Mit den Worten „…solch ein stiller scheuer Mensch, ich möchte gut zu ihm sein“ beschrieb die Kunsthistorikerin Rosa Schapire ihre spontane Empfindung, als sie am 22. März 1908 zum ersten Mal den Künstler Karl Schmidt-Rottluff sah.
Er stand unangemeldet vor ihrer Tür. Eine Begegnung, die in eine lebenslange Freundschaft mündete und für beide von großer Bedeutung war – für Schapire von existentieller, wie Susanne Wittek in ihrem neuen Buch aufzeigt. Sein programmatischer Titel lautet: „Es gibt keinen direkteren Weg zu mir als über Deine Kunst`. Rosa Schapire im Spiegel ihrer Briefe an Karl Schmidt-Rottluff“ und ist im Wallstein Verlag erschienen.
Rund 520 Briefe der jahrzehntelangen Korrespondenz zwischen Schapire und Schmidt-Rottluff liegen im Berliner Brücke-Museum. Sie stammen bis auf vereinzelte Ausnahmen aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, denn den Briefwechsel davor hat Schapire 1939 verbrannt, kurz bevor sie aus Hamburg ins Exil nach London floh. Susanne Wittek, Übersetzerin und Autorin verschiedener Bücher über Exilanten der NS-Zeit, hat mithilfe der 175 erhalten gebliebenen Briefen, die die Kunsthistorikerin an ihren Freund in Deutschland schrieb, eine kompakte Biografie Rosa Schapires erarbeitet. Wittek vermittelt ein vielschichtiges Bild dieser ungewöhnlichen Frau, beschreibt anschaulich und einfühlsam ihren Werdegang und die Härten der Exilzeit, bewahrt dabei aber immer eine respektvolle, wissenschaftliche Distanz.
Der Hamburger Richter und Kunstmäzen Gustav Schiefler hatte 1908 dem 24-jährigen Schmidt-Rottluff geraten, Kontakt zu dem zehn Jahre älteren „Fräulein Doktor“ aufzunehmen. Der Maler und Grafiker war als Mitglied der Dresdner Künstlergruppe „Die Brücke“ ein Expressionist der ersten Stunde. Zusammen mit Fritz Bleyl, Erich Heckel und Ernst Ludwig Kirchner hatte er die umstrittene Künstlervereinigung 1905 gegründet. Rosa Schapire verdiente ihren Lebensunterhalt als freiberufliche Übersetzerin und Kunsthistorikerin. Sie war eine der ersten promovierten Frauen in dem Fach und als alleinstehende unabhängige Frau eine Ausnahmeerscheinung in der Wilhelminischen Zeit.
Bereits kurz vor dem ersten Treffen mit Schmidt-Rottluff hatte sie Bilder von Emil Nolde gesehen und war sofort für die moderne Kunst entbrannt. Sie wurde eine unermüdliche Verfechterin des Expressionismus, schrieb dazu unzählige Artikel und Aufsätze, hielt Vorträge und warb bei allen gesellschaftlichen Anlässen um die Gunst von Sammlern und Kunstmäzenen. Als erste publizierte sie 1923 das bis dahin gesamte graphischen Werk Schmidt-Rottluffs. Sie hielt ihn für den größten der Brücke-Künstler und machte ihn dann später 1953 mit einer Einzelausstellung auch in England bekannt. Bis zu ihrem Tod stritt sie für den Expressionismus, die neue Sachlichkeit befand sie als zu bürgerlich, die neue abstrakte Malerei erschien ihr „mit ihren Linien und Punkten wie ein törichtes Kinderspiel“. Allerdings schätzte sie sehr die Arbeiten von Henry Moore. Schmitt-Rottluffs Kunst erlebte sie von Anfang an als Offenbarung: „Alle Dinge bekommen einen neuen Sinn, ihren eigentlichen, Schleier zerreißen und man sieht hinter sie.“
Rosa Schapire trat 1908 sofort als passives Mitglied in „Die Brücke“ ein, besuchte die Künstler in ihren Ateliers, vermittelte ihre Werke an Galerien und Museen. Die so Protegierten porträtierten sie und schickten ihr Postkarten mit Skizzen und Illustrationen. So entstand eine ständig wachsende Kunst-Sammlung, deren Anfang Schmidt-Rottluffs Lithografie „Die Pappel“ von 1907 war, die er ihr zur Erinnerung an ihre erste gemeinsame Teestunde schenkte. Doch nicht alle schätzten ihr Engagement, insbesondere Ernst Ludwig Kirchner verbat sich ihre Unterstützung, weil sie ihm zu umtriebig erschien.
Rosa Schapire pflegte ihre Freundschaften und gesellschaftlichen Beziehungen. Sie war kontaktfreudig, mehrsprachig und sprachgewandt, kleidete sich farbenfroh und wirkte auf manchen steifen Hamburger vielleicht ein wenig zu extrovertiert. Sie rief mehre Kunst-Zeitschriften ins Leben, beteiligte sich an der Gründung verschiedener Frauenvereinigungen, u.a. den Frauenbund zur Förderung deutscher bildender Kunst und den deutschen Zonta Club. Selbstverständlich war sie auch Mitglied der Hamburger Sezession, in der sich die Hamburger Avantgarde versammelte.
Susanne Wittek beschreibt in der ersten Hälfte des Buches die Entwicklung dieser emanzipierten Frau zu einer prägenden Figur des kulturellen Lebens bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung 1933, als die antisemitische Verfolgung begann. Schon in diesem Teil zeichnet sie ein mehrschichtiges Bild, in dem die Zitate von Zeitgenossen deutlich machen, wie unterschiedlich Rosa Schapire wahrgenommen wurde. Sie war offensichtlich eine starke Persönlichkeit, die man nicht übersehen konnte, vor allem eine leidenschaftliche Intellektuelle, die ihr Leben ganz der Kunst verschrieb. Unter diesem Blickwinkel ist auch ihre Beziehung zu Schmidt-Rottluff zu sehen.
