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Bereits 1999 hat Dieter Stolz ein Buch über das literarische Gesamtwerk von Günter Grass veröffentlicht. 2005 folgte eine zweite Fassung. Längst zum Standardwerk aufgestiegen, liegt nunmehr eine nochmals aktualisierte, erweiterte Neuausgabe von Günter Grass / Der Schriftsteller (dtv) vor.

Dieses Buch ist die Quintessenz aus jahrzehntelanger Forschung und vielseitigem Kontakt des Autors zu seinem berühmten Kollegen, dem Literaturnobelpreisträger Günter Grass. Diese dritte Fassung bindet neue Erkenntnisse und Betrachtungen ein, klammert dabei auch kritische Sachverhalte nicht aus. Mit dem letzten Kapitel hat Dieter Stolz diesmal einen persönlichen Schlusspunkt gesetzt. Dieser Epilog darf durchaus als literarische Liebeserklärung an Grass gelesen werden.

 

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Die Zusammenarbeit des jungen Doktoranden mit Günter Grass begann so: Dieter Stolz hatte gerade mit einer Arbeit über Konstanten und Entwicklungen im literarischen Werk von Günter Grass an der TU Berlin promoviert. Mutig entschloss er kurz darauf, den Schriftsteller, den er bis dahin nur aus dem Fernsehen oder von öffentlichen Auftritten kannte, persönlich zu kontaktieren und ihm seine Dissertationsschrift vorzulegen. Gesagt, getan: Am 20. Februar 1992 kam es zu einem ersten Treffen. Es fand während einer Autofahrt von Berlin nach Dresden statt. Anders als geplant, wurde bei diesem Treffen nicht über die Doktorarbeit gesprochen, sondern über gemeinsame Bekannte wie Walter Höllerer, Dieter Stolz Doktorvater. Grass und Stolz verstanden sich auf Anhieb und amüsierten sich gut miteinander.

 

Dieter Stolz Günter Grass COVERSo kam es zu einem zweiten Treffen Anfang Januar 1993 in Grass Werkstatt in Behlendorf. Grass hatte inzwischen die Dissertation gelesen und den jungen Doktoranden eingeladen. Dieser zweite Besuch hatte weitreichende Folgen. Grass engagierte Stolz als „verdeckten Ermittler“ für seinen Roman Ein weites Feld. Stolz recherchierte daraufhin im Fontane-Archiv und bei der Treuhand-Behörde. Das war der Anfang einer jahrzehntelangen Zusammenarbeit. Ab 2011 bis 2019 war Dieter Stolz dann verantwortlich für das „Grass-Lektorat“ des Steidl Verlags und bis 2020 Vorstandsmitglied der Günter und Ute Grass Stiftung. Er ist Mitherausgeber und Kommentator der 2020 erschienenen Günter Grass-Werkausgabe in 24 Bänden (NGA), seit 2013 Honorarprofessor für das Fachgebiet „Neuere Deutsche Literaturwissenschaft“ an der Universität zu Lübeck und seit 2023 Wissenschaftlicher Leiter der Günter Grass Stiftung Bremen. Ein absoluter Fachmann also in Sachen Grass, dem es daher mit seinem Buch Günter Grass, der Schriftsteller ausgezeichnet gelingt, uns Leser:innen einfach mitzunehmen auf Entdeckungsreise durch den weiten Kosmos von Günter Grass.

 

Gleich zu Beginn des Prologs weist Dieter Stolz darauf hin, wie sehr Günter Grass von Anfang an und über seinen Tod hinaus polarisiert und zum Widerspruch reizt: „Bei keinem anderen Künstler hierzulande ist der Spannungsbogen der Wertschätzung so groß. […] Für die einen ist der streitbare Sozialdemokrat schon immer ein „rotes Tuch“, andere stecken ihn kurzerhand in die aschgraue Kutte des unfehlbaren Moralpredigers. […] Für die einen war und ist Grass ein wirklichkeitsfremder Schwarzseher, für die anderen ein von den Realitäten mittlerweile sogar weit übertroffener Hellseher.“ Obwohl seit der ersten Buchpublikation, dem Lyrikband Die Vorzüge der Windhühner, bis heute fast sieben Jahrzehnte vergangen sind, stehe Grass immer noch im Kreuzfeuer der Kritik. Die diversen, unterschiedlich motivierten Auseinandersetzungen hätten jedoch nichts mit dem einzigartigen Wortkünstler, dem Zeichner, Graphiker, Buchgestalter und gelernten Bildhauer zu tun, so Stolz. Er wirbt in und mit seinem Buch auch für weniger bekannte Werke aus der Grass’schen Feder, die auf neugierige Rezipienten warten, „die noch immer oder wieder bereit sind, genau hinzusehen.“ Sehen wir also genau hin, lassen wir uns einmal mehr ein auf Günter Grass und auf die Stolz‘sche Sicht auf Grass.

