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In Norwegen ist Hamsun ein Klassiker, aber auch wegen seiner Bewunderung des nationalsozialistischen Deutschlands heftig umstritten. Hierzulande dagegen dürfte er nur noch wenigen bekannt sein.

 

Der Manesse-Verlag hat jetzt sein erstes großes, auch literaturgeschichtlich wichtiges Erzählwerk in einer neuen Übersetzung der Erstausgabe von 1890 herausgebracht: „Hunger“. Es ist wichtig, dass die Erstausgabe übersetzt wurde, denn Hamsun hatte sein in jeder Hinsicht extremes Buch immer weiter abgemildert, hatte Stellen gestrichen und umformuliert. Jetzt also können wir eine Übersetzung des radikalen Originals lesen.

 

Das Buch besitzt keine abgeschlossene Handlung, sondern erzählt in vier „Stücken“ überschriebenen großen Kapiteln das Leben eines namenlosen Journalisten, der nur gelegentlich einen Artikel verkaufen kann und deshalb in einem fast beispiellosen Elend dahinvegetiert, bis er sich endlich spontan dazu entschließt, als Matrose anzuheuern und die Stadt zu verlassen. Nicht allein der ihn unentwegt quälende Hunger, wegen dem ihm sogar die Haare ausfallen und den er mit dem Kauen von Holzspänen bekämpft, wird anschaulich geschildert, sondern auch seine vor Schmutz und altem Schweiß starrende Kleidung oder die erbärmlichen Schlafstellen, denn von einer Wohnung kann man kaum jemals sprechen. Schon diese äußerste Armut ist bei der Lektüre kaum zu ertragen. Dazu die Ausweglosigkeit seiner Situation. Denn auch wenn sich der Erzähler gelegentlich Hoffnungen macht, so wird doch immer wieder deutlich, dass es Luftschlösser sind, bloße Tagträumereien. „In meinem Innersten zeigten sich faule Flecken, schwarze Pilze, die sich immer weiter ausbreiteten. Und oben im Himmel saß Gott, der ein waches Auge auf mich hatte und darauf achtete, dass mein Untergang sich nach allen Regeln der Kunst vollzog, langsam und stetig, ohne Unterbrechung des Taktmaßes.“

 

Der Held zeigt sich als ein sehr religiöser Mensch, der immer wieder auf die Bibel anspielt (eine Reihe von Anmerkungen verweist auf die entsprechenden Stellen) und manchmal sogar Gott verflucht. Nicht wenigen Stellen darf man einen alttestamentarischen Ton attestieren. Zusätzlich ist der Erzähler (soll man Held sagen?) sehr moralisch, und Gewissensbisse und Selbstvorwürfe spielen eine wesentliche Rolle, ebenso die Scham – für seine Situation insgesamt, für seine verwahrloste Kleidung, für manche seiner Handlungen. Ja, fast ist die Scham wichtiger als der Hunger, der ihn doch nie verlässt, der ihn auf seinen ziellosen Wanderungen durch die Stadt begleitet und sein ganzes Tun bestimmt, und so hätte das Buch auch „Scham“ überschrieben sein können. Als er über ein Drama nachdenkt, geht es um eine Prostituierte in einem Tempel (ein tatsächlich alttestamentarisches Thema), und sein Interesse an der Prostituierten formuliert er so: „Was mich an ihr interessierte, war ihre wundervolle Schamlosigkeit, dieser verzweifelte Gipfel an wohlüberlegter, vorsätzlicher Sünde, die sie begangen hatte.“

 

Es ist vor allem seine bittere Armut, für die er sich schämt, aber zusätzlich ist er ein durch und durch religiöses und entsprechend moralisches Wesen, das an sich selbst strengste Maßstäbe anlegt und sich unentwegt mit Vorwürfen quält. Auf der anderen Seite ist er ein verlogener Mensch und lügt immer wieder völlig anlasslos, zum Beispiel, indem er sich ganz spontan einen Namen ausdenkt oder sich als Handwerker ausgibt.

 

Der das damals noch „Kristiania“ genannte Oslo in allen Richtungen durchstreifende ruhelose Erzähler gehört in die Reihe eher unsympathischer Helden der großen europäischen Literatur – was Bruder Medardus aus E.T.A. Hoffmanns „Die Elixiere des Teufels“ von sich selbst sagt („immer hineinbrütend ins Innere“), das könnte auch von ihm gesagt werden. Der Roman stellt zu einem großen Teil einen nicht enden wollenden inneren Monolog dar, und es ist neben dem Fehlen einer in sich geschlossenen Handlung eben dieser Aspekt, der seine Modernität ausmacht. Hier war der politische Reaktionär Hamsun ein Avantgardist, ein wirklicher Neuerer, in dessen Spuren noch viele große Autoren wandeln sollten. Auf jeder, auf wirklich jeder Seite ist es „der fröhliche Wahnsinn des Hungers“, der die Radikalität einer durch und durch subjektiven Perspektive durchtönt. Die Widersprüchlichkeit der aufeinander folgenden Fantasien ist ebenso auffallend wie der schnelle Wechsel von einer realistischen Einsicht in die ausweglose Situation zu völlig grundlosen Hoffnungen.

