Eine Neuerscheinung der Philosophischen Bibliothek versammelt Essays und Abhandlungen Nicolai Hartmanns.
Werte spielen in der politischen Rhetorik unserer Tage eine wesentliche Rolle, denn es sollen ja die gemeinsamen Werte sein, die Länder oder Parteien miteinander vereinen. In der Philosophie dagegen wird kaum noch von Werten gesprochen. Zwar waren sie in den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts ein wichtiges Thema, aber das Werk Max Schelers von 1913 – „Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik“ – oder die ähnlich voluminöse „Ethik“ Nicolai Hartmanns spielen in aktuellen Diskussionen praktisch keine Rolle. Sie sind Lektüre für Fachleute. In beiden Fällen ist das schade, denn wirkliche Philosophie – lebendiges, den Problemen zugewandtes Denken – sollte ein breites Publikum ansprechen.
Das gilt allemal für diese Sammlung von Aufsätzen aus der Feder Nicolai Hartmanns, der für gute zwei, drei Jahrzehnte zu den bedeutendsten Philosophen Europas gezählt wurde. Er hinterließ ein gewaltiges Werk, das nach seinem Tod zum Schaden der Philosophie schnell vergessen wurde. Aber seit 2020 – weil siebzig Jahre nach seinem Tod vergangen waren – sind seine Bücher endlich wieder in bezahlbaren Ausgaben auf dem Markt. In seinem Stammverlag sind es heute neben den in Leinen gebundenen schweren, sehr teuren Werken wohlfeile Paperbacks. Wahrscheinlich waren die hohen Preise ein Grund dafür (einer von mehreren…), dass das Werk dieses bedeutenden Denkers so lange – nein, nicht vergessen, sondern an die Seite gedrängt war.
Schon ein flüchtiger Blick in seine Bücher zeigt, dass es sich bei Hartmann um einen außergewöhnlich begabten Autor handelt, denn er schrieb einen gut lesbaren, sehr klaren Stil. Wer dunkle Andeutungen oder schräge Metaphern sucht, der wird hier nicht fündig, und ebenso wenig der, der nach Ausreden fahndet, weil die Texte zu schwierig seien, als dass man sie verstehen könnte. Stimmt nicht! Wie wir unter anderem aus Hans-Georg Gadamers Erinnerungen wissen, schrieb Hartmann die Urfassungen aller seiner Werke noch zweimal mit der Hand ab, um sie im Detail zu verbessern. Dieser unbedingte Fleiß zusammen mit seiner systematischen Argumentation macht die Lektüre zu einem Vergnügen. Ich liebe seine Bücher! Typisch für sie ist ein ruhiger Vortrag bei fast völliger Abwesenheit von Polemik, die man sich allerdings gelegentlich doch wünschen würde. Denn Hartmann zitiert fast allein die ganz großen Philosophen seit Platon, wogegen er Zeitgenossen nur in seltenen Ausnahmefällen offen anspricht. So findet kaum eine Auseinandersetzung statt.
„Philosophie“, heißt es gleich eingangs einer posthum erschienenen Vorlesungsnachschrift Hartmanns, „ist die Behandlung derjenigen Fragen, die nicht bis zu Ende gelöst werden können und deswegen perennieren.“ Sie dauern an, denn immer gebe es „einen unlösbaren Problemrest“. Das ist der Grund dafür, dass auch die Schriften der alten Meister – angefangen mit den Vorsokratikern – noch für uns wichtig sind: Sie sind mehr, sogar viel mehr als bloße Geistesgeschichte, denn sie stellen Fragen, die wir nicht nur immer noch nicht zu beantworten wissen, sondern die sich prinzipiell nicht erschöpfend aufklären lassen.
Hartmann lässt in fast allen seinen systematischen Werken die Philosophiegeschichte mit ihren ewig gleichen Fragen Revue passieren, aber er nennt nicht immer die Namen derjenigen, deren Position er in ganz sachlicher Weise darstellt, um im Anschluss daran ihre Schwächen und Fehlstellen aufzuzeigen und auf diese Weise zu Teillösungen zu kommen. Er spricht von der „aporetischen Methode“, die er von Aristoteles übernommen habe und die darin besteht, dass er die in Frage stehenden Probleme bis zum Äußersten zuspitzt – bis sich der „Problemrest“ herauskristallisiert. Ist es polemisch oder doch anerkennend gemeint, wenn Cassirer 1927 über Hartmanns Philosophie schreibt, sie sei „keine Metaphysik dogmatischer Behauptungen, sondern weit mehr eine Metaphysik der Resignation“?
