Virginia Woolfs Roman „Mrs. Dalloway“ ist in seiner formalen Kühnheit und erzählerischen Brillanz ein Meisterwerk und ein Meilenstein der literarischen Moderne.
Nun liegt der Roman im Manesse Verlag in einer aktuellen Neuübersetzung von Melanie Walz vor. Ein wiederzuentdeckendes brillant geschriebenes Buch im handlichen Format, dessen Cover wunderschön gestaltet ist.
Ein Juwel unter den Klassikern, bestens geeignet zur Mitnahme in kleinen Damenhandtaschen für die Lektüre unterwegs. Wobei das Buch auch von Männern gelesen werden sollte. So könnte man erfolgreich einem bedauerlichen Ergebnis diverser Studien entgegenwirken, in denen festgestellt wurde, Männer vermeiden Bücher weiblicher Autorinnen.
Traurig, aber wahr: Das Gesamtergebnis vieler solcher Studien beweist, 80 Prozent der Männer lesen vor allem Literatur, die vom gleichen Geschlecht verfasst wurde. Bei Frauen ist das Verhältnis mit etwa 50:50 ausgeglichen. Das soll und muss nicht so sein. Um diesem Ungleichgewicht entgegenzuwirken, bat der britische „Guardian“ vor wenigen Monaten männliche Autoren, lesenswerte Bücher von Schriftstellerinnen zu empfehlen. Der am 12. August 2022 durch eine Messerattacke in New York London schwer verletzte Salman Rushdie empfahl damals den Lesern und Leserinnen des Guardian Virginia Woolfs “Mrs. Dalloway”: „Ich habe es dieses Jahr noch einmal gelesen und es bleibt erstaunlich: erstens auf der Ebene des Satzes, weil ihre Sätze sehr schön sind; und zweitens wegen Woolfs Fähigkeit, tief in das Innenleben und die Gedanken ihrer Figuren einzudringen. Warum sollten Männer es lesen? Weil auch wir ein Innenleben haben.“ Gründe genug also, dieses Buch wieder oder auch erstmals zu lesen – ob Mann oder Frau.
Es ist wahrlich ein besonderes Buch, dessen Ausgangspunkt ein besonderer Tag im Leben der zweiundfünfzigjährigen Clarissa Dalloway ist: Die Gattin eines Parlamentsabgeordneten will an diesem Mittwochabend eine ihrer berühmten Upper-class-Partys geben. Zunächst kauft sie am Morgen Blumen in der Bond Street. Dann schlendert sie durch den Regent’s Park nach Hause. Dort trifft sie ihre Vorbereitungen für die abendliche Party und erhält überraschend Besuch vom gerade aus Indien angekommenen Jugendfreund Peter Walsh. Clarissa unterhält sich mit Ehemann Richard, sie verabschiedet Tochter Elizabeth zu einem Spaziergang mit deren Erzieherin. So nimmt der Tag seinen Verlauf. Am Abend wird Clarissa ihre Pflichten als Gastgeberin wie immer perfekt erfüllen und dabei auch auf ihre Jugendfreundin Sally Seaton treffen, die jetzt eine Lady Rossiter ist. „Das Sonderbare war im Rückblick die Lauterkeit, die Lauterkeit ihrer Gefühle für Sally. Es war anders als das, was man für einen Mann fühlte.“ Nähe – auch als erotische Anziehungskraft zwischen Frauen – und die Einsamkeit des Menschen gehen in diesem Jahrhundertwerk Hand in Hand.
