Das Werk der jüdischen Schriftstellerin Gertrud Kolmar (1894-1943) ist glücklicherweise kein Geheimnis mehr. Der Wallstein Verlag hat ihr Gesamtwerk herausgegeben; im Laufe der Zeit sind zudem Leben und Werk Kolmars aus vielerlei Blickwinkeln betrachtet worden.
Einen ganz eigenen Zugang findet nun die Autorin Ingeborg Gleichauf in ihrem Porträt „Alles ist seltsam in der Welt“, das zum 80. Todestag von Gertrud Kolmar erschienen ist. Ihr Buch versucht nicht, Gertrud Kolmars Leben und Schreiben linear zu erzählen: „Im Vordergrund dieses Porträts steht die Frage, was es heißt, Kolmar zu lesen, in einen Dialog zu treten mit ihren Texten und über die Texte mit ihrem Leben“, so die Autorin des Porträts. Ihre ganz persönliche Lesart und die daraus gefolgerten Interpretationen helfen uns Leser:innen auf die Spur. Gleichaufs Buch weckt bzw. wiedererweckt in uns das Interesse an Gertrud Kolmars Werk.
„Alles ist seltsam in der Welt; Ich bin Anfang und Ende“, schreibt Getrud Kolmar in einem ihrer Wappengedichte (Titel des Gedichts: Wappen von Ahlen). Diese Gedichte entstanden 1927 als Zyklus unter dem Titel „Das preußische Wappenbuch“– zehn Jahre nach der ersten Veröffentlichung eines Gedichts der jüdischen Autorin, die uns Heutigen vor allem als Lyrikerin bekannt ist. Doch Gertrud Kolmar war weitaus mehr als das. Sie war auch eine eifrige Briefeschreiberin, Prosaautorin und Dramatikerin. Zu Lebzeiten veröffentlicht wurden allerdings nur ihre Gedichte. Im März 1943 wurde Gertrud Kolmar von den Nazis in Auschwitz hingerichtet. Sie konnte ihre Werke rechtzeitig in Sicherheit bringen, hat sie in die Schweiz geschickt, zu ihrer Schwester, zu einem langjährigen Freund. Gertrud Kolmar ist uns geblieben in und mit ihren Texten.
Geboren wurde Gertrud Chodziesner am 10. Dezember 1894 im Berliner Nikolaiviertel. Sie ist die Älteste von fünf Kindern (drei Brüder, eine Schwester). Der Familienname ist einem kleinen Ort namens Chodziesen in der Nähe von Posen entlehnt. Hier lebten die Vorfahren des Vaters. Im Deutschen heißt der Ort Kolmar. Daher also stammt das Pseudonym der Schriftstellerin, das sie 1917 annahm, als ihre ersten Gedichte veröffentlicht wurden. Dies und vieles andere mehr erfahren wir in Ingeborg Gleichaufs Porträtbuch. Auch, dass die Familie innerhalb Berlins umzieht, als Gertrud sechs Jahre alt ist. Der Vater, ein angesehener Strafverteidiger und späterer Justizrat, hat eine Jugendstilvilla in Charlottenburg gekauft. Die Familie ist also wohlhabend. Was an Schrecklichem auf sie zukommen wird, ahnt zu diesem Zeitpunkt niemand. Noch sind Traumata und Tod weit entfernt.
Gegliedert hat Ingeborg Gleichauf ihr Buch über die große Schriftstellerin in Kapitel, die nach Themen geordnet sind. Angehängt sind ein tabellarischer Lebenslauf sowie Anmerkungen, die über die Herkunft von Auszügen aus dem Werk Kolmars und anderer verwendeter Zitate informieren. Im ersten Kapitel werden wir Leser*innen in die Herangehensweise der Autorin eingeführt: Wie Gertrud Kolmar lesen? „Was ist erlebt, was erschrieben, wo fängt Literatur an, hört Leben auf und umgekehrt. […]“ Weitere Kapitel des Buches sind Kindheit, Jugendzeit, der erwachsenen Frau, der Dichterin, Dramatikerin, Briefeschreibern gewidmet. Über Kolmars dichtende Schwestern wie Annette von Droste-Hülshoff, Else Lasker-Schüler, Emily Dickinson, Mariana Zwetajewa, Nelly Sachs, Ingeborg Bachmann u.a. gibt es ein eigenes Kapitel, wobei die dichterische Verwandtschaft und persönliche Gemeinsamkeiten im Zentrum stehen. Auch auf Gertrud Kolmars eigene Lektüren, ihr Verhältnis zur Öffentlichkeit, zu Zurückgezogenheit, Einsamkeit und anderes mehr wird in diesem Buch in entsprechenden Kapiteln eingegangen.
