Ein Buch über Charles Darwin: über seinen Charakter, seinen Umgang mit Konkurrenten und über die Probleme, mit denen er als Theoretiker der Evolution zu kämpfen hatte.
Der Untertitel des Buches von Heribert Illig ist sehr genau, denn es ist zunächst die Persönlichkeit von Charles Darwin, die im Mittelpunkt seiner Darstellung steht, nicht die Gültigkeit seiner Thesen. Aber um die Probleme seiner Theorie geht es natürlich auch – das ist unvermeidlich, wenn die Entstehung eines Gedankengebäudes geschildert wird, zumal immer wieder deutlich wird, dass Darwin keinesfalls das einsame Genie war, als das er bis heute dargestellt wird. So kann dieses Buch helfen, einen kritischen Blick auf die Evolutionstheorie zu werfen.
„Mein Darwin“, so nennt ihn eine Bekannte, als wäre er ein lieber Freund. Für nicht wenige unserer Zeitgenossen ist dieser Mann sogar so noch etwas mehr, nämlich ein Prophet, ein Mensch, dessen Hauptwerk die Bibel ersetzte und von einigen Autoren bis heute benutzt wird, um gegen Religionen aller Art zu kämpfen – gegen andere Religionen. Darwin also ein Evangelist? Manchmal sieht es wirklich so aus, als sei dieser Mann für seine Verehrer nicht allein einer der bedeutendsten Wissenschaftler aller Zeiten gewesen, sondern selbst ein Religionsstifter, und Illig kann deshalb über seinen „nach 1859 wuchernden Prophetenbart“ spotten. Für diesen Autor war er mitnichten „das gütige Schöpferdouble mit Rauschebart“, sondern ein keinesfalls genialer Wissenschaftler, der seine – unberechtigten – Prioritätsansprüche mit nicht immer ganz sauberen Mitteln durchsetzte. Darwin, so resümiert er in der Mitte des Buches, „wollte nichts von anderen gelernt haben, […], sondern er wollte alles selbst entdeckt haben!“ Eben das wird in diesem Buch bestritten.
Um zu zeigen, wie groß oder gering der Anteil Darwins an der Evolutionstheorie tatsächlich war und wie er sich seines ihm überlegenen Konkurrenten Wallace entledigte, lässt Illig zunächst die Schriften von Darwins Vorgängern Revue passieren, zu denen auch sein Großvater Erasmus (1731-1802) zählt. Dazu kommen noch heute bekannte Namen wie Etienne Geoffroy Saint-Hilaire (1772-1844) und Jean-Baptist de Lamarck (1744-1829). Bis heute gilt „Lamarckismus“ als eine ganz verkehrte Theorie, die von Darwin ein für alle Mal überwunden wurde, und es ist Illig ein besonderes Vergnügen, Darwin selbst zahlreiche Lamarckismen nachzuweisen. In seinen Büchern findet er immer wieder eine „unverhüllte Teleologie“ (130), also die Vorstellung einer zielgerichteten Entwicklung – aber wer hätte das Ziel festgeschrieben? Eigentlich kannte und akzeptierte Darwin doch allein den Zufall?
Zusätzlich gibt es in seinen Büchern jede Menge Stellen, in denen der große Darwin der Vorstellung anhängt, erworbene Eigenschaften ließen sich vererben. Besonders dafür ist Lamarck bekannt, und im Schulunterricht begegnet die Jugend seiner Giraffe, deren Hals in der fehlerhaften Darstellung des Franzosen nur deshalb so übermäßig lang werden konnte, weil sie sich nach den Blättern in den Wipfeln streckte. Dieses Tier kommt bei Darwin nicht vor, aber doch sonst so allerlei, das ganz und gar nicht schulmäßig ist und keinesfalls in das Weltbild eines Studienrates für Biologie hineinpasst. „Lamarckismus“, kann Illig deshalb über Darwin schreiben (und er belegt diese anstößige Behauptung mit verschiedenen Zitaten), ist „fester Bestandteil seines Theoriegebäudes.“
So denkwürdig Darwins Verhältnis zu Lamarck auch gewesen sein mag: Besonders wichtig und trotzdem den meisten bis heute unbekannt ist Alfred Russel Wallace (1823-1913), der Darwin mit seiner Konzeption vorausging. Dieser bedeutende Mann steht im Zentrum des Buches, denn ihm versucht Illig Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und spricht sogar von der „Wallace-Darwin-Theorie“ – das ist ein Ausdruck, den die zahllosen Bewunderer Darwins kaum akzeptieren werden. Der Untertitel des Buches („Plagiat“) bezieht sich vor allem auf Darwins Verhalten gegenüber Wallace.
Erst vor einigen Jahren veröffentlichte der amerikanische Erfolgsautor Tom Wolfe („Fegefeuer der Eitelkeiten“) ein Buch, in dem er den schäbigen Umgang Darwins mit dem unbekannten, auf dem malaiischen Archipel Pflanzen und Tiere sammelnden Wissenschaftler darstellt. Wallace war gutgläubig genug, seinen eigenen, Darwins Konzept überlegenen Entwurf aus seinem Dschungel nach England an Darwin zu schicken. Die Lektüre war ein Schock für Darwin, der doch selbst die Theorie der Evolution formulieren wollte, mit der er in die Geschichte einzugehen gedachte. Um sich selbst eine Priorität zu sichern, auf die er niemals hätte Anspruch erheben dürfen, hielt er möglichst bald einen Vortrag vor fachkundigem Publikum – das war nicht schlechter als eine Publikation – und haute in allerkürzester Zeit das Gründungsdokument des Darwinismus heraus, „The Origin of Species“ (1959). Ihm kam es darauf an, dass allein er, nicht aber der Mann auf der fernen Vulkaninsel in das Pantheon einging. Und das hat dann ja auch geklappt.
