Der norwegische Roman „Der Keim“ von Tarjei Vesaas in der Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel ist faszinierend zu lesen.
Die Handlung ist rasch erzählt: Ein Neuankömmling bricht in das fest gefügte familiäre Miteinander von Inselbewohnern ein. Zwei Morde geschehen und die idyllische Welt der Insulaner scheint auseinanderzubrechen. Ein einziger Sommertag ist es, der in diesem Roman beleuchtet wird, an dem nicht nur der Neuankömmling, sondern die ganze Inselgemeinschaft Schuld auf sich lädt. Die symbolstarke, poetisch verknappte Prosa des Erzählers macht uns Leser atemlos. Mit intensiver Spannung lädt der Autor das Unausgesprochene und Unbeschriebene auf. Er fühlt sich in seine Figuren ein und erzeigt auf diese Weise eine Nähe, die uns Leser körperlich erfasst.
Die sparsame, umso eindringlicher wirkende Erzählweise lässt jede Szene im Buch, jeden Satz und jede innere Regung zum Ereignis werden. Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel gelingt es, dieses filigrane Spiel von Andeutung und Auslassung, Zurückhaltung und Übersprunghandlung bis ins Kleinste nachzubilden. Vesaas schrieb den Roman „Der Keim“ einige Jahre vor seinen berühmteren Romanen „Das Eis-Schloss“ – ausgezeichnet mit dem Preis des Nordischen Rats – und „Die Vögel“. Dieses Buch bezeichnete Karl-Ove Knausgård sogar als „besten norwegischen Roman, der je geschrieben wurde“. Wir haben es hier also mit einem berühmten norwegischen Autor zu tun. Mit seinem Roman „Der Keim“ leitete Vesaas nach einem naturalistischen Frühwerk eine Phase symbolstarker, poetisch verknappter Prosa mit enormer psychologischer Intensität ein. Besonderen Reiz gewinnt das Buch auch durch sein Entstehungsjahr 1940. Damals befand sich Norwegen unter nazideutscher Okkupation. Insofern stehen der düstere Eindringling und die Reaktion der Gemeinschaft unter politischen Vorzeichen.
Was für ein Anfang: Die Geschichte dieses einen Sommertages beginnt im Schweinekoben. „Die beiden Sauen lagen lang und schwer in den Koben. Grau von gestocktem Schlamm“, lauten die ersten beiden Sätze. Zwei Muttersauen säugen ihre Ferkel. Jedes hatte seine Zitze, „die niemanden sonst was anging. […] Große Ruhe, unterbrochen von kurzem Aufruhr. Ein stechend saurer Gestank stieg von dem Ganzen empor, aber den nahm, wer hier wohnte, nicht mehr wahr./Dennoch lauerte mitten in dieser schläfrigen Ruhe etwas Bedrohliches.“ Damit ist die Ausgangssituation beschrieben. Wir ahnen Schlimmes: So ruhig wird es nicht bleiben. Auch hier nicht. Und tatsächlich. Da gibt es den Eber, der ganz für sich abgetrennt von den anderen haust, in einem extra verstärkten Koben „mit seinem schlaffen Leib und all den wilden struppigen Borsten, und mit dem wilden Zug im Gesicht“, der zahllose Kinder gehabt hatte, die er nie zu Gesicht bekommen hatte, der inzwischen alt und unansehnlich, ja, hässlich anzusehen ist, eingesperrt in die „hoffnungslose Ödnis“. Dem das Leben langweilig ist und die Luft allzu heiß.
Die heiße Luft hat Symbolkraft wie vieles andere auch. Sie steht für das Bedrohliche, für das Kommende, für den einen und den anderen nahen Mord. Der Schweinestall ist Teil einer großen rot angestrichenen Scheune, die wiederum Teil des Hofes ist, „der auf dieser kleinen, grünen, fruchtbaren Insel lag, in einer Meeresbucht, die Schutz vor dem ruppigen Wetter weiter draußen bot. Etliche Höfe befanden sich auf der Insel“, erfahren wir. Noch ist alles ruhig hier. Die Sauen dösen, wälzen sich auf die Seite, seufzen in „ihrem rosigen Dasein“. […] Die jüngste Sau ferkelte. Das war alles. Was für eine atemlose Spannung macht sich hier breit? Wo führt sie hin? Was wird geschehen? „Hier, wo die Wiesen immer noch grün waren, die Äcker leuchteten. Wo heute Ruhe herrschte überall, auch hier auf dem Hof mit der dunkelroten Scheune.“
Es sei verraten: Das Unheil nähert sich. Genauer gesagt: Ein Mann im offenen Boot auf dem Wasser. Wäre er fortgeblieben von dieser Insel, alles wäre wie immer. Arbeitsam, friedlich die Menschen, satt, grün und ertragreich die Landschaft. Menschen würden heiraten, Kinder geboren werden. Das normale Leben nähme seinen Lauf. Doch mit der Ankunft dieses Mannes ändert sich alles, werden die Menschen, die hier leben, lieben und arbeiten mit äußerster Brutalität aus der Normalität gerissen. Selbst die Sauen müssen dran glauben und sterben. Andreas Vest heißt der Fremde, der hier ankommt auf der „atemlosen Suche nach einem Ort, der Heilung für ihn bereithielte“. Ein junger Mann, stark und schön, in dem aber eine Unruhe brennt, die eine Folge von Erinnerungen ist an Dinge, die er hat erleben müssen. Welche Dinge das sind, erfahren wir nicht. Das ist unwichtig. Wichtig ist hingegen, dass es sich um Dinge handelt, die er loswerden wollte, was ihm aber nicht gelang.