Ingeborg Gleichauf stellt uns die kleine Gertrud zunächst als abenteuerliches Kind vor, das gerne mit den Großeltern in den Sommerferien ans Meer fährt. Hier habe das Mädchen ihren Bewegungsdrang gestillt, ihre Abenteuerlust ausgelebt, sich an der Natur erfreut. Gertrud liebte Puppen und begeisterte sich für den Tanz wie andere Kinder auch. Was sie aber schon damals von vielen Gleichaltrigen unterschied, war ihre rege Fantasie. Auch die Heranwachsende ist – so Gleichauf - fantasievoll, sprachbegabt, natur- und lesebegeistert, theateraffin und geschichtsversessen gewesen. Letzteres zeigt sich später auch an ihrem außergewöhnlich starken Interesse an Napoleon und in ihren zahlreichen Gedichten über den französischen Kaiser sowie in den bereits erwähnten Wappengedichten im „Preußischen Wappenbuch“. Wir erfahren, welchen beruflichen Weg Gertrud Kolmar nach dem Besuch der Höheren Mädchenschule ging (Studienreisen, Examen als Sprachlehrerin in Englisch, Französisch und Russisch, Arbeit als Erzieherin usw.). Und wir erfahren, wie tragisch ihre erste große Liebe endete – mit der von den Eltern geforderten Abtreibung des Kindes, das sie aus der Beziehung Anfang des ersten Weltkriegs erwartete. Ein Trauma, das Gertrud Kolmar lebenslang begleiten sollte.
Immer wieder werden Fäden aufgegriffen, wird der Lebenslauf um weitere Details ergänzt. Ingeborg Gleichauf geht auf Kolmars Abenteuerlust ein, auf deren Beziehung zur Natur, auf ihre Fantasie, ihre Sprachbegabtheit und Geschichtsversessenheit. Auch auf Kolmars Einsamkeit, die in dem Gedicht „Die Einsame“ so schön beschrieben wird: Ich ziehe meine Einsamkeit um mich./Sie ist wie ein wärmendes Gewand/An mir geworden ohne Kniff noch Stich,/Wenn auch der Ärmel fällt tief über meine Hand. Ingeborg Gleichauf kommentiert und interpretiert auch dieses Gedicht auf eigene, für uns Leser*innen nachvollziehbare Weise. Das gilt auch für ihre Gedanken über das „eigene Ich“ von Gertrud Kolmar: „Es ist viel mehr als nur eine Welt, es ist ein Weltteil, ein Kontinent.“ Was es heißt, als Kontinent in ein kleines Leben gestellt worden zu sein, permanent an die Grenzen zu stoßen, sich nicht ausleben zu können, das habe Gertrud Kolmar nachhaltig und lebenslang beschäftigt, so Gleichauf.
In ihrem Gedicht „Die Tänzerin“ schreibt Kolmar: Ich bin der Ostwind: hört ihr mich mit Wipfeln schlagen?/Ich bin das Finstre: fühlt ihr mich aus Mooren ziehn?/Ich bin der Himmel: mit dem großen Wagen./Die Erde: mit Chalcedon und Rubin./Die Schritte, mächtig und gemessen,/Ich habe ihrer keinen noch vergessen,/Nicht aller Farben: Berggrün und Karmin. Hierzu Gleichauf: „Die Dichterin ist nicht nur Kontinent, sie ist auch der Ostwind, das Finstere, der Himmel, die Erde. Sie spricht Rätselhaftes aus: Ich bin der Mensch – auch wenn ich meine Seele von mir scheide.“ Das sind schöne, stimmige Gedanken analog zum lyrischen Kolmar-Text. Solche Schlussfolgerungen, Sätze wie diese helfen uns Leser*innen, unsere eigenen Interpretationen zu finden, unsere eigenen Gedanken freizusetzen. Auch deshalb ist dieses Buch eine wichtige Lektüre. Es macht Lust, mehr Literatur von und über Gertrud Kolmar zu lesen.
Ingeborg Gleichauf: „Alles ist seltsam in der Welt“. Gertrud Kolmar. Ein Porträt
Aviva Verlag
205 Seiten, gebunden, mit Leseband
ISBN: 978-3-949302-14-5
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