Hier liegt ein zweiter Grund, warum Hartmanns Philosophie nicht länger populär war und ist: Die analytische Philosophie versucht sich seit dem Beginn der zwanziger Jahre daran, mit der Hilfe oberflächlicher Sprachkritik die eigentlichen philosophischen Probleme als nichtig zu erweisen. Ihr Lieblingsgegner war Heidegger, aber auch Hartmanns metaphysisches Werk geriet unter die Räder. Hören wir auf Moritz von Schlick, den Spiritus rector des Wiener Kreises! „Alle typischen philosophischen Probleme lassen sich darauf zurückführen, daß wir unsere Worte gebrauchen, ohne daß wir Regeln dafür angeben; es entstehen so lauter Scheinfragen, die berühmten ‚unlösbaren‘ Probleme. Sowie man die Bedeutung der Worte festlegt, verschwinden die Probleme gewöhnlich, da man einsieht, daß diese Fragen in der Art gar nicht gestellt werden können.“ Diese ignorante Haltung wurde irgendwann in den siebziger Jahren an deutschen Universitäten herrschend und bestimmt noch heute die Überlegungen mancher Hochschullehrer und Autoren.
Nicolai Hartmanns Werk dagegen ist das Produkt eines lebendigen, nie zur Ruhe gekommenen Denkens. Die hier versammelten Aufsätze aus mehr als zwei Jahrzehnten zeigen, wie sich ein großer Geist immer wieder an denselben Problemen abarbeitet und dabei zwar zu Lösungen kommt, aber doch niemals glaubt, die endgültige Antwort gefunden zu haben. Nur ein Beispiel! 1924 heißt es noch „ewige Wesenheiten“, wenn er über Werte nachdenkt, aber zwanzig Jahre später findet er es suspekt, von ihrer „Zeitlosigkeit“ zu sprechen, und äußert sich viel vorsichtiger. Die Bereitschaft zur Selbstkorrektur ist fester Bestandteil seines Denkens, auch und gerade bei einem zentralen Element seiner Überlegungen. Eben dieses Problem – das Verhältnis von „Zeitlichkeit und Substantialität“ – behandelt eine großartige Studie, die sich ebenfalls in diesem Band befindet und die Hartmann auf der Höhe seines Denkens zeigt.
Ein weiterer Hartmanns Philosophie auszeichnender Zug ist die strikte Ablehnung monistischer Lösungen, die sich durch das gesamte Werk zieht und ganz besonders seine Erkenntnistheorie und Ontologie bestimmt. Das ist ein Aspekt, den auch der Herausgeber in seinem Vorwort betont. Wie von Kalckreuth zeigt, sucht Hartmann in der Ethik nicht nach einem einzigen Prinzip, wie es zum Beispiel in der Moralphilosophie Kants der kategorische Imperativ ist, sondern nach einer „Mannigfaltigkeit des Guten im Sinne unterschiedlicher Werte (und Tugenden)“. Hartmann sieht sich, so von Kalckreuth, in diesem Punkt „in Opposition zur platonischen oder kantischen Einheit des Guten“, denn es ist die Pluralität sittlicher Werte, die er besonders in der „Nikomachischen Ethik“ des Aristoteles findet. Eben dieses Werk, das in einem der zentralen Aufsätze dieses Bandes behandelt wird, besitzt für ihn Vorbildcharakter.
In diesen Zusammenhang gehört ein Vorwurf, den Max Scheler Hartmann in dem Vorwort zur dritten Auflage seines Formalismus-Buches macht. Die von Scheler beanstandete Formulierung findet sich nicht in dieser Aufsatzsammlung, sondern allein in seiner „Ethik“. Scheler hält es für keine glückliche Entscheidung, von einem „Sternhimmel von Werten“ oder einem „Sternhimmel der sittlichen Werte“ zu sprechen, wie es Hartmann tut, und wendet ein, dass der Mensch „auch als geistiges Wesen nur in Geschichte und Gesellschaft“ atme. Deshalb spricht sich Scheler gegen einen „von Wesen und möglichen Vollzug lebendiger geistiger Akte ganz unabhängig bestehen sollenden […] Ideen- und Werthimmel“ aus.
Schelers Vorwürfe treffen Hartmann überhaupt nicht – schon deshalb nicht, weil er die Situation anspricht, in die ein jeder Mensch gestellt ist („man gerät in sie“) und die immer seine sehr eigene Situation sein muss, denn wir handeln immer „aus bestimmter Lebenslage“ heraus. Der oben angesprochene Aufsatz über „Zeitlosigkeit und Substantialität“ bespricht diese Problematik ausführlich. Wie wenig später Ortega y Gasset, mit dem er freundschaftlich verkehrte, oder wie vor ihm Georg Simmel, der diesen Gedanken bereits 1916 in seinem berühmten Essay „Das individuelle Gesetz“ vertrat, betont Hartmann in anderen Arbeiten die „Einmaligkeit und Unwiederbringlichkeit“ eines Menschenlebens. Zusätzlich weist er daraufhin, dass die Situation einer jeden Person von zwei Mächten her bedingt ist, von seinem Charakter einerseits, andererseits „von der umgebenden Welt her“. Wenig später fand Ortega zu seiner berühmten Formel „Ich bin ich und meine Lebensumstände“ („Yo soy yo y mis circunstancias“). Diese Überlegungen seien allen denen empfohlen, die sich „selbst neu erfinden“ wollen.
