Der Roman „Spukhafte Fernwirkung“ von Ulrike Anna Bleier erzählt episodisch von Einzelschicksalen, die mal mehr mal weniger miteinander verschränkt ein in sich schlüssiges Gesamtbild ergeben. Ein großer Chor aus Solostimmen. Wie unsere Zeit selbst durch Medien und Digitalisierung laut und vielstimmig geworden ist und in hohem Grade individualisiert.
„Spukhafte Fernwirkung“ liest sich wie aus einem Guss und ist dennoch ein Werk aus Schnipseln, eine Collage von Momentaufnahmen, immer aus der Innenperspektive. Das erzeugt eine ungeheure Offenheit, der man sich schon nach den ersten Zeilen nicht mehr entziehen kann.
Und doch, etwas stimmt nicht mit diesen Figuren. Etwas stimmt nicht mit der Zeit, mit der Kultur, in der sie sich bewegen. Etwas unausgesprochenes fehlt ihnen und sie alle ringen und suchen, jeder auf seine Weise.
Der oder die Lesende springt mit jeder neuen Sequenz unmittelbar ins Geschehen.
Der Ort der Handlung könnte jede größere Stadt sein. Das Einkaufszentrum ist – wie das Wort schon sagt – Mittelpunkt. Konsum und Gewinne sind zentral.
Einigen der Figuren folgt man bis zum Schluss, andere verschwinden wieder. Das Kernensemble umfasst mehr als zehn Figuren. Der ganze Chor hat eine kaum zu zählende Stimmenzahl.
Irma ist eine der Konstanten des Buches. Ihr Denken stolpert über sich selbst, wie sie sich auch auf ihrem Lebensweg ausbremst. Bis ihr ein wahrer Coup gelingt, bei dem sie erstmals geradlinig und zielstrebig, ja sogar begeistert agiert. Ein selbstinszeniertes Unglück, das ihr den Job rettet. Dass es auch Leben kostet – so what! Alles läuft großartig, hat sich so gefügt. Irma kann es selbst kaum glauben.
Wo Gewinne alles sind, wird das Unglück zum Verkaufsschlager. Große und kleine Katastrophen halten alles in Gang, ob Attentat, Zugunglück, oder Geiselnahme, Verfolgt-Sein durch einen Stalker, Geschwisterstreit, ob inszeniert oder real. Die Menschen sind beschäftigt, haben Angst und Hoffnungen, konsumieren, agieren, fühlen sich beteiligt und gebraucht. Die Wirtschaft braucht Unglücke.
Beinahe gespenstisch tauchen im Roman Menschen auf, offenbaren sich und verschwinden wieder, wie der Lesende selbst in deren Leben eintaucht und wieder heraustritt – und womöglich Selbstoffenbarungen durchläuft. Es ist, als würde man beim Lesen durch Wände gleiten. Das Gespensterhafte ist Teil der Geschichte. „Es gibt sie, die Gespenster, sie sind unter uns,“ sagt die Figur Irma kurz vor Schluss.
Der oder die Lesende fühlt mit den Figuren, erkennt Vertrautes und Befremdliches, grotesk zugespitzt und irgendwie verdammt realistisch. Der Blick auf unsere Gegenwart aus dieser Vielzahl von Innenperspektiven mutet an, wie der Gang durch ein Zerrspiegelkabinett. Man möchte manchmal lachen, aber der Impuls vergeht einem wieder, noch bevor er die Mundwinkel erreicht. Und man fragt sich beim Lesen: was mache ich selbst eigentlich mein Lebtag lang.
Soziale Netzwerke werden belehnt, fiktive Kommentarschreiber dialogisieren aneinander vorbei, der ewige Liveticker verhackstückt die täglichen Katastrophen, mundgerecht, für alle schnell zu schlucken.
