„RESPECT“ stand in großen Lettern aus Drahtgeflecht auf dem Gelände von Blohm+Voss – und Respekt verdienen die Besucher und Künstler des diesjährigen ELBJAZZ-Festivals, das am Freitag, dem 24. Mai, begann und am heutigen Sonntag mit einem Frühschoppen, weiteren Konzerten und Rahmenprogrammpunkten in der Hamburger HafenCity seinen Ausklang findet, in der Tat: Bei meteorologischen Voraussetzungen, die selbst Hartgesottene nicht mehr in Verbindung mit dem Frühsommer bringen konnten, machten die 15.000 gutgelaunten ELBJAZZ-Gäste und die auftretenden Künstler mit ihrer Begeisterung und Spielfreude den niedrigen Stand der Quecksilbersäule mehr als wett und auch das 4. ELBJAZZ zu einem großartigen Festival.
ELBJAZZ-Leiterin Tina Heine: „Was für ein Festival! So nahe waren Freude und Verzweiflung bisher noch bei keinem anderen ELBJAZZ. Auf der einen Seite das fabelhafte Programm, spannende Spielorte, ein tolles Team und ein wirklich einmaliges Publikum – auf der anderen Seite: das Wetter… Es war großartig, zu erleben, wie sowohl unsere Künstler als auch unsere Gäste die fehlende Unterstützung von Petrus durch ihre unerschütterlich gute Laune kompensierten. Dennoch hat uns das unverhältnismäßig schlechte Wetter im gesamten Mai im Hinblick auf die Besucherzahlen einen klaren Strich durch die Rechnung gemacht. Der sehr positive Verlauf des Vorverkaufs, der sogar berechtigte Hoffnung auf eine erneute Steigerung des Vorjahresergebnisses von rund 20.000 Besuchern zuließ, konnte im Mai – einem für die Schlussbilanz sehr relevanten Monat – leider nicht fortgesetzt werden. Das diesjährige Locationkonzept mit den beiden Spielort-Zentren Blohm+Voss und dem Areal um die Fischauktionshalle hat sehr gut funktioniert und wurde auch von unseren Besuchern positiv angenommen.“
Regen hin, unwirtliche Temperaturen her: Als am späten Freitagnachmittag The Big Jazz Thing auf der Hauptbühne und parallel das European Jazz Ensemble in der Fischauktionshalle das Festival eröffneten, ließ die Musik an zwölf Spielorten entlang der Elbe das Wetter für zwei Tage zur Nebensächlichkeit werden. Musikalisch konnte keine Klimakapriole es dem Festival aufnehmen: Jazz und Artverwandtes stand auf dem Programm und wurde in bester Güte auch geboten.
Nachfolgend der Versuch, dem vielseitigen Bühnenprogramm zumindest ausschnittsweise gerecht zu werden:
Bereits das erste Konzert auf der Hauptbühne bot eine grandiose Premiere: Zum ersten Mal spielte The Big Jazz Thing. Das Allstar-Ensemble junger deutscher Musiker der „Jazz thing Next Generation“ wurde zum 20. Jubiläum der Zeitschrift und zum 10. Jubiläum der „Next Generation“-Serie gegründet, in der junge Jazzmusiker wie etwa Frederik Köster, Tim Allhoff, Klaus Heidenreich oder Max Frankl ihre Debütalben veröffentlichen. Inzwischen schon viel gerühmte „Young Lions“ (und meist auch Echo Jazz-Preisträger), stellten „The Big Jazz Thing“ im Eröffnungskonzert sozusagen stellvertretend die hohe Qualität der jungen deutschen Jazzszene unter Beweis – mit hervorragenden Eigenkompositionen, sattem Bandsound und großartigen Soli.
Gleich im Anschluss faszinierte auf der nebenan gelegenen „Am Helgen“ genannten Bühne die Berliner Band Mo’ Blow mit einem Funk-Jazz, der selbst hartgesottene Thekensteher zum Kopfwippen brachte – und bei „Gimme The Boots“ kam sogar die Sonne raus.