 

Der Erzählfluss ist gezeichnet von einem stetigen Wechsel des Tempus: „Plötzlich sah ich, wie zwei der Kinder auf der Straße in Streit gerieten, zwei kleine Jungen; den einen kannte ich, er war der Sohn meiner Wirtin. Ich öffne das Fenster…“ So fängt es auch an: Der erste Absatz des Buches sagt uns im Präteritum, dass sich der namenlose Ich-Erzähler in Kristiania aufhält, aber schon der zweite setzt im Präsens fort; und sehr bald geht es wieder zurück ins Präteritum. Dieses Hin und Her bestimmt das Buch in allen seinen Teilen, ohne dass es möglich wäre (was doch zunächst naheliegt), das Präteritum dem äußeren Geschehen, also der Handlung, das Präsens dem inneren Monolog zuzuordnen, für den das Buch berühmt wurde.

 

Es gibt zwar auch ein äußeres Geschehen – Begegnungen mit anderen Menschen oder die Kämpfe des Erzählers mit seiner Bettdecke, seine Suche nach einer Schlafstelle und ähnliches – aber wichtig ist vor allem die ganz extrem subjektive Perspektive der Erzählung: „Alle Dinge drangen auf mich ein und lenkten mich ab, alles, was ich sah, verhalf mir zu neuen Eindrücken. Fliegen und kleine Mücken setzten sich auf dem Papier fest und störten mich; ich pustete, um sie zu vertreiben, ich blies immer kräftiger, doch es half nichts.“

 

Hamsun Sult

Knut Hamsun, 1890 (zur Zeit der Veröffentlichung von „Hunger") und rechts: Erstausgabe von „Sult" (Hunger). Quelle: Wikipedia, je gemeinfrei

 

Aus Lehrbüchern der Psychiatrie kann man lernen, was derartige Massenerlebnisse bedeuten: Phantasierte Angriffe winziger Wesen begleiten sehr häufig die Erlebnisse psychisch kranker Menschen und sind fester Bestandteil des Delirium tremens, der Psychose von halluzinierenden Alkoholkranken. Immer krabbelt und wimmelt es auf ihren Armen und Beinen, in ihren Träumen und Vorstellungen… Und Hamsuns Erzähler spricht ja auch von seinen „Hirngespinsten“, aus denen ein „seltsamer, dichter Dampf aus Licht und Farben quillt“. Als ihn wieder einmal der Hunger quält, halluziniert er kleine Wesen in seinem Inneren: „Es hätten gut zwei Dutzend winzig kleiner Tierchen sein können, die den Kopf auf die eine Seite legten und ein wenig nagten, dann den Kopf auf die andere Seite legten und ein wenig nagten und sich einen Augenblick vollkommen still verhielten, um dann wieder anzufangen; ohne Lärm und ohne Hast bohrten sie sich hinein und hinterließen überall auf ihrer Bahn Leere…“

 

Ein schönes Buch für den Feierabend, ideal, um zu entspannen? Sicherlich nicht. Auch kann man nicht sagen, dass die Spannung uns vorwärtstreibt. Ich habe es nicht geschafft, mehr als einige wenige Seiten auf einmal zu lesen, so sehr hat mich das Leben des Namenlosen gequält. Einmal scheint er so etwas wie eine Freundin zu finden – ihr begegnete er ganz am Anfang, wobei er sich etwas merkwürdig benimmt, läuft ihr dann aber er noch einmal über den Weg und darf sie in ihre Wohnung begleiten, wo er ihr schließlich beichtet, wie es in Wahrheit um ihn steht. „Und ich sprach ziemlich lange über die Brandwunden meiner Seele. Aber je länger ich redete, desto unruhiger wurde sie; schließlich sagte sie ein paar Mal verzweifelt ‚Herrgott!‘ und rang die Hände. Mir war klar, dass ich sie quälte, ich wollte sie nicht quälen, tat es aber trotzdem.“ Ebenso, wie es ihr geht, erging es auch mir. Immer wieder legte ich das Buch fort und rang die Hände.


Knut Hamsun: Hunger

Nach der Erstausgabe von 1890 aus dem Norwegischen übersetzt von Ulrich Sonnenberg. Nachwort von Felicitas Hoppe.

Manesse Verlag 2023

256 Seiten

ISBN 978-3717525608

Weitere Informationen (Homepage Verlag)

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