Bildende Kunst
Almost Alive – Hyperrealistische Skulptur in der Kunst. Ist das real oder fake?

Die Kunsthalle in Tübingen präsentiert bis zum 21. Oktober 2018 eine irritierende Ausstellung mit rund dreißig Exponaten hyperrealistischer Skulpturen. Im Focus der Schau stehen der Mensch und seine Individualität.
Täuschend echte, wie lebendig wirkende Arbeiten geben einen Einblick in diese Skulpturengattung der späten 1950er Jahre bis zur Gegenwart. Ziel war und ist es, den menschlichen Körper mittels unterschiedlicher Materialien und Techniken so realistisch wie möglich darzustellen. Die Ausstellung zeigt auch, dass die differenzierten Darstellungen menschlicher Körperlichkeit dem jeweiligen Zeitgeist entsprechen.

Seit der griechischen und römischen Antike hatten Künstler den Wunsch, ein möglichst realistisches Abbild des Menschen zu schaffen. Sei es in Marmor oder Stein, später in Wachs oder Silikon und Kunstharz. Dieses Streben nach lebensechter Darstellung ist bereits in den Metamorphosen des römischen Dichters Ovid belegt. Erinnert sei an den Pygmalion-Mythos: Der Bildhauer Pygmalion von Zypern verliebt sich unsterblich in eine von ihm geschaffene Elfenbeinstatue, die wie eine lebendige Frau aussieht. Als er beginnt, die Statue zu liebkosen und zu hoffen seine Frau möge genauso sein wie diese Skulptur, wird diese schließlich mit Hilfe der Liebesgöttin lebendig. Im 18. Jahrhundert erhält die zum Leben erweckte Statue den Namen ‚Galatea‘.

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Im Verlauf der gesamten Kulturgeschichte entwickelten sich verschiedene Techniken, um den menschlichen Körper so realistisch wie möglich abzubilden. Mit der amerikanischen Pop Art und dem Fotorealismus sowie dem Nouveau Réalisme in Europa begann in den Sechzigern die Kunst des Hyperrealismus. Künstler wie Duane Hanson, John DeAndrea und George Segal strebten mit ihren Skulpturen die perfekte Illusion menschlicher Körperlichkeit an. Nicht nach fotografischen Vorlagen sondern nach lebenden Modellen formten sie Gipsabdrücke, gossen sie mit Bronze oder Kunstharz aus, darunter Epoxidharz und Fiberglas, und bemalten sie. Unter Verwendung von Haarteilen und Kleidungsstücken sowie Accessoires, perfektionierten sie die illusionistische Wirkung dieser Geschöpfe.

Duane Hanson wurde zu einem der wichtigsten Vertreter des Hyperrealismus und verhalf der Bewegung zum Durchbruch, als er 1972 auf der ‚documenta 5‘ in Kassel die ersten hyperrealistischen Skulpturen vorstellte. Ob es die mit Fotoapparaten bewaffneten Touristen im Hawaii-Hemd sind, gelangweilte Cowboys sowie schwarze Putzfrauen, dicke Frauen mit Lockenwicklern und beladenem Einkaufswagen, sie sind Hansons beißende Sozialkritik und eine Abrechnung mit dem „American Way of Life“: Seine Werke zeigen die gesellschaftlichen Randgruppen, die Außenseiter der Gesellschaft und den Alltag der sozialen Verlierer der amerikanischen Lebensart, „Ich dupliziere das Leben nicht, ich stelle menschliche Werte dar. Meine Arbeit handelt von Menschen, die in stiller Verzweiflung leben“, so Hanson.

Dieser figurative Impuls inspiriert bis heute nachfolgende Bildhauergenerationen, die Motive haben sich jedoch erweitert, variieren und gewähren einen intimen Einblick in die menschlichen Befindlichkeiten. Der Lebenszyklus, von Geburt bis Tod sowie Nacktheit, Alter und Sexualität sind keine Tabuthemen mehr. Auch wenn man weiß, dass diese Figuren nur fake sind, aus Bronze, Wachs, Silikon oder Polyester gefertigt, so irritieren und erschrecken diese menschlichen Doppelgänger den Betrachter, grad so, als seien sie real.