Geboren am 9. September 1874 in Brody, einer Grenzstadt zwischen Österreich und Russland im damaligen Habsburger Reich, wuchs die vierte von fünf Töchtern in einem gebildeten aufgeklärten jüdischen Elternhaus auf. Sie sprach deutsch, französisch, polnisch und vermutlich auch russisch. Als sie 19 Jahre war, siedelte die Familie nach Hamburg über. Hier arbeitete sie zunächst als Kontoristin und beteiligte sich zusammen mit ihrer Schwester Anna an der sozialistischen Frauenbewegung, weshalb beide zeitweise von der politischen Polizei beobachtet wurden. 1901 ging sie zum Kunstgeschichtsstudium nach Bern, wo sie 1904 promovierte. Noch im selben Jahr ging die 30-jährige zurück nach Hamburg. Erst 1914 nahm sie die deutsche Staatbürgerschaft an.
Im zweiten Teil des Buches erlaubt die Autorin tiefere Einblicke in das Innenleben ihrer Protagonistin, da sie sich hier überwiegend auf das Quellenmaterial der vielen Briefe stützt, die Schapire zwischen 1950 und 1954 an Schmidt-Rottluff schrieb. Während der sechs Kriegsjahre war der Kontakt zwischen ihnen völlig abgebrochen. Schapire war erst im letzten Moment, nach einem verzweifelten Hilferuf an den Kunsthistoriker Fritz Saxl in London, im August 1939 mit 10 Reichsmark in der Tasche nach England entkommen. Saxl hatte bereits 1933 zusammen mit der Philosophin Gertrud Bing die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Aby Warburgs aus Hamburg nach London gerettet, wo sie das Warburg Institut gründeten. Das wurde nun im Krieg zu einer Anlaufstelle für viele Exilanten - auch für Rosa Schapire, die hier zunächst Arbeit fand. Sie war bereits 65 Jahre alt, mittellos und musste sich in eine neue Sprache einfinden.
Die letzten 15 Jahre ihres Lebens im Londoner Exil beweisen noch einmal ihre ungeheure geistige Stärke. Unter widrigsten Umständen gelang es ihr, sich wieder eine Existenz und einen Namen als Übersetzerin und Publizistin von Kunst- und Architekturthemen aufzubauen. Sie überlebte die deutschen Luftangriffe – einmal wurde sie ausgebombt - und wohnte in prekären Untermietverhältnissen. Ständig musste sie umziehen, in ihren letzten vier Lebensjahren vier Mal. Die intellektuelle Arbeit gab ihr Halt, doch der Existenzkampf zermürbte sie.
Umso mehr war sie auf die Briefe von Schmidt-Rottluff angewiesen, die oft auf sich warten ließen. Schmidt-Rottluff äußerte sich nur sparsam zu seinen Gefühlen. Erst spät schrieb er ihr, wie prägend sie für ihn war, und dass nur sie seine Arbeit zu deuten und zu vermitteln verstand: „Dass ich dieses Glück an dir erleben konnte, hat mich bestimmt mit geformt, u. man muss sich sicher glücklich preisen, dass man das einmal erleben durfte – man kann auf ein 2tes Mal nicht mehr hoffen.“ Dieses Geständnis rührte sie tief.
Gesehen haben sich die beiden nach 1939 nicht mehr. Schmidt-Rottluff hatte zwar in der Nazi-Zeit Malverbot, aber Deutschland nie verlassen. Rosa Schapire freute sich über Besuch aus ihrem früheren Leben, doch nach dem Holocaust schien es ihr unmöglich, selbst jemals wieder nach Deutschland zu reisen. Noch vor 1946 wurde sie britische Staatsbürgerin. 1952 erhielt sie vom Süddeutschen Rundfunk eine Ehrengabe von 600 DM aus dem Künstlerfond, den der SDR als Geste der Wiedergutmachung aufgelegt hatte.
In England galt Rosa Schapire als Mittlerin der deutschen Kunst - nicht zuletzt durch die Einzelausstellung mit früheren und aktuellen Werken von Karl Schmidt-Rottluff, die sie 1953 in einer Galerie in Leicester für ihn organisierte, ein Erfolg, der sie sehr befriedigte: „Was hätte das Leben auch sonst für einen Sinn für mich?“ Sie litt da schon einige Zeit unter Herz- und Augenproblemen und sprach in ihren Briefen von ihrer Todessehnsucht. Die antisemitische Verfolgung und die Einsamkeit des Exils hatten ihre Nerven zerrüttet. Sie starb am 1. Februar 1954 mit knapp 80 Jahren.
Susanne Wittek ist mit ihrer authentischen und gut geschriebenen Biografie ein differenziertes Porträt Rosa Schapires gelungen und das eindringliche Zeugnis einer Exilerfahrung, die ihre Aktualität bis heute leider nicht verloren hat.
Susanne Wittek: Es gibt keinen direkteren Weg zu mir als über Deine Kunst, Rosa Schapire im Spiegel ihrer Briefe an Karl Schmidt-Rottluff 1950-1954
Schriftenreihe der Künstler in Hamburg der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung. Band 2
Wallstein Verlag 2022
208 S., 61 z.T. farb. Abb., geb., Schutzumschlag
ISBN: 978-3-8353-5197-4
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