Um 19 Uhr trat Stefan Gwildis, die schwarz gekleidete NDR Bigband im Rücken, vor die bis zum letzten Platz besetzte Maschinenbauhalle und zauberte den Hanseaten mit einem swingenden und soul-verliebten Programm mehr als nur ein Lächeln ins Gesicht. Von Klassikern wie „Schieß Mich Doch Zum Mond“, auch bekannt als „Fly Me To The Moon“, bis zum tragischen „Das Mit Dem Glücklichsein“, einst als „My Funny Valentine“ ein Jazz-Standard, zeigte der ehemalige Reifenhändler aus der Süderstraße, was er von Al Jarreau oder Chet Baker gelernt hat – und was viele junge deutsche Jazzsänger im Umgang mit der deutschen Sprache noch lernen können.
Band und Betreuer wurden etwas nervös, als Joshua Redman um 19:15 Uhr noch nicht an der Mainstage war – der amerikanische Saxofonstar kam zu Fuß und auf eigene Faust auf das Gelände und stand pünktlich um 19:30 Uhr für seinen Auftritt bereit. Mit George Gershwins „Summertime“ wählte das Joshua Redman Quartett einen leicht ironischen, aber nicht weniger begeisternden Einstieg. Als sein Ansagemikrophon nicht funktionierte, beugte sich Redman zu seinem Saxofon-Mikro und meinte, in dieser Haltung leider keine allzu langen Ansagen machen zu können. „Schade eigentlich“, scherzte er auf Englisch. „Ich hatte lauter gute Jazzwitze vorbereitet – auf Deutsch.“ Immerhin spielte er später ein Werk eines deutschen Komponisten: Johann Sebastian Bach. Das Konzert – voll Redmanscher Saxofonenergie und einer extrem spielwütigen Band mit dem Lyriker Aaron Goldberg am Piano – war sicherlich eines der Highlights des ersten ELBJAZZ-Tages.
Im Anschluss machte Jason Lindners Now vs. Now die Bühne am Helgen zum Fusion-Paradies. Lindners Keyboard-Exzesse, das E-Bass-Gefrickel und die trickreichen Drum-Grooves, sorgten überall für „Jazz Faces“ – so nennt man den anerkennenden Gesichtsausdruck, den Künstler und Publikum bei besonders ekstatischen Improvisationen machen.
Auf der Hauptbühne folgte die französische Sängerin und Gitarristin Nina Attal, die schon nachmittags mit einem Live-Duo-Auftritt im Radio ihre Qualitäten als jüngste aller Blues-Ladies bewiesen hatte. Sie setzte am Freitagabend auf Funk und R&B, was eine begeisterte Menge in verschärfte Tanzlaune brachte, und war damit ein ideales Vorprogramm für Jamie Cullum. Dessen Auftritt bewies einmal mehr die Qualitäten des besten europäischen Jazz-Pop-Entertainers: jungenhafter Charme, unbändige Spiellaune und ein stilistisch abwechslungsreiches Repertoire, durchaus auch mit Klaviersoli, die jeden Jazzfreak überzeugen konnten. Der Brite, der vor zwei Monaten zum ersten Mal Vater wurde, wusste auch die Ungewöhnlichkeit seines Auftrittsortes adäquat in Worte zu fassen: „We’re in a bloody shipyard. Wie toll ist das denn?“
Nebenan blieb Marius Neset und seiner Band Golden Explosion trotz Jamies Konzertstart ein Publikum treu, das in ihm aus gutem Grund den neuen Helden der skandinavischen Saxophonistenszene sieht.
