Bildende Kunst

Ölskizzen oder Ölstudien gibt es noch nicht lange – sie wurden erfunden, als sich die Künstler der Freilichtmalerei in der Landschaft zuwandten und den Reiz des Spontanen und Flüchtigen entdeckten. Während die Skizzen damals meist nur einen praktischen Nutzen besaßen, entdecken wir heute zunehmend ihren Eigenwert.

 

Schnell trocknende Ölskizzen, angefertigt vor Ort, waren zunächst nicht mehr als Notizen, die den Malern halfen, die Lichtverhältnisse mit ihren wandernden Schatten und Lichtpunkten, die Tiefenstaffelung der Landschaft oder die ziehenden Wolken mit schnellem Pinsel zu erfassen, um auf diese Weise die großen Atelierbilder vorzubereiten.

 

Ein wenig besaßen die Ölskizzen deshalb die Nützlichkeit von Fotos, deren Wert im 19. Jahrhundert zunehmend auch von Romanciers entdeckt wurde – nur ein Beispiel von vielen ist Emile Zola, der für seine akribisch recherchierten Romane gerne auf Fotos zurückgriff. Ölskizzen wie Fotos lenkten den Blick nicht allein auf den Moment, sondern auch auf die Details, so dass mit der Ölskizze auch eine Abkehr von schematisierender Malerei und eine Hinwendung zu größerer Naturtreue einherging. In dieser Ausstellung wird das unter anderem an den oft liebevollen, auf jeden Fall sachkundigen und detailfreudigen Porträts von Bäumen deutlich.

 

Vor einigen Jahren gab es im Berliner Kupferstichkabinett eine Ausstellung über „Kunst um Humboldt“ – der große Naturforscher hatte drei Maler nach Süd- und Mittelamerika geschickt, weil es ihm um Illustrationen für seinen großen Reisebericht ging. Zunächst zeichneten sie und fertigten danach Kupferstiche an, später war es von diesen Dreien besonders Johann Moritz Rugendas (1802–1858), der mit Ölskizzen arbeitete, also nicht nur zeichnete. Farbe war und ist wichtig, denn bereits an den verschiedenen Grüntönen lässt sich der Unterschied zwischen lateinamerikanischen und europäischen Pflanzen erkennen.

 

Aira Eine Episode im Lweben des Reisemalers COVER2016 erschien ein kleiner Roman des argentinischen Erfolgsautors César Aira, der „Eine Episode im Leben des Reisemalers“ Rugendas schildert. Aira stellt Rugendas nicht nur als einen großen Maler dar, sondern darüber hinaus als den Erfinder der Ölskizze. „In jenen Jahren hatte Rugendas ein innovatives Verfahren entwickelt, die Ölskizze. Das bedeutete eine Neuerung, welche die Kunstgeschichte als solche verzeichnet hat.“ Nun, das hat sie nicht. Werner Busch hat in seinem maßgeblichen Aufsatz „Die autonome Ölskizze in der Landschaftsmalerei“ ganz andere Künstler angesprochen, ältere und auch wohl berühmtere, und Rugendas hat er mit keinem Wort erwähnt. Dass der „junge deutsche Maler keine anderen Vorgänger als ein paar englische Exzentriker mit Turner als Vorbild“ hatte, ist deshalb definitiv falsch.

 

Jetzt also die Lübecker Ausstellung. Die 140 Exponate, die in den nächsten Monaten in der Kunsthalle präsentiert werden, wurden schon zuvor (vom 8. Februar bis zum 7. Mai) im Düsseldorfer Kunstpalast erfolgreich ausgestellt – dieselben Kunstwerke in derselben Gliederung, jetzt aber auf etwas mehr Raum. Das Lübecker Behnhaus, in das sie thematisch eigentlich gehört hätten, wird in diesen Tagen umgebaut und renoviert, und so finden sich die Bilder in den drei Etagen der Kunsthalle, die dem mittelalterlichen St. Annen-Museum angegliedert ist.

