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Das Fliegen und Reisen spielt im Leben der Protagonisten dieses klugen und spannenden Romans von Dana Vowinckel eine zentrale Rolle. Es geht um die so einfache wie schwerwiegende Frage: wo kann eine jüdische Familie gut leben?

Das heißt hier konkret: an welchem Ort hätte Margaritas Familie glücklich werden können?

 

Der Buchtitel klingt so modern wie geheimnisvoll: „Gewässer im Ziplock“. Welche Gewässer könnten gemeint sein? Im Laufe der Lektüre ahnt man die spirituelle Bedeutung. Ein Ziplock bezeichnet die Art von wiederverschließbaren Plastikbeuteln, in die man z.B. Toilettenartikel gut sichtbar verwahrt, um sie beim Sicherheitscheck am Flughafen zusammen mit Handy und Gürtel zum Durchleuchten auf das Laufband zu legen.

 

Dana Vowinckel gewaesser im ziplock COVERDana Vowinckel erzählt die Geschichte der 15-jährigen Margarita mit ihren Eltern Marsha und Avi aus der Perspektive von Vater und Tochter. Die Mutter erleben die Leser*innen also nur aus deren sich abwechselnden Sichtweisen. Das entspricht der Tatsache, dass Marsha die beiden verlassen hat, als Margarita etwa zwei oder drei Jahre alt war, und seitdem wenig Kontakt zu ihnen hatte. Trotzdem wird Marsha in ihren Gefühlen und Konflikten spürbar, ihre Perspektive ist präsent, und es wird im Laufe des Geschehens nachvollziehbar, warum sie weggegangen ist.

 

Es sind Sommerferien. Margarita verbringt sie wie in den letzten Jahren bei Marshas Eltern in den USA: „Die Großeltern lebten in einem Haus im Universitätsviertel auf der South Side von Chicago, das dreimal so groß war wie die Wohnung in Berlin und mindestens dreimal so still.“ (S. 9) Avi ist in Berlin geblieben. Er ist Kantor und begleitet mit seiner ausnehmend schönen Stimme die Gottesdienste in der Synagoge, stimmt die Gemeinde ein zum Gebet. „Sein Verhältnis zu Gott war nie so friedlich wie dann, wenn er an ihn dachte als Freund, als Begleiter seiner Stimme, ruhig und sanft.“ (S. 10)

 

Vater und Tochter haben ein inniges Verhältnis, sie telefonieren jeden Tag. Es ist nicht immer klar zu trennen, wer wen mehr braucht. Aber es hat ein gegenseitiger Ablösungsprozess begonnen. Avi verreist für einige Tage allein und beginnt - fast - eine Affäre mit einer Frau. Margarita zeigt die typischen Allüren eines Teenagers, schwankt zwischen Anhänglichkeit und Trotz, ist mit ihrem Körper und ihren ersten sexuellen Erfahrungen beschäftigt. Sie liest viel, chatted mit ihrer besten Freundin Anna in Berlin, stöhnt über Langeweile und die Marotten ihrer Großeltern. Auch Anna ist Jüdin, musste dafür konvertieren, denn nur ihr Vater ist Jude. Sie besucht nicht wie Margarita das jüdische, sondern ein staatliches Gymnasium, kennt daher Freunde außerhalb der eigenen Gemeinschaft. Mit diesen Freunden begegnen Margarita Vorurteile und latenter Antisemitismus, die sie eher instinktiv als bewusst wahrnimmt.

 

In das feste Gefüge aus Gewohnheiten und eingespielten Ritualen der Sommerferien - Heimweh nach Berlin, gemeinsamen Einkäufen mit der Großmutter und einem Schreibkurs in der Summerschool - platzt nun die Einladung von Marsha an ihre Tochter, sie in Jerusalem zu besuchen. Marsha ist Linguistin und hat dort ein Forschungsstipendium an der Universität. Zunächst weigert sich Margarita, denn sie verzeiht ihrer Mutter nicht, dasss sie sie verlassen hat und ist entsprechend ablehnend. Schließlich gibt sie dem Druck der Erwachsenen nach – auch Avi rät ihr, nach Jerusalem zu fliegen. Er ist Israeli, in Jerusalem haben sich er und Marsha kennengelernt. Weil sie nicht wollten, dass ihr Kind in Israel beim Militär dienen muss, gingen sie nach Deutschland, weil Avi dort leicht Arbeit fand.

