Alles bei diesem Maler sei so „ohne Form und voller Leerstellen“, dass es an das „erste Chaos der Welt(entstehung)“ erinnern würde, schrieb der britische Essayist William Hazlitt 1816 hämisch.
Es gäbe sogar Leute, die William Turners Bilder „Pictures of nothing“ nennen würden. Ganz offenkundig hatte der gute Mann nicht begriffen, welch profundes Naturverständnis Turners revolutionärer, weit vorgreifender Landschaftsmalerei zu Grunde lag. In der Ausstellung „William Turner. Maler der Elemente“ führt das Bucerius Kunst Forum ab dem 2. Juni eben dieses Verständnis vor Augen: Knapp hundert Aquarelle und Gemälde, überwiegend Leihgaben aus der Londoner Tate Gallery, dokumentieren in Hamburg, wie eng der künstlerischer Aufbruch des visionären Engländers mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen jener Zeit verbunden war. Zugleich spiegelt die Schau aber auch die religiöse Sichtweise des Malers, der Gott als Einheit mit Kosmos und Naturbegriff.
Wo hören Erde und Feuer auf? Wo fangen Luft und Wasser an? In William Turners „Abend der Sintflut“ (1843) scheinen die vier Elemente brodelnd miteinander zu verschmelzen. Das vor Dynamik vibrierende Gemälde erfasst exemplarisch die Wechselwirkungen der elementaren Kräfte, wie sie die Wissenschaft damals beobachtete. Bereits 1811 hatte Huphrey Davy erklärt, dass „die Formen und Erscheinungen der Wesen und Substanzen der äußeren Welt fast unendlich mannigfaltig“ seien und sich „in einem Zustande ununterbrochener Veränderungen“ befänden. Die exakten Naturwissenschaften, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer stärker differenzierten, lösten die antike Lehre von den vier Elementen als schöpferische Prinzipien ab; gleichzeitig lud die Romantik die Landschaft mit neuen Bedeutungen auf. Beides trug dazu bei, die Landschaftsmalerei von ihrer überkommenen Rolle als Vedute oder Beiwerk einer Figurenszene zu befreien und sie als eigenständige Gattung zu etablieren. Überall in Europa interessierten sich Künstler mit einem Mal für die Rohstoffe der Natur und studierten Gesteins,- Wasser- und Wolkenformationen. Auch William Turner hielt mit ungeheurem Fleiß Naturphänomene fest, 20 000 Zeichnungen und Gemälde vermachte er nach seinem Tod der Londoner National Gallery. Doch anders als viele Kollegen, bezog er zudem das Feuer in seine Landschaftskonzeption ein. Vor allem aber konzentrierte er sich auf die Beziehung der vier Elemente untereinander. Wie Davy, den er kannte und sicher auch schätzte, verstand William Turner Feuer, Wasser, Erde und Luft als Teil eines energetischen Prinzips, in dem alles mit allem in Verbindung steht und sich permanent in etwas Neues verwandelt. Die in fünf Themenbereiche gegliederte Schau veranschaulicht nun, wie diese Weltsicht zum Verzicht auf Gegenständlichkeit und zur Auflösung der Form führte – zu einer unerhört kühnen Abstraktion, die damals noch gar keinen Namen hatte.
Fotonachweis: Alle William Turner © Tate, London 2011
Header: Detail aus: Burning of the Houses of Parliament, Farbstudie aus dem Skizzenbuch Burning of the Houses of Parliament (Finberg CCLXXXIII), 1834. The Tate Gallery, London, Digital Image
1. The New Moon; or, “I’ve lost My Boat, You shan’t have Your Hoop”, vor 1840. The Tate Gallery, London, Digital Image
2. Fishing Boats Bringing a Disabled Ship into Port Ruysdael, o.J. The Tate Gallery, London, Digital Image
3. Whalers, o.J. The Tate Gallery, London, Digital Image
4. Paestum in a Thunderstorm aus Aquarellfolge Liber Studiorum (Little Liber), um 1825. The Tate Gallery, London, Digital Image
5. Wolkenstudie, nach 1830. The Tate Gallery, London, Digital Image
6. Fiery Sunset off the Coast, um 1841/45. The Tate Gallery, London, Digital Image
7. Cliffs from the Sea, um 1825. The Tate Gallery, London, Digital Image
Ergänzend: KulturPort-Beitrag zu „Mr. Turner – Meister des Lichts”. Ein knurrendes Genie
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