Noch in einer anderen Hinsicht ist die Frage nach dem Status der Werte, nach ihrer Zeitbedingtheit oder ihrer Zeitlosigkeit, von Belang. Können wir auch Menschen vergangener Jahrhunderte einem ethischen Maßstab unterwerfen, der für uns selbst, die wir in einer ganz anderen Lage gefangen sind, bestimmend ist? Oder bleibt nur ein ethischer Relativismus? Hartmann zeigt, dass in einer moralischen Beurteilung zwei gegenläufige Deutungen einander ergänzen, indem Werte, auch wenn sie ideal sein mögen und sich deshalb nicht wandeln, doch in verschiedenen Situationen eine je verschiedene Bedeutung annehmen. In seiner Argumentation sind „ethische Werte […] freilich relativ – aber nicht, wie man meist gesagt hat, auf das wertende Subjekt, sondern auf die Realstruktur des Menschenlebens, auf die in ihm vorherrschenden Situationstypen.“ Nicht wenige seiner Kritiker standen dieser Überlegung ganz und gar verständnislos gegenüber – das gilt besonders für Hans-Georg Gadamer, der sie etwas überheblich „eine freilich seltsame Erweiterung der aristotelischen Tugendbegriffe“ nannte.
Aber es lässt sich noch anderes Scheler entgegenhalten: Von einem „Sternhimmel der sittlichen Werte“ spricht Hartmann, nachdem er zuvor die Gefahr einer „Tyrannei der Werte“ angesprochen hat. Damit ist gemeint, dass nach Hartmann jeder Wert die Tendenz besitzt, „sich zum alleinigen Tyrannen des ganzen menschlichen Ethos aufzuwerfen“. Als Beispiel für eine solche Hypostasierung ließe sich Immanuel Kants geradezu fanatische Ablehnung der Lüge anführen. Hartmann spricht also über Konflikte zwischen verschiedenen Werten, die sich in einem einzelnen Menschen abspielen. In seiner Sicht kann jeder Wert – er nennt verschiedene Beispiele – extreme Formen annehmen, denn „alle sittlichen Werte haben auch ihren Widerhaken“. Es sind Rigorismus, Fanatismus und Extremismus, vor denen Hartmann warnt. Deshalb betont er im Anschluss an Aristoteles, dass „jeder Wert nur in Synthese mit anderen zu seiner wahren Sinnerfüllung kommt“, also in relativierter, integrierter und abgemilderter Form. Es ist ein Geflecht von Werten, das ihm vor Augen steht, aber ein solches Geflecht, so Hartmann, lässt sich keinesfalls ausdenken oder vorab konstruieren, sondern es muss sich allmählich aus dem täglichen Leben heraus entwickeln.
Die Abneigung gegenüber monistischen Konzepten wie überhaupt gegenüber allen extremen Formen bestimmt ganz wesentlich einen Grundgedanken, den Hartmann in seiner Deutung der „Nikomachischen Ethik“ herausarbeitet. Die aristotelische Mesotes-Lehre wird sehr häufig als die etwas banale Lobpreisung der Mitte missverstanden, und in einer aktuellen Einführung in das Werk des Aristoteles finde ich zu meinem Missfallen, dass der Begriff der Mitte heute als „dunkel und leer“ gilt. Der Autor hätte Hartmann lesen sollen (er zitiert ihn an keiner einzigen Stelle…), dann hätte er vielleicht verstanden, dass in diesem Begriff doch etwas mehr steckt als eine große Leere. Hartmann zeigt nämlich, dass es sich um ein Widerspiel von zwei Werten handelt, die zusammen – und nur zusammen – die Tugend ergeben. Das bekannteste Beispiel ist der Zusammenklang von Demut und Stolz, der zur Seelengröße führt. Hartmann drückt diesen aristotelischen Gedanken so aus, „daß es zu wenig ist, einer einseitigen Anforderung allein zu genügen; es gehört mehr dazu, sittlich gut zu sein: eben die vereinte Verwirklichung entgegengesetzter Anforderungen in einem und demselben Verhalten.“
Der Anfang des sechsten Buchs der Nikomachischen Ethik in der für Andrea Matteo Acquaviva, den Herzog von Atri, in Süditalien angefertigten Handschrift Wien, Österreichische Nationalbibliothek, spätes 15. Jahrhundert Cod. phil. gr. 4, fol. 45v.
Nicolai Hartmann besaß nicht allein die Fähigkeit, klar zu denken und sauber zu formulieren, sondern geradezu überwältigend ist die Fülle der Gedanken, die die Lektüre seiner Schriften so anregend macht und die hier nur angedeutet werden kann. Es ist große Philosophie.
Nicolai Hartmann: Das Wertproblem in der Philosophie der Gegenwart. Aufsätze zu Wert und Sinn.
Mit einer Einleitung herausgegeben von Moritz von Kalckreuth.
Felix Meiner Verlag 2024
278 Seiten
Buch und eBook
ISBN: 978-3787344130
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