 

Immer noch wütend und aufgebracht, steigt Margarita ins Flugzeug, doch in die Ablehnung mischt sich ein wenig Neugierde, diese Frau, die ihre Mutter ist, kennenzulernen. Die Reise verläuft nicht nach Plan: Marsha irrt sich im Ankunftstag von Margarita. Die wiederum entzieht sich immer wieder der elterlichen Aufsicht, um Tel Aviv oder Jerusalem allein zu erkunden. Marsha will ihrer Tochter Israel zeigen. Auf der gemeinsamen Autofahrt, immer wieder gefangen im Stau, entwickeln sich Gespräche und Auseinandersetzungen, die Schritt für Schritt Margaritas Selbstverständnis durcheinanderbringen. Sie läuft weg. Alarmiert von Marsha reist Avi nach Jerusalem. Die Eltern teilen die gemeinsame Sorge um ihre Tochter, vereint sind sie nicht.

 

Als die vermisste Tochter glücklicherweise auftaucht, dreht sich das Karussell aus Katastrophe und Konflikt noch einen Gang schneller. Haben Margarita und die Leser*innen Avi bisher in Berlin vor allem als nachsichtigen, fürsorglichen Vater und in der Ruhe spiritueller Versenkung im Amt als Chasan kennengelernt, erleben sie jetzt sein gespanntes und ambivalentes Verhältnis zu seiner israelischen Familie und dem Land. Avi, der fast die prestigeträchtige Karriere als Kampfpilot bei der israelischen Luftwaffe vollendet hätte, streitet laut mit seiner Schwester, Margarita bleibt vor Schreck der Mund offenstehen.

 

Dana Vowinckel schreibt in einer klaren, manchmal abrupten Sprache, nah an der Wahrnehmung ihrer Protagonisten, beobachtet die unterschiedlichen Szenerien präzise. Schonungslos setzt sie Margarita und die Leser*innen fast allem aus, was das Themenspektrum einer jüdischen Existenz berührt. Das reicht von der Siedlungspolitik Israels über den verkrampften Umgang der deutschen Nachfahren mit dem Erbe des Holocausts bis zum Misstrauen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft: wie „deutsch“ sind eigentlich die deutschen Juden und wer ist überhaupt wirklich „jüdisch“? Dabei geht es doch „nur“ um das Erwachsenwerden eines Teenagers und einer jungen Frau, die erfährt, wie sie Opfer eines unerbittlichen, verzweifelten Machtkampfes ihrer Eltern geworden ist.

 

Aber so ist es nun mal, ohne diese historischen und politischen Verflechtungen wäre der Konflikt zwischen Marsha und Avi, an welchem Ort, in welchem Land die junge Familie hätte gut leben können, vermutlich anders verlaufen.

Zum Glück gibt es die Sprache (und die Literatur!). Marsha, die Linguistin, analysiert ihre Struktur, nutzt sie nüchtern als Werkzeug der Erkenntnis. Avi vermittelt ihre poetische, spirituelle Dimension, wenn er in der Synagoge beim Gesang zur Ruhe findet, wenn er im Gebet an Jom Kippur selbstkritisch reflektiert, wie er sich gegenüber Marsha verschlossen hat und ihr kaum eine Chance ließ.

 

„… Er wusste, alles davon war wahr: Aschamnu, wir haben gesündigt, ein Schlag auf die Brust, bagadnu, er hatte die Treue gebrochen, denn Marsha hatte ihm vertraut, ein Leben für sie beide einzurichten, das auch ihres war, und er hatte versagt, er spürte das schwarze Loch in sich, gasalnu, Unrecht getan, dibarnu dofi, böse geredet, …“. (S. 321)

 

Am Ende trifft Margarita eine Entscheidung. Durch die Krise in den Sommerferien kam alles zum Vorschein - der Schmerz, die Vorwürfe, die Liebe, der Hass, die Schuldgefühle -, jetzt steht das Karussell wieder still. Aber es ist nicht mehr wie vorher. Zurück bleibt das Gefühl, dass sich etwas geöffnet hat, dass wieder etwas fließen kann, und diese drei Menschen, hin- und hergerissen zwischen Chicago, Berlin und Jerusalem, getrennt und doch miteinander verstrickt, eine Chance haben, sich wieder zu begegnen. Ein starker erster Roman und ein selbstbewusstes Bekenntnis!


Dana Vowinckel: Gewässer im Ziplock

Roman

Suhrkamp Verlag Berlin 2023

362 Seiten

ISBN: 978-3-518-47360-3

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