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Verloren in der Eiszeit – „Das kalte Jahr“ von Roman Ehrlich Foto © Aylin Karadeniz

Ein ehemaliges Militärgelände, eingeschneit.
Verlassene Felder, Nebelschwaden, Einsamkeit. In seinem ebenso klugen wie packenden Debütroman "Das kalte Jahr" stellt Roman Ehrlich die Figuren mitten ins namenslose Nichts – verbunden nur durch Geschichten und Bilder, die dünne Fäden zwischen Vergangenheit und Gegenwart spinnen.

Es beginnt mit einer Wanderung. Eines Tages lässt der namenlose Ich-Erzähler kurzentschlossen seine Großstadt-Existenz hinter sich, verlässt seinen Job und seine Wohnung – ohne konkreten Anlass, weil er das Stadtleben einfach nicht mehr erträgt, ihn sein Alltag dort „unheimlich nervös“ macht. Zu Fuß bricht er auf in die eingeschneite Landschaft, entlang der Autobahn, über einsame Felder, Rastplätze, einen verlassenen Gewerbepark. Sein Ziel ist der Küstenort, in dem das Haus seiner Eltern steht, auf einem ehemaligen Militärgebiet und Waffenübungsgelände. Nach Abzug der Truppen sind dort nur die alten Kasernenbauten geblieben, umgeben vom inzwischen wieder bewaldeten, aber immer noch munitionsverseuchten Übungsareal, und das Dorf seiner Kindheit, das zuvor von den Bedürfnissen der Soldaten lebte und nun in stiller Einsamkeit vor sich hin dämmert – bedeckt vom stetig herabfallenden Schnee, eingehüllt in klirrende Kälte.

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Bei seiner Ankunft muss der junge Mann jedoch feststellen, dass seine Eltern nicht mehr da sind – ob verreist, verschwunden oder geflohen, wird nicht klar. Fest steht nur, dass ein kleiner Junge namens Richard das Elternhaus in Beschlag genommen hat und dort alleine lebt – wie lange schon, weiß man nicht. Er gestattet dem erschöpft Heimgekehrten, sein Lager im Wohnzimmer aufzuschlagen, während er selbst in der oberen Etage des Hauses Quartier bezogen hat – ein Arrangement, mit dem sich der Ich-Erzähler fraglos zufrieden gibt. Mysteriös ist, dass der Junge den gleichen Namen wie der Hauptprotagonist trägt, und in dessen ehemaligem Kinderzimmer an geheimnisvollen technischen Experimenten bastelt, die er eifersüchtig vor dem Ich-Erzähler geheim hält.

Der kleine und der große Richard beginnen ein Zusammenleben, eine fragile Beziehung, bei dem der Junge über den Lebensalltag der beiden entscheidet, während der Ältere für beide kocht und sorgt. Die offenkundig im Raum stehenden Fragen nach Richards Herkunft, dem Verbleiben von seinen und den Eltern des Ich-Erzählers oder auch Fragen nach den mysteriösen Bastel-Experimenten im Kinderzimmer lernt der junge Mann nicht mehr zu stellen, weil sie den kleinen Richard „zu sehr aufregen“ – und das Vertrauen des Jüngeren ist dem Ich-Erzähler kostbar.

Eine Beziehung zueinander finden sie in den Geschichten, die der Ältere dem Kind erzählt – „Von der Welt außerhalb des Ortes mussten sie handeln, von den Menschen, die in die Welt aufgebrochen waren, auf ihren Füßen übers Land oder auf Schiffen über das weite Meer.“ Grausige Erzählungen sind das meist, historisch fundierte, aber mit gruseligen Details gespickte Begebenheiten, wie der katastrophale Vulkanausbruch auf der Insel Sumbawa, das Massaker an deutschen Soldaten auf Samoa, oder das Schicksal des Holzarbeiters Louis Link, der sich das eigene Gesicht durch eine Explosion verstümmelte.

Die Geschichten des Ich-Erzählers durchziehen den Roman, stehen aber unzusammenhängend exponiert im Erzählfluss, der der den monotonen Alltag der beiden Figuren schildert, bei dem die Zeit unmerklich verrinnt und Schnee, Nebel und Dunkelheit den Ort in eine schwarz-weiße Schattenwelt versinken lassen. Nach und nach verschieben sich die Dimensionen von Realität und Wahrnehmung, schichten sich verschiedene Erzähl-Fragmente übereinander. Die friedliche Co-Existenz der beiden Hausbewohner wird letztendlich dennoch durchbrochen, im lethargischen Hindämmern des Nirgendwo kommt es zur Katastrophe.

Was sich zunächst anhören mag wie eine platte Science-Fiction-Dystopie, ist in Wirklichkeit ein spannender, aber dennoch langsamer, unaufgeregt erzählter Roman, der durch sprachliche Eindrücklichkeit bestechen kann. Dem Leser werden Rätsel aufgegeben, die nicht gelöst werden, offene Fragen bleiben bis zuletzt bestehen. Zusätzlich wird der Text durch verschiedene Bilder, Fotografien, Grafiken und Skizzen angereichert, die unkommentiert eingefügt sind und das Geschehen gleichsam visuell begleiten. Als Werk postmoderner Gegenwartsliteratur wehrt sich Das kalte Jahr gegen allzu evidente Zuordnungsmechanismen und naheliegende Interpretationsansätze. Stattdessen fühlt sich der Roman von Roman Ehrlich im uneindeutigen Assoziationsspiel wohl, das gedanklich anstößt, ohne sich niederzulassen, und aus vielerlei Materialien ein konglomeriertes Ganzes schafft, ohne dessen Lücken füllen zu wollen. Auch wenn Das kalte Jahr den Leser so herausfordert, ist es dennoch nicht unleserlich oder voraussetzungsreich geschrieben. Macht man sich von der eigenen Erklärungsnot frei, vermag die enigmatische Bildlichkeit der Sprache und die ebenso bizarre wie eigentümlich ruhige Geschichte schnell zu fesseln.

Der Jungautor Roman Ehrlich, geboren 1983 in Aichach, studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und der Freien Universität Berlin. Mit seinem Debütroman ist er dieses Jahr bei den „Tagen der deutschsprachigen Literatur“ in Klagenfurt eingeladen gewesen, bei denen der „Ingeborg Bachmann Literaturpreis“ verliehen wird.

Roman Ehrlich: Das kalte Jahr

Roman. Köln: DuMont, 2013. Gebunden, etwa 240 Seiten.
Format: 21 x 13,5 cm.
ISBN: 978-3-8321-9725-4.


Abbildungsnachweis
Header: © Aylin Karadeniz

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