Unser Leben wird nicht nur immer künstlicher, sondern damit auch ärmer – je weiter wir uns von der Natur entfernen, desto eintöniger werden die Sinneseindrücke, die auf uns einströmen, ebenso wie die Bewegungen, die wir uns selbst abverlangen.
Das Leben in einer Welt aus Beton und Blech, Glas und Asphalt fordert uns nicht. Es ist unmöglich, dass es unsere Sinne anregt, denn der „Vielgestalt der Erscheinungen“, die der Dichter Gustav Aschenbach in Thomas Manns „Tod in Venedig“ sucht, begegnen wir kaum jemals.
Alles ist eintönig und genormt – selbst wir sind es. Ähnliches gilt für unsere Bewegungen – unsere Vorfahren bewegten sich in einer „unausrechenbaren“ Welt, ja noch wir in unserer Kindheit hatten mal dies zu tun, mal jenes, denn wir schwammen, kletterten, rollten auf dem Rasen herum oder tanzten, wie uns gerade zumute war oder wie wir herausgefordert wurden. Manchmal auch halfen wir in der Küche. Aber in einer von Technik absolut dominierten Umgebung wird uns viel – wahrscheinlich allzu viel – abgenommen, wir wurden „Automatendiener“, wie Friedrich Georg Jünger schrieb, sogar „lebende Ventile“, und so sind ungezwungene, individuelle und spontane Bewegungen nicht nur fast unmöglich, sondern dazu auch noch gefährlich – besonders natürlich im Straßenverkehr, aber auch sonst, wenn wir von Technik umgeben sind. Und wann sind wir nicht von ihr umgeben?
Welche Konsequenzen hat das für unseren Organismus? Ist es gut, dass wir mit weniger Anforderungen und Schwierigkeiten konfrontiert werden (schon lange brauchen wir den Kaffee nicht mehr unbedingt selbst aufzugießen, das Haus ist intelligent, so dass das Licht mit unserem Eintreffen aufflammt, und bald lenken die Autos sich selbst im Straßenverkehr), und bringt es uns weiter, dass unsere Sinneseindrücke und Bewegungen so viel eintöniger geworden sind? Diese Frage beantwortet sich natürlich selbst, denn jeder weiß, wie sehr langes Sitzen dem Menschen schadet und wie sehr fehlende Anregungen den Geist verkümmern lassen. Der Mensch sollte, ja muss sich bewegen. Und gewiss nicht allein wegen seines Kreislaufs oder seiner Muskulatur, denn ewige Stubenhockerei hat noch ganz andere Konsequenzen: Wir nehmen weniger wahr, wenn wir uns nicht bewegen, und schließlich und endlich verblöden wir.
Das Verhältnis von Wahrnehmung und Selbstbewegung ist keinesfalls vollständig geklärt, nicht einmal für den geschulten Blick des Mediziners. Und auch die gedankliche Durchdringung dieser Problematik, mit der sich bereits Johann Gottfried Herder im 18. Jahrhundert beschäftigte, ist noch nicht abgeschlossen. Schon deshalb muss jede Schrift zum Thema willkommen sein. Dr. med. Friedrich Edelhäuser, Professor für „Aus-, Fort- und Weiterbildung in der Anthroposophischen Medizin“ an der Universität Witten-Herdecke, hat ein Buch zum Thema geschrieben: „Wahrnehmen und Bewegen“ heißt es und behandelt damit exakt diese Problematik.
Anthroposophische Medizin: Das bedeutet natürlich, dass der Autor Theorien aus dem Umkreis der Anthroposophie Rudolf Steiners (1861–1925) vorträgt, den er auch häufig genug selbst zitiert. Steiners Theorien stoßen nicht bei allen auf Zustimmung. Aber das sollte kein Grund sein, die Überlegungen und Resultate Edelhäusers ohne ihre Kenntnis und unvoreingenommene Prüfung abzulehnen. Das Buch enthält viel Weiterführendes und Anregendes und ist ein wertvoller Beitrag zur Diskussion der Leib-Seele-Thematik, ob wir nun mit einem Neologismus von „Embodiment“ sprechen oder uns auf ältere Autoren stützen, zum Beispiel auf William James (1842–1910) und Carl Henrik Lange (1834–1900).