Parallel zu diesem besonderen Tag im Leben der Mrs. Dalloway, der strukturiert und rhythmisiert wird von den regelmäßigen Glockenschlägen des Big Ben, erleben wir Leser*innen einen zweiten nicht alltäglichen Handlungsstrang. Hier steht der traumatisierte Kriegsveteran Septimus Warren-Smith im Mittelpunkt. Am Ende des Romans, am Ende des Tages berühren sich ihre beiden Schicksale. Mrs. Dalloway erfährt während ihrer Party vom Selbstmord des jungen, im Krieg nervenkrank gewordenen Septimus Smith: Sie selbst war davongekommen. Aber dieser junge Mann hatte sich umgebracht. Sowohl Mrs. Dalloway als auch Septimus Smith sind Gefangene zwischen Realität und Traumwelt bei ihrer Suche nach Identität. Wir erleben mit diesem und durch diesen Roman neben philosophischen Ansätzen durchaus auch Beispiele damals üblicher Konversation sowie nostalgische Betrachtungen und Sinneseindrücke von Mrs. Dalloway. Wir erleben beispielsweise lesend, wer der erste Mensch ist, an den sie an diesem Morgen denkt. Es ist ihr liebster Freund aus der Kindheit: Peter Walsh, der an einem dieser Tage zurückkommen würde, sie hatte vergessen, wann, denn seine Briefe waren schrecklich langweilig […] an seine Aussprüche erinnerte man sich; an seine Augen, sein Taschenmesser, sein Lächeln, seine Verdrießlichkeit […].
Sie begegnet einem weiteren Jugendfreund, Hugh Whitbread, der kein übler Zeitgenosse war und von dem sie wusste, dieser hatte ihr bis zum heutigen Tag nicht verziehen, dass sie ihn (Anm.: Peter Walsh) gut leiden konnte. Clarissa selbst bestätigt sich immer wieder, sie habe recht daran getan, Peter nicht zu heiraten. Vor allem, weil Peter sich vor allem für das Weltgeschehen interessiert und nicht wie sie für den Charakter anderer Leute und die Unzulänglichkeiten ihrer eigenen Seele. Clarissa hingegen sieht ihre einzige Gabe darin, Leute gleichsam instinktiv zu erfassen […]. An anderer Stelle im Roman empfindet sie eine herrliche Leichtigkeit und Unangestrengtheit in Peters Gegenwart und ihr kommt unversehens der Gedanke: „Wenn ich ihn geheiratet hätte, wäre mir diese Fröhlichkeit jeden Tag zuteil geworden!“ Es ist diese Ambivalenz, die immer wieder auftaucht, es sind die Zweifel an der richtigen Entscheidung, an der eigenen Einstellung, am Leben an sich, an der Liebe im Allgemeinen, an den Mitmenschen im Besonderen. Es ist die Vergänglichkeit des Lebens, das Verrinnen der Zeit, es ist die Gegenwart, die Vergangenheit – all dem gehen wir gerne gemeinsam mit der Autorin nachdenklich nach.
Auch für Septimus Smith wird dieser für Clarissa Dalloway so außergewönliche Tag ein ganz besonderer Tag werden – allerdings aus ganz anderen Gründen. Septimus Smith, der mit seiner Frau Rezia – ein kleines Geschöpf mit großen Augen in einem spitzen blässlichen Gesicht; ein italienisches Mädchen […] zu Fuß in London unterwegs ist. Septimus Warren Smith, um die dreißig, blassgesichtig, hakennasig, mit braunen Schuhen und einem abgetragenen Mantel und mit dunkelbraunen Augen, deren empfindsamer Ausdruck auch völlig Fremde empfindsam macht. Auch ihn, den Kriegsheimkehrer, beschäftigt die Gegenwärtigkeit des Vergangenen in jedem einzelnen Augenblick. Die Welt hat die Peitsche erhoben; wo wird sie heruntersausen? denkt er aufgrund eines Knalls, verursacht durch ein Automobil. Die Welt bebte und schwankte und drohte sich zu entzünden. Hier werden wir Leser*innen plötzlich unsanft aus der Vergangenheit, aus der Lektüre gerissen und sind mit unseren Gedanken für kurze Zeit ungewollt und unversehens wieder im Hier und Jetzt.
