar nicht gehen würde, wie ich sie in Sao Paulo gemalt habe: Rampen, Plätze und Stadtautobahn-Auf- und Abfahrten. Die liegen nachts unberührt da. Ich entdecke sie wie ein Archäologe. Teilweise gibt es die Orte schon gar nicht mehr, weil sie abgerissen oder komplett verändert wurden.
Und jetzt gehe ich in die größte Favela von Rio, nach Rosinia. Jedem, dem ich das erzähle fragt: "Was kann man denn da malen?" Ich erzähle dann von den Treppen, engen Gassen, dem Gewirr aus Hütten, Häusern, Gängen und den Menschen. Ein unübersehbares Labyrinth mit 200.000 Menschen. Dort existiert eine Parallelwelt und niemand geht dahin, der dort nichts zu suchen hat. Die, die dort leben sind einer Parallelgewalt unterworfen, es gibt Strukturen des Zusammenlebens und Regeln, die allerdings nicht von staatlichen Stellen kontrolliert werden. Die sozialen Probleme werden da natürlich nicht gelöst - so oder so nicht.
Ich gehe dort an unscheinbare, profane Orte, die bei mir eben die visuellen Reize auslösen, die ich in meinen Bildern brauche. Von außen gesehen ist die Favela ein Meer von Hütten und eine riesige Ansammlung von Menschen, von innen erschließt sich eine Welt nach der anderen und nichts sieht so aus wie nach der nächsten Ecke. Man stößt auf sehr unterschiedliche Mikrokosmen, ein schier unerschöpfliches Reservoir an Motiven. Nur die Bars begleiten einen konsequent, die gibt es an jeder Ecke, und man trinkt sich den großen Durst weg. Jeder Ausschnitt steht exemplarisch für etwas. Mich interessiert der Motivort nachts in der Situation des Halblichts, der Schatten, der getrübten Wahrnehmung, der reduzierten, aber kontrastreichen Geometrie.

CF: Wie orientierst du dich im Labyrinth der Favela?

JS: Es bedarf Jahre, um sich einigermaßen in einer Favela auszukennen, man kommt im Prinzip von überall, überall hin. Ich gehe erst einmal die gleichen Wege, um nachts dort hinzukommen wo ich hin will, dann fange ich an etwas von der Route abzuweichen. Und so vergrößere ich das Areal. Allerdings verlaufe ich mich auch schon mal und dann sehe ich zu, dass ich entweder bergauf zur großen Hauptstraße komme, die die Favela durchquert oder bergab laufe, bis ich wieder zum „Asphalt“ komme, wie die Brasilianer sagen. Ich wohne direkt am Schnittpunkt zwischen Asphalt und Favela.

CF: Bist Du dann ausschließlich nachts unterwegs?

JS: Zum malen, ja, ausschließlich! Zum Erkunden tagsüber. Das ist zu gefährlich, wenn ich nachts auf Motivsuche gehen würde. Die Leute würden misstrauisch werden, wenn ich da rumschleiche und etwas suche, was sie nicht nachvollziehen können. Die halten mich wohlmöglich für einen Polizeispitzel.
Das wirkt dann zwar auch nachts für die Anwohner immer bizarr, wenn ich da mit meiner Taschenlampe stehe und male, aber auf die Dauer wissen sie wer ich bin und was ich mache.

CF: In deinen Bildern ist nichts von den Erkundungen und den Gefahren zu sehen, die Bilder wirken entleert, fast kontemplativ und deren Protagonisten wirken abwartend, ruhig und zeitlos.
Wir haben nun über die Orte gesprochen an denen du arbeitest. An welchen Orten möchtest Du gerne diese Bilder ausstellen?

JS: Ich würde die Werke bald sowohl in Brasilien, als auch in Deutschland und den USA zeigen, weil ich glaube, dass die Bilder in die Kulturdenke passen, einen kunsthistorischen Bezug haben und sich ein breites Publikum dafür interessiert.


Jan Siebert wurde 1971 in Hamburg geboren. Von 1993 bis 1996 studierte er an der Fachhochschule für Gestaltung in Hamburg. 1994 und 1995 begann er seine Studienreisen nach Zentral- und Südamerika. 1996 nahm er sein Studium an der "Academia de San Carols" in México-City auf, im Jahr danach wechselete er an die "Escuola Nacional de Pintura, Escultura y Grabado, "La Esmeralda", México-City. Von 1999 bis 2004 arbeitete er als freier Maler im mexikanischen Veracruz. 2005 zog er nach Santos in Brasilien, wo er bis 2006 wohnte und arbeitete. Seit 2006 lebt und arbeitet Jan Siebert in Rio de Janeiro. Er stellte in Deutschland, Mexiko und Brasilien aus, in Hamburg zuletzt in der Galerie des Levantehauses.


Fotonachweis:
Alle © Jan Siebert
Header: Detail aus Laje, 2011, Öl auf Leinwand
Galerie:
01. San Perfecto, Mexiko, 1997, Öl auf Leinwand, 60x80 cm
02. Nachtflur, 1998, Öl auf Leinwand, 70x60 cm
03. Unwetter, 2001, Öl auf Leinwand, 90x120 cm
04. El Vagón, Mexiko, 2002, Öl auf Leinwand, 80x150 cm
05. Sergio, 2003, Öl auf Leinwand, 50x100cm
06. Casarao, Brasilien, 2005, Öl auf Leinwand, 100x120 cm
07. El Cuarto, 2005, Öl auf Leinwand, 97x140cm
08. Estrela de Santos, 2005, Öl auf Leinwand, 100x95 cm
09. Hotel Bolivar, 2005, Öl auf Leinwand, 65x120 cm
10. Mudanca de Turno, 2005, Öl auf Leinwand, 100x100 cm
11. Programa, 2005, Öl auf Leinwand, 95x100cm
12. Prédio dos Correios, Sao Paulo, 2008, Öl auf Leinwand, 80x120 cm
13. Minhocao Descida, 2008, Öl auf Leinwand, 84x140 cm
14. Rampa, 2008, Öl auf Leinwand, 95x100 cm
15. Paseo, 2009, Öl auf Leinwand, 98x254 cm
16. Vorahnung, 2009, Öl auf Leinwand, 100x140 cm
17. Corredor, 2010, Öl auf Leinwand, 100x66 cm
18. Praia, 2011, Öl auf Leinwand, 95x180 cm
19. Morro dois Irmaos 2, 2011, Öl auf Leinwand, 43x43 cm
20. Laje, 2011, Öl auf Leinwand, 120x140 cm
21. A Torcida, 2012, Öl auf Leinwand, 50x57 cm
22. Portrait Jan Siebert

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