„I can‘t breathe“. Nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd 2020 gingen seine letzten Worte um die Welt. In Jenny Holzers Lichtprojektion „In Memoriam“ war dieser Satz am 19. November 2022 auf der Fassade der Galerie der Gegenwart zu lesen.
Als flächenmäßig größter Beitrag einer ungewöhnlich umfangreichen und ungewöhnlich aufklärerischen Ausstellung, die sich einem existenziellen Thema widmet – dem „Atmen“.
Vom ersten Schrei eines Neugeborenen bis zum letzten Röcheln – Atmen ist Leben, leben heißt atmen. Seit Ausbruch der Pandemie ist schmerzlich bewusst geworden, wie sehr diese Selbstverständlichkeit bedroht ist. Luft zu holen bedeutet in Zeiten von COVID 19 eine potenzielle Gefahr. Global! Vor Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine gab es seit Frühjahr 2020 gefühlt kein anderes Thema in den News als dieses Virus, das den Menschen den Atem raubt. Was Wunder, dass „Atmen“ in den Fokus der bildenden Kunst gerückt ist. Die Kunsthallen-Kuratorinnen Brigitte Kölle und Sandra Pisot haben als erste dieses existenzielle und universelle Thema umfassend beleuchtet. Mit 45 künstlerischen Positionen aus 18 Ländern spüren sie dem Atmen nach, widmen sich den religiösen, medizinischen und poetischen Facetten ebenso, wie den biologischen, physikalischen und politischen Aspekten.
Seit der Antike sind wir mit den kreativen, poetischen und religiösen Narrativen zur Atmung wohl vertraut. Der Bibel zufolge hat Gott Adam den Atem eingehaucht und ihn somit zum Leben erweckt. Hildegard von Bingen hat den Atem als „lebendigen Hauch der Seele“ bezeichnet. In dieser Ausstellung, die sich über die gesamte Museumsinsel zieht, wird die Verbindung von Atem, Seele, Inspiration und Vergänglichkeit; die Bedeutung des Atmens bei Gesang und dem Spiel von Blasinstrumenten quer durch die Kunstgeschichte nachgezeichnet. Dabei ergeben sich überraschende Dialoge, etwa, wenn Hendrick ter Brugghens „Blockpfeife spielender Knabe“ von 1621 mit dem 2011 entstandenen Film „Pneuma“ von David Zink Yi konfrontiert wird, in dem ein Trompeter ein hohes C so lange hält, wie es sein Atem erlaubt.
Oder Hendrick van Somerens „Der Raucher, Allegorie der Vergänglichkeit“ (1615-25) in Sichtweite von Natalie Czechs Fotoserie „Cigarette Ends“ (2019) hängt. Etliche Arbeiten erschließen sich bei eingehender Betrachtung, so der verspielt-verstörende Beitrag „In the Air““ im Lichthof der Galerie der Gegenwart.
Die Mexikanerin Teresa Margolles lässt dort Seifenblasen regnen, deren Seifenlaugen aus (blut?)-getränkten Tüchern von Tatorten entstanden. Die funkelnden Seifenblasen sind gleichsam Erinnerungen an ermordete Menschen. Doch in dem Moment, in dem sie in Berührung mit den Besucher*innen kommen und zerplatzen, lassen sie uns unsere Lebendigkeit spüren.
Vergänglichkeit beschwört auch die Arbeit „Aliento“ des Kolumbianers Oscar Mun᷈oz. Sobald man seine kleinen, blitzblanken Metallspiegel anhaucht, zeigen sie unter der beschlagenen Oberfläche für einen Augenblick das Porträt einer verstorbenen Person.
Dass das Atmen nicht erst seit der Pandemie zu einer tödlichen Gefahr geworden ist, zeigen die ökonomischen und gesellschaftspolitischen Aspekte des Themas. Giftige Wolken verpesten die Luft, werden als Waffe eingesetzt (Tränengas bei Demos, Giftgas-Angriffe in Syrien) oder durch skrupellose wirtschaftliche Ausbeutung erzeugt (Waldbrände in den Tropen). Laut einer im Mai 2022 veröffentlichten internationalen Studie starben 2019 rund 9 Millionen Menschen verfrüht durch Umweltverschmutzung.
In ihrer beeindruckenden Fotoserie „Breath by Breath“ (2016/17) macht die indische Künstlerin Vibha Gahorta darauf aufmerksam, indem sie auf qualmenden Müllhalden, neben Baustellen und verkehrsreichen Straßen mit dem Schmetterlingsnetz verschmutzte Luft einfängt. Indien, China, Afrika – überall auf der Welt wird den Menschen der Atem geraubt.
Der afrikanische Philosoph Achille Mbembe fordert deshalb in dem sehr empfehlenswerten Katalog „die Einführung eines allgemeinen Rechts zu Atmen.“ Er will es als „Existenzrecht“ verstanden wissen, „das der universalen Gemeinschaft menschlicher und anderer Erdbewohner*innen gehört.“ Wird sich die Weltgemeinschaft jemals dazu durchringen, ein entsprechendes Gesetz zu verabschieden? Solange sich die Reichen noch an Orte mit frischer Luft zurückziehen können, sicher nicht.
„Atmen“
Zu sehen bis 15.Januar 2023
In der Hamburger Kunsthalle, Glockengießerwall 5, 20095 Hamburg.
Beteiligte Künstler*innen:
Marina Abramović & Ulay, Hendrik Andriessen, Thomas Baldischwyler, Hendrick ter Brugghen, Helen Cammock, Nina Canell, Alice Channer, David Claerbout, Natalie Czech, Johan Christian Dahl, Cornelis Gerritsz. Decker, Lucinda Devlin, Johann Georg von Dillis, Allaert van Everdingen, Valie Export, Forensic Architecture, Hamburger Meister, gen. Meister Francke, Caspar David Friedrich, Kasia Fudakowski, Bernardino Fungai, Vibha Galhotra, Jacob Gensler, Francisco de Goya, Andreas Greiner, Jeppe Hein, Holländischer Meister (18. Jh.), Jenny Holzer, Joachim Koester, Teresa Margolles, Jan von Mieris, Willem van Mieris, Bertram von Minden, Oscar Muñoz, Cornelia Parker, Giuseppe Penone, Dirk Reinartz, Anri Sala, Ari Benjamin Meyers, Godfried Schalcken, Markus Schinwald, Hendrick van Someren, Sebastian Stumpf, David Teniers d. J., Thomson & Craighead, Lee Ufan, Claude-Joseph Vernet, David Zink Yi
Es ist ein Ausstellungskatalog erschienen.
Weitere Informationen (Hamburger Kunsthalle)
Kommentar verfassen
(Ich bin damit einverstanden, dass mein Beitrag veröffentlicht wird. Mein Name und Text werden mit Datum/Uhrzeit für jeden lesbar. Mehr Infos: Datenschutz)
Kommentare powered by CComment