„Moderne Zeiten“ – wer denkt da nicht an Charlie Chaplins Klassiker von 1936. Im Bucerius Kunst Forum stimmt das berühmte Bild des zwischen riesigen Zahnrädern rotierenden Tramps die Besucher ein auf den hochinteressanten Streifzug durch 175 Jahre „Industrie im Blick von Malerei und Fotografie“ mit rund 30 Gemälden und 170 Fotografien von über 100 Künstler*innen, u.a. von Adolph von Menzel, Conrad Felixmüller, Albert Renger-Patzsch, August Sander, Hilla und Bernd Becher und Thomas Struth.
Als Carl Eduard Biermann 1847 „Borsig’s Maschinenbau Anstalt zu Berlin“ in Öl verewigte, hatte die erste Phase der Industriellen Revolution ihren Höhepunkt erreicht. August Borsig war Mitte des 19. Jahrhunderts der führende Hersteller von Dampfmaschinen und Lokomotiven in Europa. Diese Auftragsarbeit, ein Panorama des Fabrikgeländes mit seinen rauchenden Schloten, der riesigen Gießhalle und dem achteckigen Glockenturm, ein eindrucksvolles Zeichen seiner unternehmerischen Macht und Fähigkeiten. So auch die „Gussstahlfabrik von Friedrich Krupp aus der Vogelschau“ (1879/80), die Keimzelle der Schwerindustrie im Ruhrpott, nach einer Zeichnung von J. Scheiner. Beide Bilder sind aber auch Zeugnisse der romantisch-verklärten Sichtweise auf Industriebetriebe, mit der so viele Auftragsmaler und – Fotografen (zum Teil bis heute) die wirklichen Produktionsverhältnisse verschleiern: Die winzig kleinen Pferde und Arbeiter wirken wie Spielzeugfiguren in dem Kolossalbild.
Eine heile Welt neuer Produktivität, die nichts von Ausbeutung und Unterdrückung der gerade entstandenen Arbeiterklasse verrät. Auch aus den Aufnahmen der Fotopioniere von damals spricht durch die Bank blanke Bewunderung für die technischen Errungenschaften. Die anonyme Fotografie der im Bau befindlichen Elbbrücken (um 1870) feiert die konstruktive Schönheit industrieller Fertigung ebenso, wie Georg Koppmanns „150 Tons Kran am Segelschiffhafen“ (1888) der mühelos eine Lokomotive hebt. Erst um 1900 spielen auch sozialkritische Aspekte eine Rolle. Arbeiter*innen werden immer stärker als Individuen wahrgenommen, wie die ausdrucksstarken Gemälde, „Arbeiterinnen“ von Hans Baluschek (1900) und „Streik“ von Georg Friedrich Zundel“ vor Augen führen.
Die von Katrin Baumstark und Ulrich Pohlmann chronologisch konzipierte Schau beleuchtet die Haltung, mit der sich Maler*innen und Fotograf*innen der industriellen Lebens- und Arbeitswelt näherten. Wie sich politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklungen der vergangenen 175 Jahre in Gemälden und Fotografien spiegeln und wie sich die Sichtweisen der Künstler*innen mit der Zeit veränderten.
Dabei wird deutlich, dass im Laufe des 20. Jahrhunderts die Menschen immer stärker in den Fokus rückten, in beiden Medien wohlgemerkt. Zudem kristallisieren sich zwei grundsätzlich unterschiedliche künstlerische Herangehensweisen heraus: Die formal-ästhetische, zu denen z.B. August Sander mit seinen Arbeiter-Porträts um 1930, sowie Bernd und Hilla Becher mit ihren Hochöfen- und Förderturm-Typologien im Ruhrgebiet (1970er/ 1980er Jahre) gehören. Und die sozialkritisch-dokumentarische, die insbesondere die negativen Auswirkungen der globalen Industrialisierung für Mensch und Umwelt seit den 1970er Jahren vor Augen führt. Unerhört eindringlich sind in diesem Zusammenhang die Fotografien von Boris Mikhailov, der 1986 baden Ukrainer in einem von Chemieabfällen verseuchten See zeigt. Oder die Aufnahmen von Jürgen Nefzger, der 2005 Erholungssuchende in Europa in unmittelbarer Nähe von Atomkraftwerken einfing. Der stärkste Appell an ein Umdenken aber liefert Taslima Akhter mit ihren schockierenden Bildern über den katastrophalen Unfall in der Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch 2013. Man kann diese Bilder gar nicht oft genug zeigen, um klarzumachen, wie teuer bezahlt unsere Billig-Textilien sind.
„Moderne Zeiten. Industrie im Blick von Malerei und Fotografie“
zu sehen bis 26.9. 2021
im Bucerius Kunst Forum, Alter Wall 12, 20457 Hamburg
Es ist ein Ausstellungskatalog erschienen.
YouTube-Video:
MODERNE ZEITEN. INDUSTRIE IM BLICK VON MALEREI UND FOTOGRAFIE Interview mit der Kuratorin (6:54)
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