Optimal ins Industrie-Ambiente der Maschinenbauhalle passte als dortiges Freitag-Finale das hochgradig elektrifizierte Trio des Trompeter Nils Petter Molvaer. Psychedelisch anmutende,abenteuerliche Klänge – und manchmal eine Lautstärke, hinter der erfahrene ELBJAZZ-Besucher zu recht den Festivaldauergast Stian Westerhus vermuteten.
Der Samstag startete mit einer wachsenden Kinderschar an der Spitzenbühne beim Alten Elbtunnel, die sich bei JAZZ FOR KIDS vergnügte, einem musikalischen Programm, dass in Zusammenarbeit mit dem Copenhagen Jazz Festival realisiert wurde. Bereits am Tag zuvor hatten die dänischen Festivalkollegen mit Bands, Künstlern und DJs wie Girls In Airports, Sinne Eeg, dem Jakob Bro Trio oder Lulu Rouge allerbeste Werbung für den Event in ihrer Hauptstadt gemacht. Parallel dazu eröffnete Krystle Warren die Mainstage bei Blohm+Voss im strömenden Regen. Aber dank ihrer warmen Stimme und diesem gänsehäutenden Gesang – ganz allein zur Gitarre – wurde es dem Publikum trotzdem warm ums Herz.
In der Maschinenbauhalle fand auch Boi-Akih-Sängerin Monica Akihary einen schönen Kommentar zur Wetterlage. „Wir herrlich, dass sie alle da sind“, begrüßte sie die randvolle Halle. „Und wie wunderbar bunt ihre Regenschirme sind – ein tolles Muster.“ Das sehr laute und avantgardistische Programm des holländischen Trios – inklusive brachialem Jimi-Hendrix-Block – setzte einen klaren artistischen Akzent vor der ersten Verleihung des Hamburger Jazzpreises im Rahmen von ELBJAZZ. Vor geladenen Honoratioren – vom Bürgermeister bis zu Dr. Ernst A. Langner, dessen Stiftung den mit 10.000 Euro dotierten Preis zur Verfügung hat – und vielen interessierten Bürgern, begeisterte nach einer Laudatio von Roger Cicero die NDR Bigband mit einem neuen Programm des Preisträgers Prof. Wolf Kerschek, u.a. mit Gästen wie Gabriel Coburger, Sven Kerschek, Ulita Knaus, Vladyslav Sendecki und Trilok Gurtu.
Während die HipHop Academy mit ihren dänischen Kollegen vom Uppercut Danseteater, die sich vorher backstage zu den Sounds der Bigband eingetanzt hatten, noch zeigte, wie faszinierend sich Akrobatik und Rhythmik vereinen lassen, bewies Nils Wülker auf der rappelvollen Bühne „Am Helgen“ einmal mehr, wie gewinnbringend sich Melodienreichtum und Vielfalt im Groove zu einem in jeder Hinsicht bewegenden Programm vereinen lassen. Das war musikalischer Genuss pur – und der Regen schmälerte das Erlebnis nicht im Geringsten.
Vor der gleichen Bühne unter den riesigen Kränen versammelten sich die Fans der Avantgardepop-Kultband The Notwist bei raffiniert arrangierter, aber auch improvisationsfreudiger Musik zwischen ganz laut und ganz leise. Einige Bandmitglieder hatten fast schon kammermusikalische Ambitionen zuvor schon in der St. Pauli Kirche bewiesen.
Die Band Enders Room schlug mit ihrem Namensgeber, dem Saxophonisten Johannes Enders, zugleich einen Bogen zu dessen gefeiertem Jazzquartett mit der Schlagzeuglegende Billy Hart, das die Besucher der Fischauktionshalle euphorisierte.
Nicht weniger spannend am gleichen Ort: Die immer wieder von Rock, Pop und Punk inspirierten und dabei stets originellst arrangierten Songs der auch unter Musikern als kultwürdiges Klaviertrio verehrten US-Band The Bad Plus.
