Dieser Roman steht zurecht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2023. 196 Titel hatte die Jury im Vorfeld gesichtet, zwanzig davon auf die Longlist gesetzt. Jetzt sind es noch sechs Romane, die um diesen Preis wetteifern.
Eine sehr gute Chance dürfte Terézia Mora haben mit ihrem Roman „Muna oder Die Hälfte des Lebens“ – obwohl die Konkurrenz groß ist. Denn diese toxische Beziehungsgeschichte der 2018 bereits mit dem Georg Büchner ausgezeichneten Autorin ist absolut preiswürdig. Das meint auch die Jury: „Moras schnörkellose, lakonische Prosa entfaltet vom ersten Satz an einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann“, heißt es in der Begründung für die Shortlist-Nominierung. Und: „Muna oder die Hälfte des Lebens“ ist ein Roman, der nachhallt“. Das tut er, denn gekonnt wird hier mit all dem gespielt, was gute Literatur ausmacht.
Mitreißender Roman über eine toxische Beziehung
Die Figurenzeichnung ist stimmig, die Sprache (erzählt wird aus der Ich-Perspektive) rhythmisch perfekt, egal ob kurz angebunden oder lang fließend: Sie ist in jedem Fall mitreißend. Die Handlung ist dicht, gleichwohl die Geschichte dieser unglücklichen Liebesbeziehung über einen Zeitraum von zwanzig Jahren reicht. Die Entwicklung ist überzeugend, auch wenn sie ins Unglück führt. Hinzu kommen technische Tricks, die einfach zauberhaft sind. Zum Inhalt: Muna lebt in einer fiktiven DDR-Kleinstadt. Ihre Beziehung zur alleinerziehenden Mutter ist alles andere als heil, zumindest zwiespältig. Als Muna den Französischlehrer und Fotografen Magnus kennenlernt, steht sie kurz vor dem Abitur. Sie ist fasziniert von diesem Mann und lässt nichts unversucht ihn kennenzulernen. Irgendwann klappt es und wenig später verbringen die beiden eine Nacht miteinander. Noch zeigt sich die krankhafte Abhängigkeit Munas von Magnus nur schemenhaft, doch sie liegt schon auf der Lauer: „Es war wie ein großer Sieg, ein Triumph, der die ganze Nacht meinen Körper heizte, ich dachte, ich würde nie mehr schlafen, nur daliegen und ihn betrachten.“ […] Du kannst nicht gehen, du kannst nicht gehen! Wie kannst du mich entjungfern und dann einfach gehen?“ Hier zeigt sich bereits die ungute Leidenschaft, die Muna dauerhaft erfasst und von der sie erst zwanzig Jahre später loskommen wird.
Für Muna folgen nun aus ihrer Sicht „die drei besten Monate meines Lebens bis dahin“. Doch mit dem Fall der Mauer verschwindet Magnus spurlos. Und Munas Taumel ins Unglück beginnt – zunächst ohne Magnus, ausgelöst aber durch dessen Abwesenheit. Sieben Jahre später treffen die beiden einander zufällig wieder.
Zufällig, obwohl Muna all die Jahre nichts unversucht gelassen hat, Magnus zu finden. Die beiden ziehen zusammen, werden ein Paar. Muna glaubt, in der Beziehung zu Magnus ein Zuhause gefunden zu haben. Doch schon auf der ersten gemeinsamen Reise treten Risse in der Beziehung auf. Im Laufe der Jahre nehmen Kälte, Unberechenbarkeit und Gewalt immer mehr zu. Doch Muna ist nicht gewillt aufzugeben. Vielleicht wäre es anders, wenn sie wüsste, in welchen vergifteten Strudel sie geraten wird und wohin dieser traumtänzerische Taumel sie führen wird.
Viele Stationen, viele Gefühle sind es, durch die auch wir taumeln. Wir leiden mit Muna, wenn wir ihrer alkoholsüchtigen Mutter begegnen, die z.B. von ihrer Therapie erzählt und Munas Reaktionen erleben: „Du warst doch freiwillig da“, krächzte ich. Als verstünde sie mich nicht. Streichelt und küsst mich: Oh, bist du krank? Oder hast du geweint? Oh, meine Süße, weine doch nicht! Denkt, es wäre ihretwegen“. Klar, Magnus ist es, dessentwegen Muna weint. Es wird nicht das letzte Mal gewesen sein.