Im Foyer der Kunsthalle Tübingen begegnet dem Besucher die „Wasser- und Wiesennymphe“ von Johann Heinrich Dannecker. Ein, nach dem klassizistischen Schönheitsideal modellierter Frauenkörper. Danneckers Nymphen Gruppe korrespondiert zweihundert Jahre später mit der auf einem Podest ausgestreckten schlafenden, nackten Frau, die sich den Blicken der Betrachter ausliefert. Aber, sie ist nur eine farbig gestaltete Bronzefigur. Und doch ist der Besucher peinlich berührt von der Blöße des nackten Körpers. „Lisa“ (2016), eine Arbeit von John DeAndrea, zeigt, wie verletzbar Nacktheit den Menschen machen kann.

Seit den 1990er Jahren erschafft der Australier Ron Mueck handwerklich perfekt gearbeitete Figuren aus Fiberglas und Silikon, aus Polyurethanschaum und Acrylfarben. So seine Darstellung eines neugeborenen Babys von etwa fünf Meter Länge - kein zusätzliches Accessoire lenkt von der natürlichen Nacktheit ab. Das Monsterbaby ist gerade auf die Welt gekommen, die Nabelschnur hängt noch am blutverschmierten Bauch, das Gesicht ist vom Geburtsvorgang faltig und verknauscht und die Hände zu Fäusten geballt. „Ich wollte etwas machen, dem ein Foto nicht gerecht werden würde. Obwohl ich viel Zeit mit der Oberfläche verbringe, ist es doch das Innenleben, das ich einfangen möchte“, so Mueck.

Auch für „Ordinary Man“ von Zharko Basheski, dem mazedonischen Bildhauer und Professor an der Fakultät für Bildende Kunst in Skopje, scheint eine neue Zeit angebrochen zu sein. Ein überlebensgroßer Mann mit nacktem Oberkörper scheint den Fußboden der Tübinger Kunsthalle zu durchbrechen. Er stützt sich mit beiden Händen zu den Seiten ab, der Blick des schräg nach oben gerichteten Kopfes drückt ungläubiges Staunen aus. Wo ist er hier gelandet? Spannung und Unsicherheit spiegeln sich in dem Gesicht wider. Der ausgemergelte Körper des grauhaarigen Mannes zeigt Spuren der Inhaftierung. Stammen die Blessuren von der Folter oder der Haft? Dagegen spricht die käsige Haut des Oberkörpers, die stark gebräunten Arme und der V-förmige Halsausschnitt eines T-Shirts auf der Haut. Ist der Durchbruch zugleich ein Aus- und Aufbruch? Diese Kunstfigur aus Polyesterharz, Fiberglas, Silikon und Haaren, könnte die Widerstandskraft des Menschen symbolisieren, die eigene Befreiung aus einem Gefängnis oder Untergrund. Wie auch immer: die Lösung bleibt ein Geheimnis des Künstlers.

„Woman and Child“ (2010) von dem australischen Bildhauer Sam Jinks zeigt das Wirklichkeitstreue Abbild einer alten Frau mit nacktem Säugling auf der Brust. Die Skulptur aus Silikon, Fiberglas und menschlichem Haar erinnert den Betrachter an die verschiedenen Phasen des Lebens: an die Geburt und den Tod. Zu sehen sind zwei Menschen, die am Anfang und am Ende ihres Lebens stehen. Die Skulptur verdeutlicht unsere eigene menschliche Zerbrechlichkeit. Welche Beziehung haben die ältere Frau und das Baby?

Wesentlich fröhlicher ist die Skulptur des Kanadiers Evan Penny, der 1978 sein Studium am Alberta College of Art and Design in Kanada abschloss. Seine Skulpturen stellen laut Katalog „den menschlichen Körper und vor allem die Oberflächenstruktur der Haut mit bestechender Präzision dar. Durch Stauchen, Strecken und Verschieben der realen Proportionen erzeugt er Verzerrungseffekte, die man aus den Bereichen der Fotografie, des Fernsehens oder der digitalen Bildbearbeitung kennt. So entstehen menschliche Körper, die einer Photoshop-Manipulation gleichen. Seine Skulpturen deformieren den menschlichen Körper, täuschen das Auge des Betrachters und thematisieren so eine Veränderung der Wahrnehmung im Zeitalter der digitalen Medien.“

Die Ausstellung „Almost Alive. Hyperrealistische Skulptur in der Kunst“ gibt einen Überblick der hyperrealistischen Bewegung der vergangenen 50 Jahre. Mit Exponaten aus der ganzen Welt zeichnet die Kunsthalle Tübingen in Kooperation mit dem Institut für Kulturaustausch diese Kunstrichtung von den 1960er Jahren bis in die Gegenwart nach. Eine sehenswerte, aber auch irritierende und manchmal verstörende Schau.