Das Buch von Tom Wolfe ist sehr gut lesbar – sehr schmissig geschrieben und entsprechend unterhaltsam, aber wer sich ernsthaft mit der Thematik beschäftigen will, sollte ganz unbedingt zu dem Buch von Illig greifen. Denn Wolfe ist doch ein wenig oberflächlich, wogegen im Buch Illigs die Schriften Darwins wie auch die Vorgänge vor der Veröffentlichung seines epochalen Hauptwerks mit größtmöglicher Genauigkeit dargestellt und untersucht werden. Dank seiner akkuraten Auseinandersetzung mit den Werken von Darwins Vorgängern kann der Verfasser die Schwierigkeiten bei der Formulierung der Theorie plausibel machen; und weil er auf eine Vielzahl von Quellen zurückgeht, gelingt es ihm, unseren Blick auf Ungereimtheiten und Widersprüche in Darwins Darstellung der Ereignisse zu lenken.
Illigs Urteil über Darwin fällt schroff aus: er findet, dass Darwin „ein schlussendlich überforderter Wissenschaftler“ gewesen ist und erkennt in „The Origin of Species“ (also in einem der angeblich bedeutendsten wissenschaftlichen Werke aller Zeiten) „so eklatante Schwächen, dass es weder belastbare Ergebnisse verbürgt noch als Vorbild dienen kann“. Er nennt Darwins Darlegungen eine „Pseudo-Argumentation“ und kreidet ihm an, „dass er möglichst schwammige, von ihm nicht sauber definierte Bezeichnungen wählte“. Auch mokiert er sich über die erstaunliche Vielzahl der Gesetze und Prinzipien, von denen Darwin oft eher beiläufig spricht, ohne sie wirklich zu formulieren oder gar zu begründen. Warum tut er das? Laut Illig spricht Darwin deshalb so häufig von Prinzipien und Gesetzen, weil er nicht den Gedanken erträgt, das Universum könne vom Zufall regiert werden. Es seien bloße Worthülsen, so Illig.
In einem abschließenden Kapitel behandelt der Autor die Frage, ob auch Darwin ein Sozialdarwinist gewesen sei. Von vielen prominenten Anhängern Darwins wird diese Frage verneint, aber Illig widerspricht – mit zahlreichen Belegen kann er zeigen, dass Darwin „ein emotionsloses, auf Fitness, nicht auf Emotionalität gerichtetes Handeln“ vertritt, weil er „so das Erbgut bewahren“ möchte. Für einen Züchter von Rindern oder Tauben ist das normal, für Moralphilosophen aber eher anstößig. Das Merkwürdige an alldem ist, dass der an zahllosen Krankheiten leidende Darwin selbst das Produkt einer generationenlangen Inzucht gewesen ist, was ihn aber nicht davon abhalten konnte, seine Kusine zu heiraten – mit sehr unerfreulichen gesundheitlichen Folgen für die zahlreichen Kinder.
Das Buch über „Darwins dunkle Seite“ ist nicht deshalb so gut, weil es am Denkmal des Menschen Darwin rüttelt. Das ist nur ein Nebeneffekt. Nicht der Mensch Charles Darwin sollte uns wichtig sein, sondern seine unkritische Verehrung durch die Wissenschaftsgemeinde. Es ist nicht gut, selbst bedeutende Wissenschaftler in der Weise zu verehren, wie es seit Jahrzehnten mit Darwin geschieht, der als Revolutionär und Solitär dargestellt wird, als hätte er nicht an das Werk zahlreicher Vorgänger anknüpfen können, die zu nennen er dann lieber vermied.
Vor allem ist das Buch so anregend, weil es den Lesern mit den vielen ungelösten Problemen der Naturgeschichte vertraut macht. Viel weniger Probleme sind gelöst – gar endgültig gelöst –, als es uns fanatische Darwinisten vom Schlage eines Richard Dawkins weismachen wollen. Wo liegt der Unterschied zwischen Art und Varietät? Wie konnte es überhaupt zu neuen Arten kommen? War es fruchtbar oder vielleicht ein Fehler, das Konzept der künstlichen Zuchtwahl (also der Züchtung durch einen Züchter) auf die Natur und damit auf die natürliche Zuchtwahl zu übertragen?
Heribert Illig: Darwins dunkle Seite. Person, Primat, Plagiat.
Mantis Verlag 2022
224 Seiten
ISBN: 978-3928852586
Tom Wolfe: Das Königreich der Sprache.
Aus dem Englischen von Yvonne Badal.
Blessing 2017
224 Seiten
ISBN: 978-3896675880
Abbildungsnachweis:
Alfred Russel Wallace, um 1880. Maull & Fox photographers, London. Bibliothèque nationale de France
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