Geradezu verstörend zu lesen ist, wie Muna immer mehr in diese ungesunde, ungute Abhängigkeit gerät und mehr und mehr ihre ursprünglich vielversprechende Zukunft aus den Augen verliert. Sie jobbt mal hier, mal da. Mal in einem Verlag, mal in einer Boutique, mal in einer Kneipe – in ganz Europa, immer auf der Suche nach Magnus. Diese Suche mündet letztendlich in eine tragische Beziehung ohne Aussicht auf Glück, ohne Aussicht auf ein gutes Ende, mündet psychisch und physisch in Gewalt. Lange Zeit hofft und glaubt der Leser, die Leserin ebenso wie Muna an einen positiven Ausgang dieser Beziehung. Diese Hoffnung, dieser Glaube wird auf das Heftigste enttäuscht. Immer stärker gerät Muna in eine auch körperlich gewalttätige Abhängigkeit. Und wir sind Zeuge. Wenn dieser Roman nicht so unglaublich gut geschrieben wäre, würden wir das Buch früher oder später beinahe angeekelt aus der Hand legen. Angeekelt von so viel Selbstaufgabe, von so viel Selbstzerstörung. Doch Terézia Mora ist eine begnadete Erzählerin. Sie lässt uns nicht los, und wir leiden mit Muna. Gerne hülfen wir ihr (rechtzeitig!) aus der ausweglosen Beziehung, gerne würden wir ihr zuraunen: Verlass Magnus, er ist nicht gut für dich!
Muna schreibt Briefe an Magnus, die ihn nie erreichen, manchmal auch deshalb nicht, weil sie die Briefe gar nicht erst abschickt. Manchmal streicht sie ganze Sätze in diesen Briefen (und auch sonst im Roman) gradlinig wie mit einem Lineal gezogen durch, und tatsächlich ahnen wir, lesen wir das gerade Durchgestrichene. Manchmal sehen wir Geschwärztes, einen Balken im Druck und spüren, ja, wissen, was dort zuvor geschrieben stand. Das ist schon im ersten Brief an Magnus der Fall. Munas Gedanken erscheinen uns gelegentlich als in Klammern gesetzt. Immer wirkt dies überraschend und unverstellt: „(Wenn so etwas bei dir funktioniert, dann hast du ihn tatsächlich nicht geliebt. Das kann man wohl auch laut aussprechen.) Wenn es funktioniert hat, dann hast du ihn wohl tatsächlich nicht so sehr geliebt“. Nur das Nicht-in-Klammern-Gesetzte sagt Muna wirklich zu ihrer Freundin Gabica, als diese von einem erzählt, den sie mal geliebt hat – sie selbst denkt dabei an Magnus. Wir hören bzw. lesen Munas Gedanken, wir denken, was sie denkt. Auch wenn es ungute Gedanken sind, die wir eigentlich besser und lieber nicht hätten.
Wir LeserInnen dieses Buches sind stille Leidende, allenfalls ein innerer Aufschrei durchzuckt uns manchmal. Wir fragen uns, wie kann jemand so abgöttisch lieben ohne Gegenliebe? Wie kann jemand so verharren im Unglück? Wir verzweifeln fast an der Unmöglichkeit eingreifen zu können, dem Geschehen einen anderen Verlauf geben zu können. Natürlich können wir das nicht. Wir sind in einer ausweglosen Lage, wenn auch auf andere Weise als Muna es ist. Und doch sind wir weiterhin fasziniert, hören nicht auf zu lesen, sehen voraus und ahnen ein bitteres Ende. Grund für diese unsere Faszination ist die starke Erzählkraft, die geniale Erzählkunst der zu recht vielfach preisgekrönten Autorin. Egal, ob sie hierfür den Deutschen Buchpreis 2023 erhält oder nicht: Dieses Buch wartet darauf, gelesen zu werden. Und zwar von möglichst vielen Menschen, Liebenden, Leidenden und solchen, die weder das eine kennen und können noch das andere.
Terézia Mora: Muna oder Die Hälfte des Lebens
Luchterhand Literaturverlag 2023
Roman
Hardcover mit Schutzumschlag, 448 Seiten
ISBN: 978-3-630-87496-8
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