„Almost Alive. Hyperrealistische Skulptur in der Kunst“

Zu sehen bis zum 21. Oktober 2018 in der Kunsthalle Tübingen, Philosophenweg 76, 72076 Tübingen.
Die Öffnungszeiten sind Dienstag, Mittwoch, Freitag bis Sonntag von 11 – 18 Uhr, Donnerstag von 11 – 19 Uhr, Montag geschlossen
Weitere Informationen


Abbildungsnachweis:
Header: Blick in die Ausstellung ALMOST ALIVE. HYPERREALISTISCHE SKULPTUR IN DER KUNST in der Kunsthalle Tübingen.
Werk im Vordergrund: Sam Jinks: Untitled (Kneeling Woman), 2015, Silikon,
Pigment, Harz, menschliches Haar 30x72x28cm. Foto: Ulrich Metz, im Besitz des
Künstlers, Courtesy Sam Jinks, Sullivan+Strumpf, Sydney und das Institut für Kulturaustausch, Tübingen, © Sam Jinks
Galerie:
01. Tony Matelli: Josh, 2010, Silikon, Stahl, Haar-Urethan und Kleidung, 77x183x56cm, Foto: Ulrich Metz, Courtesy der Künstler und das Institut für Kulturaustausch, Tübingen, © Tony Matelli
02. und 03. Ron Mueck: A Girl, 2006, Mixed Media, 110,5x501x134,5cm. Fotos: Ulrich Metz, National Galleries of Scotland, © Ron Mueck, Scottish National Gallery of Modern Art. Erworben mit der Unterstützung des Art Fund 2007
04. George Segal: Seated Woman Reading, 1998-99, Gips, Acrylfarbe, Holz, Buch, 124,5x94x124,5cm. Foto: Ulrich Metz, Courtesy George and Helen Segal Foundation, Carroll Janis und das Institut für Kulturaustausch, Tübingen, © The George and Helen Segal Foundation / VG Bild-Kunst, Bonn 2018
05. Besucher betrachten die Werke von Duane Hanson in der Ausstellung ALMOST ALIVE. HYPERREALISTISCHE SKULPTUR IN DER KUNST in der Kunsthalle Tübingen.
06. Besucherin betrachtet das Werk „Caroline“ von Daniel Firman in der Ausstellung ALMOST ALIVE. HYPERREALISTISCHE SKULPTUR IN DER KUNST in der Kunsthalle Tübingen.
07. Daniel Firman: Caroline, 2014, Harz, Kleidung, 162x43x47cm, Foto: Ulrich Metz
Petersen Collection, Courtesy Daniel Firman, Galerie Perrotin und das Institut für Kulturaustausch, Tübingen, © Daniel Firman
08. Carole A. Feuerman: General´s Twin, 2009-11, Öl auf Harz, 61x38x20cm, Foto: Ulrich Metz. Galerie Hübner & Hübner, © Carole Feuerman, Consigned to Galerie Hübner & Hübner, Courtesy, Institut für Kulturaustausch, Tübingen
09. Xavier Veilhan: neutra à cheval/Neutra on horseback, 2012, Polyesterharz, Sperrholz, Edelstahl, Polyurethanlackierung, 157x 20x70cm , Foto:
Ulrich Metz, © Xavier Veilhan / VG Bild-Kunst, 2018
10. und 11. Zharko Basheski: Ordinary Man, 2009-10, Polyesterharz, Glasfaser, Silikon, Haare, 220x180x85cm. Fotos: Ulrich Metz, im Besitz des Künstlers,
Courtesy: Zharko Basheski und das Institut für Kulturaustausch, Tübingen, © Zharko Basheski.

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