 

Die Bilder werden in sieben Kapiteln vorgestellt. Im Erdgeschoss der Kunsthalle sind unter der Überschrift „Das Flüchtige: Die Magie des Augenblicks“ Wind-, Wolken- und Wellenstudien zu entdecken: ein grandioser Einstieg in eine sehr schöne und sehr vielseitige und anregende Ausstellung. Heinrich Reinhold (1788–1825) malte spektakulär brechende Wellen am Golf von Neapel, von dem Schweizer Johann Jakob Frey (1813–1865) finden sich phantastische Wolkenstudien, und der Lübecker begegnet einem ihm nur zu bekannten blassblauen Himmel in den extremen Querformaten von Johann Wilhelm Cordes (1824–1869); wenn ich richtig gezählt habe, sind es gleich neun Wolkenstudien dieses zu Unrecht außerhalb seiner Heimat kaum bekannten Malers, den Alexander Bastek in seinem Katalogaufsatz „Die Erweiterung des Blicks“ neben anderen Künstlern vorstellt.

 

Mehr Licht 01 Heinrich Reinhold Welle an der Küste Sorrentos 1823 F Philipp Mansmann

Heinrich Reinhold: Welle an der Küste Sorrentos, 1823. Foto: © Philipp Mansmann

 

Es finden sich Werke vieler bedeutender Künstler in dieser Ausstellung, aber einer fehlt: John Constable (1776–1837). Er war unter den großen Meistern wohl der erste, der systematisch Wolkenstudien betrieb, nicht zuletzt, um seine, wie Werner Busch schreibt, „beim Malen empfundene Emotion zu konservieren. Auch sie war, wie die landschaftliche Atmosphäre, beständigem Wandel unterworfen.“ Neben dem Wunsch, seine Gefühle zu konservieren, war ein anderes Motiv eher handwerklicher Natur und dürfte auf die Mehrzahl der anderen Maler ebenfalls zutreffen: Constables Wolkenstudien sollten, schreibt Busch, ihm „ein immer und überall abrufbares Himmelsvokabular“ liefern.

 

Ließe sich dies nicht auch über den zweifellos viel weniger bedeutenden, aber doch immerhin so talentierten wie ernsthaften Cordes sagen? Seine intensiven Wolkenstudien fanden wie auch diejenigen Johann Jakob Freys (1813–1865) nur wenig später statt und wahrscheinlich ohne jedes Wissen um die Studien des damals noch wenig bekannten John Constable. Offenbar lag es in der Zeit, war also nicht etwa nur das rein subjektive Interesse zweier Maler, sich der Natur und ihrem beständigen Wandel zuzuwenden. Wie auch immer: Alle in Lübeck gezeigten Bilder sind sehr weit davon entfernt, eine zeitlose Szenerie zu entwerfen.

 

Das Kapitel über die „Heimaterkundung in Öl“ präsentiert vor allem Bilder des in Jülich geborenen, zur Düsseldorfer Schule gehörenden und dort auch lehrenden Johann Wilhelm Schirmer (1807–1863). Seine Skizzen, deren Bedeutung für den Unterricht Anna-Christina Schütz in ihrem Katalogbeitrag beleuchtet, zeigen insbesondere Wasserpflanzen an und in dunklen Tümpeln; so hell der erste Raum ist, so dunkel dieser zweite, in dem sich auch eine Anzahl von Bäumen findet – an ihnen wie an den Wolken lässt sich beobachten, wie sehr die Zuwendung zu den Details die Naturtreue und damit auch die Lebendigkeit der Bilder erhöht.

 

Einen künstlerischen Höhepunkt stellen die Bilder von Carl Blechen dar (die wunderbare „Landstraße im Winter bei Mondschein“ ist allein einen Besuch wert!), aber hier habe ich mich gefragt, ob es sich wirklich um eine vor Ort entstandene Skizze handeln kann. Hat Blechen in einer frostklaren Nacht seine Staffelei an einer einsamen Stelle aufgebaut? Wer kann unter diesen Umständen malen, und dann auch noch so meisterhaft? Und richtig, ganz beiläufig erwähnt Bastek in seinem Aufsatz, dass es sich um ein Atelierbild handelt, dem allerdings eine unter ganz anderen Umständen aufgenommene Ölskizze zugrunde liegt.