 

Schon die Kapitelüberschriften sind gut gewählt, sind kleine Kunstwerke an sich und machen neugierig auf den Inhalt. Vom privaten Motivkomplex zum poetischen Weltentwurf ist das erste Kapitel betitelt. Es führt uns ein in die „den beweglichen Gesetzen der Ästhetik verpflichteten Grass-Texte“, in das weite Experimentierfeld des Künstlers mit seinen zunächst noch ungeformten Stoffmassen und den stets neu zu vermessenden Spielräumen. Dieter Stolz nimmt uns mit in diese nie abgeschlossene Werkstattwelt mit all ihren Bedeutungsverschiedenheiten und Bezugsebenen, Variationen, Chiffren, Motivverknüpfungen, Metamorphosen. Stolz warnt dabei vor einer bequemen Lesart, die es aufgrund all dessen auch gar nicht geben kann. Der Literaturwissenschaftler und Grass-Experte sieht aber trotz allem keinerlei Anlass zu Resignation für uns Leser:innen. Er wirbt vielmehr darum, sich auf die vielfältigen Spielarten des Autors, dessen vieldeutige Allegorien, auf mögliche Quellen und Vorbilder einzulassen. Vor allem aber wirbt der Autor für aufmerksames Lesen, wirbt darum, den Schriftsteller Günter Grass beim Wort zu nehmen und zu akzeptieren, „dass ein gewichtiger Rest ungesagt bleibt“.

 

Das Kapitel „Lyrik: Von den ersten Gelegenheitsgedichten zu den letzten Einheitsfliegen“ beginnt mit den Vorzügen der Windhühner, gefolgt von Gleisdreieck, Ausgefragt, Mariazuehren, Novemberland, Fundsachen für Nichtleser, Letzte Tänze, Dummer August und endet mit den Eintagsfliegen. Stolz weiß uns Leser:innen die Grass‘schen Gelegenheitsgedichte und lyrischen Kunstwerke nahezubringen und hilft uns, Zugang zu einer eigenen Lesart zu finden. Das geschieht unter anderem anhand von Textbeispielen und deren Interpretation. Gleiches gilt auch für die weiteren Kapitel, die sich mit den Theaterspielen, Romanen, Novellen, Erzählungen, Autofiktionen und Doppelstücken des Nobelpreisträgers befassen. Bei den Doppelstücken handelt es sich um die Kombination kurzer Prosatexte mit themenverwandten Gedichten, die miteinander korrespondieren, „sich wechselseitig erhellen“, wie Stolz schreibt. Das Doppelstücke-Kapitel „Von endlosen Linien zum (un)vollendeten Schlussstrich“ umkreist die Werke Zunge zeigen und Was nicht geschrieben wurde, Netajis Weltreise und Vonne Endlichkait. Diese Texte wurden - mit einer Ausnahme – erst vier Monate nach dem Tod von Grass in einem noch von ihm selbst komponierten und autorisierten Band Vonne Endlichkait publiziert.

 

Besonders eindrucksvoll ist der abschließende, sehr persönlich gehaltene Text, der in dieser Neufassung erstmals erscheint. Zwar plaudert Stolz in diesem „Epilog: Mein Grass – ein ganz persönlicher Erfahrungsbericht“ auch aus dem Nähkästchen. Das ist zweifelsohne interessant und wichtig. Berührend aber sind die jeweils drei, immer unterschiedlichen Aussagen, die den folgenden Absätzen vorangestellt und dann erläutert werden. Mit diesen kurzen Sätzen und den folgenden Erläuterungen wird uns direkt und unmittelbar Einblick gewährt in das persönliche Verhältnis von Dieter Stolz zu Günter Grass. „Mein Grass ist nach wie vor präsent./ Mein Grass setzt auf die Komik des Scheiterns und ist immer für eine Überraschung gut./ Mein Grass bedeutet mir jenseits besitzanzeigender Fürwörter viel“, lauten die ersten drei von vielen weiteren Kernaussagen, die das persönliche, immer noch andauernde Verhältnis von Stolz zu Grass beglaubigen.

 

In diesem letzten Kapitel werden uns auch Einblicke in die Erzählstrategien des Autors geboten. Neben Erinnerungsbildern und Zustandsbeschreibung sind dies Einblicke in die „nachgelieferte Beschreibung des Lebensabschnitts eines einzelnen Forschers durch diesen selbst“. Dabei geht es um den sogenannten autobiographischen Pakt, um die fragwürdige Identität von Autor, Erzähler und Figur. Dieter Stolz deutet das, was im akademischen Diskurs zumeist als mangelnde Distanz zum Objekt der Begierde angesehen und bemängelt wird, für sich einfach um in ein exklusives Privileg. Und das ist gut so. Kunstvoll und kenntnisreich wird hier das literarische Gesamtwerk eines großen Künstlers ausgeleuchtet und für uns Interessierte als kostbare Lektüre aufbereitet.


Dieter Stolz: Günter Grass / Der Schriftsteller

dtv Verlag
467 Seiten, Paperback

ISBN: 978-3-423-35206-2

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