„In New York wäre bei so einem Wetter absolut niemand zu einem Festival gekommen“, meinte kurz darauf die begeisterte Lakecia Benjamin auf der Hauptbühne bei Blohm+Voss. Die Saxofonistin war eigens für ELBJAZZ mit ihrer Band „Soul Squad“ angereist. Ihr Konzert war so energisch, dass kaum einer der vielen Besucher beim Tanzen Rücksicht auf die paar Pfützen nehmen konnte. „I think I love Hamburg“, meinte die Bandleaderin, die schon mit Alicia Keys oder Stevie Wonder gespielt hat.
Hier zeigte sich auch, wie gut Jazz und Fußball miteinander harmonieren können. Trotz des durchaus spannenden Champions League Finales – bei Blohm+Voss per Großbildleinwand live übertragen – ließ sich der ein oder andere Fußballfan noch während des Spiels von den herüberwehenden Klängen weglocken und nach dem Schlusspfiff wurde überganglos vor den Bühnen weitergefeiert.
Spätestens als Sängerin Vickie Natale mitten in „Jump & Shout“ ihre Pumps quer über die Bühne kickte, kochte die Stimmung über. Und bei der Ballade „Dreams“ wurden sogar Zuschauer mit Tränen in den Augen gesichtet. Ein unvergessliches Ergebnis – und die perfekte Einstimmung auf das große Finale auf der Mainstage: Der amerikanische Sänger Aloe Blacc bewies mit seiner französisch-kubanischen Band, dass er viel mehr ist als ein One-Hit-Wonder. Natürlich gab er „I Need A Dollar“ zum krönenden Abschluss, was man schon jetzt bei mehreren gut geklickten Clips bei YouTube nacherleben kann. Vorher gab er aber auch Kostproben seines neuen, Ende des Jahres erschienenen Albums – und brachte das Publikum zum einhelligen Austanzen. Tolle Stimme, tolle Stimmung – ein perfekter Ausklang auf der Hauptbühne. Oder, ganz wie man’s nimmt, die ideale Einstimmung auf die Aftershowparty im Mojo Club. Während sich oben im Jazz Café etwa Jasper Blom oder Buggy Braune „Someday My Prince Will Come“ zu eigen machten, tobte unten im Club eine gut gelaunte und bestens bewegte Qualitätsmasse. Socalled wurde dabei so warm, dass er sich sogar fast ganz auszog. Und DJ Quantic konnte so tief in seine Single-Kisten greifen wie sonst selten. Egal ob Ska, Soca oder Rhythm & Blues – die Tanzwütigen folgten jedem seiner Grooves auf dem Fuße. Der ekstatische Abschluss eines begeisternden Festivals.
Doch damit nicht genug: Ausgerechnet auch die St. Pauli Kirche bewährte sich nach ausgesprochen subtilen Konzerten von Julia Hülsmann mit unbekannten Weill-Songs und dem festivaltreuen Posaunisten Nils Wogram als Tanztempel, angeheizt vom Multitalent Francesco Tristano.
Höhepunkt an diesem atmosphärisch starken neuen Spielort war hier kurz zuvor das emotional überwältigende Konzert eines Duos, das zu den großen Entdeckungen von ELBJAZZ 2013 zählt: Der hierzulande völlig unbekannte ungarische Sänger Gabor Wind setzte seine Stimme als Instrument so faszinierend ein, wie dies sonst nur ein Bobby McFerrin hinbekommt. Er spornte seinen kubanischen Klavierpartner Ramon Vallee zu einer hochmusikalischen Intensität an, die beim begeisterten Publikum die Frage aufwarf: Wie kann es sein, dass solche Musik nicht weltweit Aufsehen erregt?
Gefeiert werden soll auch am letzten Mai-Wochenende 2014, am 30. und 31. Mai – wenn es wieder heißt: Hafen – Hamburg – Jazz – beim ELBJAZZ Festival 2014.
Infos dazu in Kürze unter: www.elbjazz.de
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