Die Hamburger Kunsthalle bringt mit Vija Celmins und Gerhard Richter zwei der international renommiertesten Vertreter ihrer Generation in einer große Doppelausstellung in einem transatlantischen Dialog erstmalig zusammen.
Sowohl in den USA, wo die Künstlerin Vija Celmins (*1938 Riga) seit 1949 lebt als auch in ihrem Geburtsland Lettland ist sie sehr bekannt. Nach der Eröffnung der Ausstellung in Hamburg erhielt sie in Riga Mitte Mai den Drei-Sterne Orden aus der Hand des lettischen Staatspräsidenten Egils Levits für ihre Verdienste um die Kultur.
In Deutschland ist ihr Bekanntheitsgrad deutlich ausbaufähig. Zwar wird immer wieder betont, wie namhaft sie sei, doch den wenigsten Besuchern war sie vor dieser Ausstellung in der Kunsthalle wirklich ein Begriff. Und das ungeachtet der wichtigen Teilnahmen und Ausstellungen, die Celmins in Deutschland hatte. Erinnert sei an die documenta 14 (2017) und die von Julia Friedrich kuratierte – ähnlich quantitativ umfassende Ausstellung Wüste, Meer und Sterne (2011) im Museum Ludwig in Köln.
Brigitte Kölle, die die Hamburger Schau federführend kuratierte, fielen die sichtbaren, inhaltlich-künstlerischen Parallelen zwischen ihrem Werk und dem von Gerhard Richter (*1932 Dresden) auf.
Zurecht verweist die Kuratorin darauf, dass „mit einer starken, weiblichen Position als Dialogpartnerin sich gleichzeitig die Möglichkeit öffnet, das oft als singulär vorgestellte Werk Gerhard Richters, mit einem frischen Blick neu zu entdecken. Es wird ein vergleichendes Sehen möglich.“
Daraus resultiert auch die Erkenntnis, dass immer wieder und auch heute noch Überraschungen aus dem analogen 20. Jahrhundert zu finden sind – trotz professioneller Kommunikationsmittel, Kunstkatalogen und Reisemöglichkeiten –, wenn Künstler an völlig unterschiedlichen Orten der westlichen Welt und ohne direkten Kontakt miteinander an ähnlichen künstlerischen Themen und Ausdrucksformen arbeiten und eben die besagten Parallelen aufweisen.
Beide Künstler benutzen fotografische Vorlagen, beide sind in ihrer zurückhaltenden Farbigkeit ähnlich, beide arbeiten in ihren Bildern und Objekten mit dekodierbaren Sujets, beide nutzen Spiegelungen und Verdopplungen und haben schließlich ein besonderes Verhältnis zu Realität und Wirklichkeit und damit auch zur Täuschung.
Besonders die letztgenannte Übereinstimmung ist künstlerisch besonders auffallend und folgenschwer, denn zwischen dem eher passiven Sein der Realität entwickelt sich sowohl bei Celmins als auch bei Richter ein aktiver Wirklichkeitsraum, dessen Fokus auf der von Meister Eckhart (um 1260-1329) formulierten Wortschöpfung „alles was wirkt“ liegt. Der spätmittelalterliche Philosoph, der 1310 in Hamburg das Provinzkapitel der Dominikaner eröffnete, suchte für eine Übersetzung einen deutschen Begriff für die lateinische Kombination aus realitas und actualitas und kam auf Wirklichkeit.
Keines der Werke verfehlt seine Wirkung, denn sie sind in der Präsentation der Galerie der Gegenwart durchweg kontextualisiert und dialogisiert – und zudem mit ihrer Entstehungszeit, in ihrem differenzierten Gegenüber und Miteinander, in ihrer Freiheit, Feinheit und repräsentativen Bedeutung verbunden. Der Fläche zu entkommen, um den Bildern Körperlichkeit zu geben, gelingt beiden Künstlern bis ins Detail. Zwar benutzen Celmins wie Richter die Fotografie als Vorlage, jedoch geht es um eine Distanzierung von ihr, um eine Art Stilllegung des Vorherigen und daraus resultierend, zur eigenen Reflexion.
Die Farbigkeit im Grau zu entdecken, gehört ebenso zu der Wirkkraft der Werke wie festzustellen, dass die Welt auch im Grau zuhause ist.
Zwar gibt es hier und da eine historische Rückbindung auf das Bild, bevor die Farbfotografie erfunden wurde, jedoch überwiegt der Eindruck, dass einem Großteil der Ausstellungsstücke eine Zeitlosigkeit innewohnt, was den bereits erwähnten freiheitlichen Charakter ausmacht.
Der Kanon der sichtbaren Bezugspunkte oszilliert zwischen Bild vom Bild, Bild von Fotografie, Imitat vom Objekt, Verdopplung des scheinbar Einzigartigen, Entortung von Orten, der Flüchtigkeit eines Moments, der zum Dauerbrenner wird sowie einer Sprödigkeit, die sich selbst gar nicht so bezeichnen würde.
Die Verdopplung des Unikats bei Celmins, ob Fundstücke wie Steine oder eine Kinderwandtafel, in die Materialität von bemalter Bronze, ist derartig verblüffend präzise, dass die optische Täuschung nahezu ununterscheidbar vom Ausgangspunkt wird. Größe, Material und Erscheinung stehen dem (nicht sichtbaren) Gewicht gegenüber. Das gilt ebenso im umgekehrter Weise für großdimensionierte Schreibutensilien, Bleistift und Radiergummi, die aus Balsaholz gemacht, so leicht sind, dass sie den Gewichten der Originalobjekte entsprechen könnten. All das kann gesehen, empfunden und mitgedacht werden.
Vija Celmins: Two Stones, 1977/2014-16, Ein gefundenes Objekt und ein gemachtes Objekt: Alkydöl auf Bronze, mit Künstlerpodest Werk: 5,7x20,3x14cm. Courtesy the artist and Matthew Marks Gallery, New York © Vija Celmins. Foto: Ron Amstutz
Die Frage danach, was Werk denn sei, nimmt den entsprechenden Raum ein: das Fundstück, die Imitation, beides zusammen oder gar die Erkenntnis eines Nicht-Werks? Darin stecken künstlerische Position und Bezugspunkte von Vorgängern wie Kasimir Malewitsch, Marcel Duchamp oder Zeitgenossen wie Franz Erhard Walther und Eva Hesse.
Vergleichbar mit Werken aus der Neuen Musik, bei denen es ein neues Zuhören braucht, verlangt diese Schau vom Betrachter ein neues Sehen, Vergleichen und Erkennen. Und das stellt sich in der Ausstellung bereits nach kurzer Zeit ein.
Vija Celmins | Gerhard Richter: Double Vision
Zu sehen bis zum 27. August 2023 in der Hamburger Kunsthalle, 2. OG, Galerie der Gegenwart, Glockengießerwall 5, 20095 Hamburg
Geöffnet: Di-So 10-18 Uhr, Do 10-21 Uhr, Mo geschlossen
Zur Ausstellung erscheint die Publikation Vija Celmins | Gerhard Richter. Double Vision, hrsg. von Brigitte Kölle für die Hamburger Kunsthalle.
Mit Texten von Juliane Au, Hubertus Butin, Vija Celmins, Johanna Hornauer, Brigitte Kölle, Gerhard Richter Archiv u.a. Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König, Köln, 2023, 256 Seiten, deutsch/englisch.
Weitere Informationen (Kunsthalle)
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