William James, 1903. Fotograf unbekannt. Quelle: Houghton Library/Harvard University und Carl Henrik Lange um 1900, Foto: Peter Most. Quelle: Königlich-Dänische Bibliothek, Kopenhagen. Gemeinfrei
Der Amerikaner und der Däne, beide prominente Psychologen ihrer Zeit, formulierten die nach ihnen benannte „James-Lange-Theorie“, nach der es keine Emotionen ohne ihren körperlichen Ausdruck gibt. Es gehört zu den Merkwürdigkeiten dieses Buches, dass es weder auf diese – bis heute von vielen ebenso schroff abgelehnte wie ganz selbstverständlich befürwortete – Theorie eingeht wie auf andere wichtige Literatur. Besonders unverständlich ist wegen der sehr ähnlichen Thematik das Fehlen einer Auseinandersetzung mit Helmuth Plessners (1892–1985) Klassiker von 1923, dem bis heute immer wieder aufgelegten Buch über „Die Einheit der Sinne“.
Helmuth Plessner in Groningen, 1939. Ungekannter Fotograf. Gemeinfrei
Plessner schließt expressis verbis an Lange und James an und kann dank einer sorgfältigen Analyse der Sinnesorgane und ihrer Aktivitäten zeigen, dass „Psychisches […] nur in und mit Daten des eigenen physischen Zustands zum Erlebnis“ kommt. Darüber hinaus stellt er dar, in welcher Weise unser Leib Sinn wahrnimmt und in seinen Haltungen zur Darstellung bringt. Deshalb besitze Haltung „in jedem Falle den Wert des Ausdrucks, auch wenn sie nicht ausdrucksmäßig motiviert ist“. In der Wahrnehmung vollziehe sich die Verbindung von Körper und Geist – der Geist verkörpere sich in den Wahrnehmungen der Sinne. Das Buch Plessners findet sich nach wie vor im Sortiment des Buchhandels, und dafür gibt es gute Gründe: Es ist dank einer geschlossenen Argumentation und einer ebenso energischen wie präzisen Begrifflichkeit überragend und sollte auch heute noch wegweisend sein. Bewegung spielt in diesem Buch zwar nur eine untergeordnete Rolle, aber von Plessners Darstellung aus lässt sich sehr leicht ihre Bedeutung für die Wahrnehmung verstehen.
Thema von Edelhäusers Buch ist die „Frage nach der Verursachung, Gestaltung und Steuerung der menschlichen Bewegung“, an die sich die „Frage nach dem Zusammenwirken von Wahrnehmen und Bewegen“ anschließt. Es versteht sich, dass die Antworten, die er findet, von größter Bedeutung nicht allein für unser theoretisches Selbstverständnis, sondern auch für die Praxis unseres Lebens sein müssen. Wie gehen wir mit uns selbst um, wie formen wir uns zu einem gebildeten Menschen, wie erziehen wir Kinder und Jugendliche? Welche Rolle spielen dabei Wahrnehmung und Bewegung? Hat die Anthroposophie mit der Eurhythmie hier etwas zu bieten?
Antworten lassen sich nur allein auf Grund sorgfältiger Einzeluntersuchungen finden, also von Analysen, die zunächst den Zusammenhang von Eigenbewegung und Wahrnehmung näher beschreiben. „Der Eigenbewegung“, schreibt Edelhäuser, „kommt dabei eine dem Begrifflichen vergleichbare Funktion zu, indem sie Blick-, Kopf- und Körperbewegung so lenkt, dass die mögliche zur anschaulichen Gestalt wird.“ Weil wir Menschen, anders als Tiere, in einer Welt leben, sind unsere Bewegungen wenig festgelegt, viel weniger jedenfalls als die Bewegungen der Kreatur, denn der Mensch ist „wenig umweltangepasst und damit zu flexiblem Verhalten fähig“. Eben deshalb (oder besser: allein deshalb) kann er sich selbst formen und bilden – er wird Vorgänge und Dinge wahrnehmen, die außerhalb seines eigentlichen Lebenskreises liegen, und folgt, anders als Tiere, nicht von seinen Säuglingstagen an einem feststehenden Weg.