 

Es überrascht nicht, dass Caspar David Friedrich die Ölskizze abgelehnt hat. Dieser Meister hat zwar sehr gern in der freien Natur gearbeitet, aber für ihn zählte der durchdachte Entwurf seines Bildes zu dessen künstlerischem Wert. Spontan war bei ihm gar nichts, und dazu verträgt sich eine aufgeladene Symbolik schlecht mit der Aufnahme oder Wiedergabe einer vorübergehenden Stimmung, die andere Künstler festzuhalten versuchten. Die Dämmerungsbilder, denen wir in dieser Ausstellung begegnen, sind eben ganz anders zu bewerten als die Sonnenauf- oder -untergänge Friedrichs: den spektakulären „Polarlichteffekten“ Salvatore Fergolas (1799–1874) kommt keinerlei symbolische Bedeutung zu. Das Bild ist auf den 17. Oktober 1848 datiert und versteht sich als die wahrhaftige Wiedergabe eines Farbenspiels an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Stunde. Ist das nicht die Vorwegnahme der Einstellung, die auch den Amateurfotografen von heute kennzeichnet? Auch dieser „nimmt“ ein Foto („takes a picture“), das auf diese Weise einen Moment dokumentiert – einen Moment, der schnell vergangen ist.

 

Mehr Licht 02 Salvatore Fergola Polarlichteffekte Foto Harald Czujek 1024x683Salvatore Fergolas, Polarlichteffekte, 1848. Foto: Harald Czujek

 

Besonders merkwürdig sind die Fensterbilder in dieser Ausstellung – es sind ganz andere als jene von Caspar David Friedrich, die uns unwillkürlich vor Augen stehen. Zwar zeigt ein Bild von Traugott Faber (1786–1863) tatsächlich Dresden, aber hier wie bei anderen Bildern fehlt jede Symbolik – es sind eher Momentaufnahmen. Kaum ein Bild kann uns nachdenklicher machen als das paradoxe Fensterbild des Friedrich eng verbundenen Carl Gustav Carus (1789–1869), denn wir schauen nicht etwa durch das Fenster auf eine Landschaft, sondern innerhalb des Ateliers auf geschlossene Fensterläden. Es gibt nichts zu sehen.

 

Es finden sich in dieser Ausstellung etliche Arbeiten, in denen sich die Ästhetik der Farbfotografie vorweggenommen sieht. Zu solchen Fotos gehört meist ein tiefblauer Himmel – das ist ein Detail, dem wir auf Ateliergemälden kaum jemals begegnen, auf das aber (Amateur-)Fotografen peinlich genau achten. Ähnliches gilt für scharfe Schatten. Bei schlechtem Wetter mit diffusem Licht wird nur ungern fotografiert. Maler denken da ganz anders, und so ist ein besonders schönes Kapitel von Katalog und Ausstellung mit „Schlechtes Wetter: Der Zauber der Farbe Grau“ überschrieben. Denn für Maler ist schlechtes Wetter etwas ganz Wunderbares.

 

In dieser Ausstellung zeigt ein Bild Jean Charles Geslins (1814–1885) aus Paestum die Farbfotoästhetik mit scharfen Schlagschatten, ebenso ein Fast-Foto von Frederic Leighton (1830–1896; eigentlich ein akademischer, zu seiner Zeit enorm populärer Maler) von der Insel Capri: das sind Bilder, wie sie sich seit dem Beginn der Farbfotografie zuhauf in Fotoalben oder in Reisemagazinen finden. Aber in Museen waren sie schon immer selten. Auch das schöne Bild des einstmals sehr bekannten Oswald Achenbach (1827–1905), das Zypressen in einem südlichen Park zeigt, gehört dazu.

 

Eine großartige, sehr abwechslungsreiche, sowohl unter ästhetischen als auch unter kulturgeschichtlichen Aspekten uneingeschränkt empfehlenswerte Ausstellung.


Mehr Licht. Die Befreiung der Natur

Zu sehen bis Sonntag, den 8. Oktober 2023. Das Museum Behnhaus Drägerhaus zu Gast im St. Annen-Museum, St. Annen-Straße 15, 23552 Lübeck

Öffnungszeiten: 10-17 Uhr

Weitere Informationen 

 

Katalog: Mehr Licht. Die Befreiung der Natur. Die Kunst der Ölstudien im 19. Jahrhundert.

Herausgegeben von Florian Illies.

Sandstein / Kunstpalast Düsseldorf 2023

ISBN: 978-3954987252

 

César Aira: Eine Episode im Leben des Reisemalers.

Übersetzung: Christian Hansen, Roman, 128 Seiten

Matthes & Seitz

ISBN: 978-3957571403

Weitere Informationen (Verlag)

Leseprobe

 

 

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