Wäre es ihm hier auf dieser Insel gelungen, wäre das Folgende nicht passiert, hätte die Tragödie nicht ihren Lauf genommen. So aber ist es nicht, zumal er viele Enttäuschungen hat erleben müssen, „eine nach der anderen“. Überall, wo er hinkam, erwarteten ihn diese fatalen Erlebnisse, diese Enttäuschungen. Und überall hatte man ihn fortgejagt. Manchmal war er nahe dran gewesen, diese immer wieder vergebliche Suche nach Ruhe und Frieden aufzugeben. Doch immer wieder hörte er den Ruf, „Andreas – komm“. Und dann wendete er sich wieder irgendwohin. Und wieder fand er keine Ruhe, keinen Frieden. Von Ort zu Ort zog es ihn. Jetzt also war er hier angekommen, hier auf dieser von friedliebenden Menschen bewohnten Insel. „Und hier war es also, er spürte es mit ganzer Seele. Hier werde ich endlich Heilung finden.“
Leider scheint das Tragische und Böse diesen Menschen schier unausweichlich anzuziehen. Obwohl er von dieser geradezu unersättlichen Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit, nach Teilhabe und freundlich zugeneigten Mitmenschen erfüllt ist. Stattdessen aber geschieht ein Mord. Ein Mord, den er, der Fremde, ausgeübt hat. Ein Mord, der gesühnt werden muss, meinen die Inselbewohner. Dieser Logik folgend geschieht ein zweiter Mord. Diesmal mordet einer von ihnen - der Bruder der Getöteten. Beteiligt waren viele. Nach dem ersten Mord waren die Inselbewohner heftig berührt und tief erschrocken, aber sie waren auch voller Tatendrang, sprich Rachsucht. Sie suchten den Mörder, sie fanden den Mörder. Einer von ihnen tötete ihn. Gejagt hatten ihn fast alle.
Jetzt wissen die Inselbewohner nicht mehr, was ihnen geschieht, wohin sie sollen mit ihrer Angst, mit ihrer eigenen Zerrissenheit. Sie, die friedlichen, friedliebenden Menschen sind zu Jägern geworden und einer von ihnen sogar zum Mörder. Ihre Gesellschaft ist nun nicht mehr die, die sie noch kurz vor Anbeginn dieses Tages war. Der Zusammenhalt ist zerstört, das Zusammenleben zusammengebrochen. Dieser traurig-schöne Roman lässt sich auch als Gesang des ewig schuldigen Menschen lesen auf der Suche nach Vergebung. Unschuld ist hier und da keine Option. Wohl aber die aus der Schuld heraus geborene Chance, einen neuen gangbaren Weg zu finden, der gesellschaftliches Zusammenleben wieder möglich macht. Im feinsinnigen Nachwort von Manfred Kumpfmüller heißt es zu guter Letzt: „Wenn es auch nur halbwegs zutrifft – und wer wollte daran zweifeln -, dass die Unglückspotenziale derzeit weltweit rasant zunehmen, brauchen wir Stimmen, die uns weder entmutigen noch falsche Hoffnungen machen, sondern zeigen, dass kollektive Lern- und Umkehrprozesse möglich sind, Schwerstarbeit und einzige Hoffnung zugleich. / Jederzeit und überall.“ Hier, mit diesem Roman, ist so eine Stimme. Hören wir ihr zu. Es lohnt sich.
Tarjei Vesaas: „Der Keim“
Guggolz Verlag
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Mit einem Nachwort von Michael Kumpfmüller
238 Seiten, gebunden, fadengeheftet und mit Lesebändchen
ISBN 978-3-945370-39-1
Weitere Informationen (Verlagsseite)
Lesen Sie bei KulturPort.De: Vom Innenleben eines Sonderlings: Tarjei Vesaas – „Die Vögel“, geschrieben von Marion Hinz
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