Edelhäuser zeigt an fast allen Sinnen, besonders aber am Gesicht und am Gehör, dass Bewegung und Wahrnehmung immer zusammengehören. „Die Augenbewegung ist unerlässlich für die Differenzierung und die Formwahrnehmung im Seefeld. Dieser Zusammenhang gilt ausnahmslos.“ Für das Gehör gilt, dass es die Bewegungen innerhalb des Ohres sind, die das Hören erst ermöglichen. Edelhäuser zeigt, dass es „ohne die aktive Bewegungsleitung der äußeren Haarzellen nicht zu einer ausreichenden Reizung der inneren Haarzellen und damit nicht zu einem adäquaten Höreindruck“ käme. Deshalb heißt es: „Bewegen ermöglicht erst die adäquate Hörwahrnehmung.“
Es sind aber nicht allein die Sinne, mit deren Hilfe wir unsere Umgebung wahrnehmen, sondern auch die Eigenwahrnehmung („Propiozeption“) spielt für unsere Orientierung eine wesentliche Rolle. Wir nehmen zunächst unsere inneren Organe wahr, aber ebenso die Anspannung der Muskulatur. Man könne, schreibt Edelhäuser, die Muskulatur „auch als größten Sensor im Organismus bezeichnen, der durch seine komplexe Vernetzung im zentralen Nervensystem alle wichtigen Organ- und Regelsysteme beeinflusst.“ Alles das bedeutet, dass körperliches Training einen großen Einfluss auf die Wahrnehmung der Welt haben muss – keinesfalls allein einen indirekten und vernachlässigbaren.
Ist es wahr, dass ausnahmslos alle unsere Bewegungen erst erlernt werden müssen? Wirklich samt und sonders alle? In diesem Fall gäbe es für den Menschen keine instinktiven Bewegungen, und wir würden uns selbst schaffen und formen. Jegliche (!) „motorische Leistung des Menschen“, heißt es, beruhe „auf einer erworbenen Motorik“, denn „frühe reflektorische Bewegungsanteile [müssen] im Säuglingsalter abgebaut werden, um einer Erwerbsmotorik Platz zu geben“.
So wie Bewegung und Wahrnehmung ein Gegenspiel bilden, so auch, wie die elende Phrase heute lautet, die „Erfindung“ unser selbst einerseits, andererseits die Formung unserer Sinneseindrücke zu einer Welt. Aus dieser Perspektive scheint nichts vorgegeben! Wir formen uns selbst! Und noch dazu unsere Welt… Aber ist das wahr, kann das wahr sein? Ursprung dieser fehlerhaften Überlegungen ist die Erkenntnislehre Rudolf Steiners, der einen groben Irrtum formuliert, dem sowohl der Rationalist Leibniz wie die englischen Empiristen angehangen haben. Hat Leibniz von einer konfusen Erkenntnis gesprochen, so nennt Edelhäuser mit Steiner die auf den Menschen einströmenden Sinnesdaten zusammenhanglos und unbestimmt und erklärt, dass „die Welt der Wahrnehmung […] ein bloßes Nebeneinander im Raum und Nacheinander in der Zeit, ein Aggregat zusammenhangloser Einzelheiten“ ist. Entsprechend ist das Erkennen in den Worten Edelhäusers eine „Gestaltungsaufgabe“, in der wir das aufgenommene Material formen.
„Woher“, fragt Kant in seiner Fragment gebliebenen späten „Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik“, in der er sich kritisch mit der Philosophie von Leibniz beschäftigt, „kommt den Gegenständen der Sinne der Zusammenhang und die Regelmäßigkeit ihres Beyeinanderseyns?“ Denn tatsächlich gehört die Annahme seiner Einheit zu dem Begriff eines Gegenstandes und geht diesem immer voraus. Deshalb ist niemals ein Gegenstand ein Sammelsurium unverbundener Eigenschaften, wie es Rudolf Steiner und vor und nach ihm unzählige andere angenommen haben.
Leibniz‘ und damit auch Steiners Konzeption ist spätestens von Kant in der Vernunftkritik widerlegt worden, und in seinen Spuren wandelten zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Gestaltpsychologen und einige von ihr beeinflusste Phänomenologen wie zum Beispiel Max Scheler (1874–1928). Sie alle zeigten, dass wir mitnichten wirre Sinnesdaten wahrnehmen, um sie in unserer Machtvollkommenheit zu Gegenständen zu formen, sondern immer schon Gestalten, Figuren, Gegenstände. Und auch Edelhäuser muss später zugeben, dass „anfänglich […] immer schon Objekte“ vor uns stehen. Verträgt sich das mit den Überlegungen Rudolf Steiners?
Was Edelhäuser mit der Analyse verschiedener Bewegungen zeigen will, ist die Gegensinnigkeit von Bewegung und Wahrnehmung, die (und deshalb vermisse ich die Auseinandersetzung mit diesem Buch) bereits die Argumentation Plessners in der „Einheit der Sinne“ bestimmt. Dabei braucht sich Edelhäuser nicht zu verstecken, denn er kann auf Untersuchungen zurückgreifen, die Plessner noch unbekannt waren und eine sehr differenzierte Argumentation ermöglichen. Nicht zuletzt in der Ausdeutung dieser Untersuchungen liegt eine große Stärke seines Buches. Zum Beispiel zeigt er, in welcher Weise sich Alltagsbewegungen wie das Aufstehen von einem Stuhl, das Bücken bei der Hausarbeit und dergleichen im Herzschlag spiegeln. Oder er findet, dass das Gegenspiel der Armmuskulatur (Strecker und Beuger) zu abwehrenden und anziehenden Gesten führt, wie also unsere physischen Voraussetzungen den Ausdruck unserer Bewegungen bestimmt.