Im Roman hatte der Knall auch andere aufgeschreckt, lesen wir weiter: in allen Hutläden und Bekleidungsläden sahen Fremde einander an und gedachten der Toten; der Flagge; des Empires. Beschimpfungen, zerbrochene Gläser führen zu größerem Krawall, der ein merkwürdiges Echo in den Ohren junger Mädchen fand, die weiße Unterwäsche mit reinweißen Bändern für ihre Hochzeit kauften. Durch derartige sich wandelnde Empfindungen, durch wechselnde Visionen und Assoziationen der Figuren entsteht – dargestellt anhand von rund 20 Personen und deren Begegnungen an einem einzigen Tag - ein Zeit- und Gesellschaftsbild Englands, das der Autorin bestens bekannt war. Hier wurde sie 1882 geboren: im Stadtteil Kensington lag der Familienwohnsitz der Eltern. In Bloomsbury, nordwestlich gelegener Londoner Stadtteil, nahm Virginia ihre Entwicklung als Literatin. Dort wohnte Virginia seit 1905 mit ihren Geschwistern nach dem Tod der Eltern. Und ganz in der Nähe Londons, im kleinen Ort Richmond im Südwesten der Stadt, verlebte sie die ersten Ehejahre mit dem Schriftsteller und Journalisten Leonard W. Woolf. 1915, nur wenige Jahre nach der Hochzeit 1912, waren die beiden dorthin gezogen. Zehn Jahre nach der Hochzeit hatte Virginia Woolf hier mit der Arbeit an „Mrs. Dalloway“ begonnen. Doch so recht kam sie in der ländlichen Umgebung mit dem Roman nicht voran. Erst als sie zwei Jahre später wieder zurückkehrte nach London Bloomsbury, dem damaligen Zentrum der Londoner Bohème, konnte sie den Roman vollenden. Er erschien im Mai 1925 in England und USA und wurde rasch zum Publikumserfolg.
Auch wir heutigen Leser*innen flanieren gerne mit den Protagonist*innen an den damaligen Londoner Geschäften vorüber, wandern mit ihnen durch Parks, vernehmen die Geräusche und Gerüche der Großstadt London, erleben die Bewegung der Menschen, der Stadt beinahe hautnah. „Die Profile der Bewegungen erstellte Woolf minutiös“, lesen wir im Nachwort von Vea Kaiser, es sei das einzige Mal gewesen, dass Virginia Woolf beim Schreiben so verfuhr. Was dieses Buch so besonders macht, ist auch der zärtliche, zugewandte, den Figuren Verständnis entgegenbringende, mitunter auch heitere, immer aber schonungslose Blick der Schriftstellerin. Melancholie und Contenance, tiefgründiger Witz und leise Wehmut durchziehen dieses Meisterwerk moderner Erzählkunst.
Im Dezember 1924 notierte Virginia Woolfs in ihr Tagebuch: „Ich glaube ganz ehrlich, dass dies der gelungenste meiner Romane ist.“ 1882 geboren, nahm sich Virginia Woolf 1941 das Leben. Sie ertränkt sich im Fluss Ouse, die Manteltaschen mit Steinen beschwert. Eines der Bücher, die sie uns hinterlassen hat, ist „Mrs. Dalloway“. Ein kostbares Buch, in dem so viele wunderbare Sätze zu lesen sind, so viele intensive Empfindungen nachzuvollziehen sind, so viele unterschiedliche Wahrnehmungen uns treffen, die uns betreffen. Ein Buch, in dem selbst ein so nüchterner, zur Gedankenlosigkeit neigender Mensch wie Peter Walsh es zu Gedanken bringt wie diesen: Außerhalb von uns existiert nichts bis auf eine seelische Empfindung […], eine Sehnsucht nach Trost, nach Erleichterung… Geben wir dieser Sehnsucht nach Trost nach, lesen wir diesen Roman als sei er von heute.
Virginia Woolf: Mrs Dalloway
Aus dem Englischen von Melanie Walz
Mit Nachwort von Vea Kaiser
400 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, 9,0 x 15,0 cm
ISBN: 978-3-7175-2556-1
Weitere Informationen (Homepage Verlag)
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