Ironisch spielt die Autorin mit Verweisen und Zitaten. Da ist Mr. Mchay, der im Hintergrund alles lenkende Medien-Chef, von dem man nichts weiß, den keiner kennt, den jeder fürchtet. Ganz wie der Brecht‘sche Mr. Macheath. Als er am Ende „ausstirbt“, wie es eine der Protagonistinnen formuliert, wird seine Stelle von Herrn Zork besetzt. Klar, auf welch treffend böse Filmfigur die Autorin Bezug nimmt. (siehe Zorg, „Das Fünfte Element“ von Luc Besson)
Phänomene der Quantenphysik motivieren Figuren und Handlungen, erzeugen einen fast hoffenden Grundton im großen Chor. Zeit braucht hier keine Chronologie, man springt zwischen Jahren und Jahrzehnten, der Erzählfluss bleibt dennoch ein in sich schlüssig Gefüge, wie das Universum selbst. Auch Parallelwelten, Paralleloptionen werden ahnbar, stören aber nicht den Lesefluss, sondern ergänzen das Ganze als traumartige Schichtung. Das Schnipselhafte des Textes ist so komponiert, dass die roten Fäden sich wie von selbst vor dem Lesenden auslegen
Und noch ein anderer Ton liegt als verborgener und zugleich alles tragender Grundton unter dem Chorus: Das jeder der Figuren Fehlende erzeugt einen alles umfassenden Klang der Einsamkeit, ohne jedoch den Leser in düstere Schwermut zu ziehen. Dafür ist der Roman viel zu leichtfüßig erzählt, bewegen sich die Figuren in einer viel zu bunten und lauten Welt. Es erstaunt beim Lesen vielmehr, wie viele Facetten von Einsamkeit aufscheinen. Es erstaunt, zu sehen, mit welch herzerweichend kruden Strategien die Protagonisten versuchen, ihr jeweiliges Dilemma aufzulösen. So viele Innenansichten und Seelenarchitekturen, so unendlich groß ist auch die Einsamkeit. Zugleich satt und bunt, laut und vernetzt mit Kontakten. Leere schwingt in allem, Reproduziert sich permanent und kommt süß und verlockend daher. Kaum zu fassen, aber zu spüren.
Das wonach sich im Buch alle sehnen, gibt es hier nur im Unglück und auch dann nur in Miniportionen mit Pferdefuß oder Haken: Erfülltheit, Liebe, Verbundenheit werden vor allem durch ihre Leerstellen erlebt.
In dieser urbanen, durchdigitalisierten Welt werden die Menschen immer austauschbarer. Wie getrieben verrichten sie ihre Arbeit, die alsbald eine KI übernehmen könnte. Selbst die Arbeit am Menschen könnte eine KI erledigen. Sogar das Seufzen der Krankenschwestern als Rudiment letztmöglichen Mitgefühls – für mehr ist keine Zeit, nur für ein kurzes Seufzen – selbst das könnte eine KI übernehmen.
Lediglich die Bettlerin ist der stille Ruhepol. Sie sitzt ohne Beine auf einem Scate-Board mitten im geschäftigen Treiben vor dem Einkaufszentrum. Mit ihrer wortwörtlichen Sicht von unten ist sie als Seherin angelegt. Sobald sie als Künstlerin entdeckt und gefeiert wird, verschwindet sie aus dem Blickfeld.
In dieser real-dystopischen Welt scheint das Träumen die einzige Sphäre, in der der Mensch schöpferisch ist und seine Zukunft erschafft. Selbst da ist die Wirtschaft schon dran, mit starken Marketingversprechen und macht die Traumwelt digital kontrollierbar – verwertbar.
Herr Zork – als der finsterste von allen Herrn Mchay, steht am Schluss schon in den Startlöchern. Eingedenk dessen, welcher Dystopie er entlehnt ist, werden die Aussichten für unsere Protagonisten zwar zunächst nicht besser, aber das ironisch gesetzten Figuren-Zitat verspricht: Erlösung wird kommen. Noch ist es nicht in der Welt, das rettende fünfte Element – die Kraft der Liebe. Das Lesen bleibt dennoch wie das Leben selbst spannend und sogar vergnüglich.
„Spukhafte Fernwirkung“ ist ein großartig komponiertes Stück Literatur, das seine Leser einfängt, und sie den selbsterkennenden Blick auf unsere Zeit werfen lässt. Man bleibt nach der Lektüre erstaunt zurück, mit leisem Gruseln vielleicht.
Aber keine Angst, auf die spukhafte Fernwirkung ist Verlass. Und vielleicht auch auf das fünfte Element.
Ulrike Anna Bleier: Spukhafte Fernwirkung
Roman, 2022, Hardcover, 416 S.
Lichtung Verlag
ISBN 978-3-941306-52-3
Weitere Informationen (Verlagshomepage)
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