Müssen sich die Überlegungen über die Bedeutung von Bewegung nicht in einer anderen Lebensweise niederschlagen? Wie steht es um die immer wieder geforderte Digitalisierung des Lernens? Ist hier nicht größte Skepsis angebracht? In Notsituationen mag das Starren auf einen Bildschirm angebracht und der Begegnung mit anderen Schülern vorzuziehen sein, aber würde ein vorwiegend digitalisierter Unterricht nicht zu noch größeren Problemen führen? Ein Aspekt, den Edelhäuser nicht anspricht und der auch bei Plessner keine Rolle spielt, betrifft noch das Gedächtnis, das auf Bewegung angewiesen ist – wer ein Gedicht oder Vokabeln auswendig lernen möchte, sollte auf- und abmarschieren, denn dann fällt es ihm leichter. Oder er sollte wie jüdische oder arabische Theologiestudenten beim Lesen und Murmeln nicken: auch das hilft. Was er nicht tun sollte: einfach sitzen und geradeaus gucken. Bewegung und Gedächtnis bilden ein Widerspiel wie Wahrnehmung und Bewegung. Das Gedächtnis sollte deshalb unbedingt in diesem Zusammenhang behandelt werden.
Endlich geht es nicht allein um die Verbindung von Ausdruck und Bewegung, sondern auch um den Rhythmus unseres Leibes, besonders den des Herzschlages. Mit bildgebenden Verfahren kann gezeigt werden, dass verschiedene Aktivitäten zu verschiedenen Mustern führen. „Alltagshandlungen […] induzieren eine jeweils typische Musterbildung in der Herzschlagfolge.“ Deshalb trainiert bereits eine geringfügige Variation der Bewegungen den Körper nachhaltiger als eine gleichbleibende Dauerbelastung. So muss das Laufen auf Waldboden gesünder sein als der Trab auf dem Laufband, womit wir wieder bei der Negativität einer künstlich verarmten Umwelt wären.
Auf solchen Überlegungen beruht auch das Konzept der Eurhythmie, für die die Anthroposophie bekannt ist und über die man sich leicht lustig machen kann – seinen „Namen tanzen“ und ähnliches. Der Rezensent kann die Praxis der Eurhythmie nicht beurteilen, findet aber die vorbereitenden Überlegungen Edelhäusers überzeugend und denkt, dass auch andere abwechslungsreiche Aktivitäten wie Ballspiele oder Musizieren die Sensibilität eines Menschen steigern sollten. Und aus diesen Überlegungen geht auch hervor, dass eine Handschrift nichts Äußerliches ist, sondern ihre subtilen Bewegungen wesentlich die kognitiven Ressourcen eines Menschen wecken können. Ihre von manchen Pädagogen geforderte Abschaffung wäre schon deshalb ein Desaster.
Für Edelhäuser geht es vor allem um die „Orientierung des menschlichen Handelns an Zielen“. Verstellt er sich mit dieser Betonung der Pragmatik nicht den Zugang zu einer Lösung des eigentlichen Problems, nämlich dem, in welcher Weise sich in der Wahrnehmung der Sinne Äußerliches und Innerliches, die Welt und die Seele verbinden? Kann Edelhäuser zeigen, in welcher Weise sich in der Wahrnehmung Empfindungen mit Sinn verbinden? Er hat mit seinem interessanten und anregenden Buch vieles angeregt, aber ganz zufrieden kann ich nicht sein.
Friedrich Edelhäuser: Wahrnehmen und Bewegen. Grundlagen einer allgemeinen Bewegungslehre.
Mit Geleitworten von Thomas Fuchs und Christian Rittelmeyer.
198 Seiten (Print, eBook)
Kohlhammer 2022
ISBN 978-3170362703
- Weitere Informationen und Leseprobe (Verlag)
- Weitere Informationen (Friedrich Edelhäuser)
Helmuth Plessner: Anthropologie der Sinne.
Gesammelte Schriften in 10 Bänden, Band III
400 Seiten
Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2003
ISBN 978-3518292266
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